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Sonntag, 30. Oktober 2016

Der Fluch der Monarchie

Als vor einigen Wochen – um genau zu sein, am 9. Oktober – der famose Brian Blessed seinen achtzigsten Geburtstag feiern konnte, fühlte ich mich auf einmal dazu animiert, mir einmal die Mitte der 70er Jahre von der BBC produzierte TV-Adaption von Robert Graves' I, Claudius anzuschauen, in der der gute Mann in die Rolle des ersten römischen Imperators Octavianus Augustus geschlüpft war.
Eine impulsive Entscheidung, die ich nicht bereut habe. Die zwölfteilige Miniserie ist ein alles in allem ziemlich faszinierendes Stück televisionären Schaffens, gesegnet mit einem ausgesprochen beeindruckenden Ensemble, zu dem neben Brian Blessed u.a. Derek Jacobi als Claudius, John Hurt als Caligula, Siân Phillips als Livia und Patrick Stewart als Sejanus gehören.



Ich sollte vielleicht vorausschicken, dass ich Robert Graves' historische Romane I, Claudius und Claudius the God nicht gelesen habe, und meine Kenntnisse über die frühe römische Kaiserzeit, die Ära der Julisch-Claudischen Dynastie, eher bescheiden sind. Ich kann deshalb weder beurteilen, wie getreu die von Drehbuchautor Jack Pulman und Regisseur Herbert Wise kreierte Serie ihrem literarischen Vorbild folgt, noch bin ich wirklich in der Lage, zu bestimmen, wie weit das Dargestellte von der historischen Realität abweicht. Robert Graves scheint eine ziemlich interessante Persönlichkeit gewesen zu sein. So gehörte er z.B. zur Gruppe der sog. "War Poets" und war ein enger Freund von Siegfried Sassoon, aber auch von T.E. Lawrence ("Lawrence of Arabia"). Seine historischen und literaturhistorischen Theorien, die er in Büchern wie King Jesus, The White Goddess und The Greek Myths entwickelte, sollen jedoch etwas exzentrisch sein. Inwieweit das auch auf seine fiktive Autobiographie des vierten römischen Kaisers zutrifft, von der Graves später behauptet haben soll, er habe sie ausschließlich aus finanziellen Beweggründen geschrieben, weiß ich zwar nicht, doch habe ich mir I, Claudius ohnehin nicht mit der Prämisse angeschaut, dabei eine Lektion in römischer Geschichte zu bekommen. Mich interessierte das Drama, und auch wenn der Umstand, das selbiges auf historischen Ereignissen fußt, natürlich nicht ohne Bedeutung ist, spielte er für mich doch nur eine untergeordnete Rolle. {Dass die Serie all die von antiken Historikern überlieferten Skandalgeschichten, von denen manche wohl nichts anderes als aus propagandistischen Gründen aufgeblähte Gerüchte oder simple Lügen waren, für bare Münze nimmt, versteht sich beinah von selbst. Aber mal ehrlich – wer wollte z.B. einen Caligula auf Leinwand oder Fernsehschirm sehen, der kein größenwahnsinniger Psychopath wäre?}

Wie dem auch sei, kommen wir nun zu I, Claudius selbst.

Der erste Gedanke, der mir während der anderthalbstündigen Pilotfolge A Touch of Murder kam, war, dass es heutzutage völlig unmöglich wäre, eine TV-Serie wie diese zu produzieren – ausschließlich im Studio gedreht; ohne irgendwelche gewaltigen Massenszenen oder ausufernden Actionsequenzen; ganz konzentriert auf den Dialog und die Interaktion zwischen einer Handvoll von Charakteren. Das krasse Gegenteil sowohl von Hollywoods pompösen Antikeschinken der 50er/60er Jahre, als auch von den "grim & gritty" - Antikeshows unserer Tage wie Rome oder Spartacus. Und interessanterweise war die Entscheidung der Macher, sich beim Filmen der Geschichte völlig auf Studiosets zu beschränken, offenbar in erster Linie künstlerisch und nicht monetär motiviert gewesen {wie ich spontan angenommen hatte}. Ich fürchte, so etwas wäre heute schlicht undenkbar. Und das aus durchaus nahvollziehbaren Gründen, fände sich vermutlich doch kaum ein ausreichend großes Publikum für eine so bewusst zurückhaltend inszenierte Serie. Jedenfalls nicht in diesem Genre. Was ich sehr schade finde.
Mein zweiter Gedanke war, dass man I, Claudius in gewisser Hinsicht als das Game of Thrones einer vergangenen Ära bezeichnen könnte. Selbstverständlich nicht was den Stil betrifft, aber wenn man gewillt ist, dem HBO-Dauerbrenner einen ernstzunehmenden thematischen Kern zuzugestehen, so handelt es sich bei diesem doch wohl um den Kampf um die Macht und seine monströsen Folgen. Und ganz dasselbe gilt auch für I, Claudius. Und auch wenn die Serie – trotz einiger durchaus verstörender Szenen – in der Darstellung von Gewalt und Sex natürlich meilenweit entfernt ist von dem, was wir bei Game of Thrones zu sehen bekommen, ist sie letztenendes ähnlich düster, illusionslos und pessimistisch. {Immer vorausgesetzt, man ignoriert die leider etwas versöhnlerische Schlussszene, doch dazu später mehr.}

Ich beabsichtige nicht, die ausufernde Handlung von I, Claudius hier im Detail nachzuzeichnen oder jede ihrer zahlreichen Wendungen eingehender zu besprechen. Schließlich umspannt die Serie einen Zeitraum von beinah acht Jahrzehnten, vom Jahr 24 v.u.Z. bis zum Tod des Protagonisten und Erzählers im Jahr 54.
Dass eine ganze Reihe der Charaktere, die im Verlauf dessen eingeführt werden, nur einige wenige Auftritte haben und entsprechend unterentwickelt bleiben, mag man bedauern {ich z.B. hätte sehr gerne mehr von Caligulas Gemahlin Caesonia gesehen}, doch angesichts der Menge an Stoff, die in ca. 6½ Stunden bewältigt werden muss, war das wohl unvermeidlich.

Das zentrale Thema von I, Claudius, wie es sich für mich im Verlaufe der Serie herauskristallisiert hat, ist die monarchische Herrschaft und ihre verheerenden Folgen. Der Sturz der Republik und die Errichtung des Prinzipats beendet zwar den Bürgerkrieg, entfacht jedoch zugleich einen endlosen Machtkampf innerhalb der nunmehr herrschenden Julisch-Claudischen Familie, dem nach und nach beinah alle ihrer Mitglieder zum Opfer fallen. Dabei wird das dynastische Prinzip, das beinah unauflöslich mit der Monarchie als Herrschaftsform verbunden ist, zur zentralen Achse für all die Intrigen und mörderischen Machenschaften. 
Die ersten fünf Episoden drehen sich hauptsächlich darum, wie Livia – die Ehefrau von Augustus – all jene aus dem Weg räumt, die der künftigen Thronbesteigung durch ihren Sohn aus erster Ehe – Tiberius – im Weg stehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob ihre Opfer überhaupt Ambitionen auf die Krone haben oder nicht. Und das kann es auch nicht, denn innerhalb einer Erbmonarchie ist der Grad der Verwandtschaft zum Herrscher Grund genug, um jemanden zu einem Rivalen zu machen, der beseitigt werden muss.
Wenn Augustus im Vergleich zu seiner skrupellosen Gattin relativ gutmütig und sympathisch erscheint, darf man nicht vergessen, dass die Handlung {anders als im Roman} Jahre nach seiner Machtergreifung und der Konsolidierung seiner Herrschaft einsetzt. Die Methoden, derer er sich bedient hat, um dorthin zu gelangen, wo er am Anfang der Serie steht, bekommen wir nicht zu sehen. Aber wir können davon ausgehen, dass sie nicht weniger rücksichtslos waren als die Livias. Einen kleinen Einblick davon erhalten wir, wenn er in A Touch of Murder im Interesse seines Schwiegersohns Marcellus seinen alten Freund Agrippa ohne zu zögern ins Quasi-Exil schickt, nur um ihn nach dem vorzeitigen Tod des Favoriten rasch nach Rom zurückzuholen, damit er denn rebellisch gewordenen "Pöbel" beruhigt. Und um dies zu erreichen, ist er bereit, seine eigene Tochter Julia an den alten General zu verschachern. Nein, auch der Augustus von I, Claudius ist nicht der nette Onkel, den manche in ihm sehen wollen. Er wird uns mehr als Mensch, denn als Imperator gezeigt, und das macht es leichter, mit ihm zu sympathisieren. Zu einer moralisch unbefleckten Person macht es ihn deshalb noch lange nicht.  Wenn er weniger blutrünstig einherkommt als seine Gemahlin, so weil er sich bereits im Besitz der Macht befindet. Auf welche Weise er sie ursprünglich gewonnen hat, ist hingegegen eine ganz andere Frage.
Anhand von Julia (Frances White) und Tiberius (George Baker) führen uns die ersten Episoden außerdem vor Augen, welch verheerende Auswirkungen diese aristokratischen Machtspiele auch auf jene Menschen haben können, die nicht auf einer "Killing List" landen, aufgrund ihrer Verwandtschaftsbeziehungen aber dennoch in den Mahlstrom der Intrigen hineingezogen werden. Julia hegt keinerlei politische Ambitionen, doch als Tochter des Imperators wird sie automatisch zu einer Schachfigur im großen Spiel um die Macht. Ihre drei Ehen {mit Marcellus, Agrippa und Tiberius} werden von anderen aus politischen Gründen arrangiert. Und als es ihr endlich vergönnt ist, ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu genießen, was sie dazu nutzt, sich den bescheidenen Freuden von gutem Essen und gutem Sex hinzugeben, wird genau dies von Livia dazu ausgenutzt, sie zu diskreditieren und für ihre äußerst grausame Verbannung zu sorgen stellt sie doch eine potentielle Bedrohung für ihren Sohn dar. Tiberius selbst wiederum will zu Beginn eigentlich überhaupt nicht Imperator werden, doch seine ehrgeizige Mutter zwingt ihn dazu, seine glückliche Ehe mit Vipsania aufzulösen, damit er Julia ehelichen kann, da ihn das in der Erbfolge aufrücken lässt. Als dann auch noch sein geliebter Bruder Drusus, der republikanische Überzeugungen hegt, einen verdächtig frühen Tod findet, versinkt er endgültig in Bitterkeit und Depression, was ihn später zu einem besonders unmenschlichen Despoten machen wird.
Ohne Frage erscheint Livia bei all dem in einem besonders ungünstigen Licht. Doch in einer Art "Beichte" gegen Ende ihres Lebens erklärt sie, es sei ihr vor allem darum gegangen, die Stabilität des Imperiums sicherzustellen und einem Rückfall in das Chaos des Bürgerkriegs vorzubeugen. Wir als Zuschauer werden diese Einschätzung kaum teilen können, doch die Umstände  der "Beichte" legen nahe, dass Livia selbst dies wohl wirklich glaubt oder sich zumindest einzureden versucht. In gewisser Weise erscheint darum selbst sie als eine Art Opfer des monarchischen Prinzips, ist sie sich des unverzeihlichen Charakters ihrer Handlungen doch vollauf bewusst und lebt in der ständigen Furcht vor einer höllischen Bestrafung im Jenseits.

Claudius, dem gegenüber Livia diese "Beichte" ablegt, gelingt es nur deshalb all das Morden unbeschadet zu überstehen, weil er konseuquent dem Rat seines Jugendfreunds Herodes Agrippa (James Faulkner) folgt und den Trottel spielt. Aufgrund seines Klumpfußes, seines Stotterns und seines erst im Alter nachlassenden zwanghaften Zuckens des Kopfes halten ihn die meisten ohnehin für einen Idioten und darum für keinen ernstzunehmenden Konkurrenten im nie endenden Kampf um die Macht. Nur die wirklich intelligenten Vertreter der herrschenden Clique wie Augustus oder Livia realisieren zumindest am Ende, dass sie es bei ihm mit einem klugen und zugleich erstaunlich integren Menschen zu tun haben. Nicht so der Rest der adeligen Baggage. Er selbst hegt keinerlei politische Ambitionen, auch wenn er im Herzen ein Republikaner ist, sondern sieht sich ganz in der Rolle des Beobachters und einzig der Wahrheit verpflichteten Chronisten. Auf diese Weise schafft er es, selbst die Terrorherrschaft von Tiberius und des machthungrigen Gardepräfekten Sejanus sowie die irre Despotie Caligulas zumindets physisch unbeschadet zu überstehen.

Der von John Hurt brillant gespielte Caligula ist – wie nicht anders zu erwarten – die extremste Verkörperung des Cäsarenwahns. Schon als kleines Kind von beunruhigender Grausamkeit, erlaubt es ihm das monarchische Herrschaftssystem nach seiner Thronbesteigung endgültig alle Hemmungen abzulegen und sich ganz seinem Größenwahn und seinen sadistischen Neigungen hinzugeben. Wie absurd seine Proklamation, ein fleischgewordener Gott zu sein, auch auf alle Mitglieder der herrschenden Clique wirken mag, es finden sich mehr als genüg rückgratlose Höflinge, die willens sind, ihm als irdischer Inkarnation des Zeus zu huldigen. Um genau zu sein, es gibt niemandem, der dieser abstrusen Scharade öffentlich zu widersprechen wagt. Zugleich jedoch – und hier zeigt sich wieder einmal die besondere Stärke von I, Claudius {und die von John Hurt} – wirkt Caligula in gewisser Hinsicht bemitleidenswert. Offensichtlich geisteskrank, gequält von paranoiden Wahnvorstellungen und umgeben von feigen Speichelleckern, vermittelt er bei aller Widerlichkeit doch ein tragisches Gefühl absoluter Einsamkeit. 
Sein Größenwahn treibt ihn u.a. dazu, den Menschen zu töten, für den er vermutlich am meisten empfindet. Als seine Schwester Drusilla, mit der er eine sexuelle Beziehung unterhält, schwanger wird, fühlt er sich durch das ungeborene Kind bedroht und folgt dem mythischen Vorbild des Zeus. Den Entscheidungsträgern bei der BBC war die Szene wohl etwas zu extrem, so dass sie uns nur in gekürzter Fassung erhalten geblieben ist. Was sie jedoch vielleicht nur noch verstörender macht. Wenn Caligula mit blutverschmiertem Mund aus seinem Schlafgemach getaumelt kommt, wissen wir, dass er nicht nur den Embryo aus dem Leib der Mutter geschnitten, sondern diesen auch aufzufressen versucht hat ganz wie Zeus die ungeborene Pallas Athene. Brauchen wir die Folgen dessen wirklich zu sehen? Ich denke nicht. Das Bild in unserem Kopf wird allemal gruseliger sein als alles, was uns die Macher der Serie hätten präsentieren können.

Als Caligula ermordet wird, findet sich Claudius urplötzlich in einer Position wieder, in der er weitreichende politische Entscheidungen fällen muss. Die Verschwörer streben eine Wiedererrichtung der Republik an, was seinen eigenen Idealen entspricht. Doch um jeder Möglichkeit einer "Konterrevolution" den Riegel vorzuschieben, beabsichtigen sie, sämtliche Mitglieder der herrschenden Dynastie zu töten. Zugleich sieht sich Claudius mit einer drohenden Revolte der Prätorianergarde konfrontiert, für die in einer republikanischen Ordnung kein Platz mehr wäre und die deshalb nicht bereit ist, den Sturz der Monarchie einfach hinzunehmen. Um sein eigenes Leben und das der ihm Nahestehenden zu retten sowie einen Bürgerkrieg zwischen Senat und Garde zu verhindern, ist Claudius deshalb bereit, sich von den Soldaten zum Kaiser ausrufen und das Haupt der Verschwörung hinrichten zu lassen. Damit verrät er im Grunde seine tiefsten Überzeugungen und zeigt sich als Gefangener einer politischen Dynamik, die er nicht kontrollieren kann.

Den Großteil der letzten Episoden nimmt die Geschichte von Messalina (Sheila White) ein  wie wohl nicht anders zu erwarten, einer der problematischsten Teile der Serie. Claudius' berüchtigte dritte Gemahlin wird als eine intelligente, willensstarke und äußerst ehrgeizige Frau eingeführt, die nicht willens ist, sich mit der Rolle von Eheweib & Mutter zu bescheiden, sondern aktiv an der Gestaltung des Imperiums mitzuwirken wünscht. Dabei erscheint sie zwar als ziemlich skrupellos, zugleich aber auch als durchaus kompetent. Ein interessanter und nicht unbedingt unsympathischer Charakter. Leider verpufft das in dieser Figurenzeichnung angelegte Potential ungenutzt, wenn die Serie in der vorletzten Episode A God in Colchester dann doch auf die von antiken Historikern geschaffene Karrikatur der sexuell unersättlichen "kaiserlichen Hure" zurückfällt. Ob man diese Darstellung als misogyn einzuschätzen hat, muss jeder selbst entscheiden, auf jedenfall ist sie weit weniger interessant. Auch in anderer Hinsicht passt der Eindruck, den Messalina in A God in Colchester hinterlässt, nicht zu dem zuvor von ihr gezeichneten Bild. Wenn sie ihren Liebhaber Gaius Silius heiratet, bedeutet dies zugleich den Auftakt zu einem Coup d'etat. Die clevere Messalina aus Fool's Luck wäre sich bewusst gewesen, dass es sich dabei um ein Spiel auf Leben und Tod handelt. Die Messalina aus A God in Colchester hingegen wirkt ungläubig und geschockt, als nach der raschen Niederschlagung des Aufstandsversuchs ihre Hinrichtung befohlen wird und die Prätorianer mit gezückten Schwertern in ihrem Gemach auftauchen.
Alles in allem, eine vertane Chance. Nun denn, dafür erreicht die Serie in der allerletzten Episode Old King Log noch einmal einen ihrer Höhepunkte. 

Nicht nur von seiner Frau, sondern auch von seinem besten Freund Herodes Agrippa hintergangen und verraten, ist der alte Claudius vereinsamt und endgültig desillusioniert. Als er seine intrigante Nichte Agripinilla ehelicht, macht er ihr von vornherein klar, dass er sie weder sexuell begehrt noch als Mensch schätzt. Welches Ziel er mit dieser eigenartigen Verbindung verfolgt, bleibt vorerst unklar. Noch seltsamer muss es erscheinen, dass er sich ohne zu zögern bereit erklärt, ihren Sohn Nero zu adoptieren, mit seiner eigenen Tochter zu vermählen und zum gleichberechtigten Erben neben seinem eigenen Sprössling Britannicus einzusetzen. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass er weiß, dass Agripinilla plant, Nero den Thron zu sichern. Im Grunde scheint er mit diesen exzentrisch anmutenden Entscheidungen, offenen Auges sein eigenes Todesurteil zu unterzeichnen.
Schließlich enthüllt Claudius seinem freigelassenen griechischen Berater seinen Plan: Er habe versucht, ein guter Imperator zu sein. Dies sei ein Fehler gewesen. Die Monarchie könne nicht reformiert, sie müsse für immer zerstört werden. Deshalb habe er alles getan, um einer Thronbesteigung Neros den Weg zu ebnen. Dessen Herrschaft werde die Monarchie in den Augen des römischen Volkes endgültig diskreditieren, was schließlich zur Rückkehr der Republik führen müsse. 
Im Grunde sagt Claudius hier, dass es keine guten Kaiser geben kann, weil das monarchische System selbst verbrecherisch ist. Eine so kompromisslose Verdammung der Monarchie mutet in einer britischen Fernsehserie subversiv, ja beinah radikal an.
Doch selbstverständlich geht der Plan am Ende nicht auf. Britannicus, dem Claudius die Rolle des Wiederherstellers der Republik zugedacht hat, weigert sich diese zu übernehmen. Nicht nur verbietet ihm sein verqueres Bild der eigenen "Männlichkeit", den zu erwartenden Anschlägen auf sein Leben durch ein freiwilliges Exil in Britannien auszuweichen, er erklärt seinem Vater auch ganz unumwunden, dass er nicht an die Republik glaube. "Niemand glaubt mehr an sie. Niemand außer dir."

Wenn es nach mir gegangen wäre, ich hätte I, Claudius auf dieser zugleich subversiven wie tragischen Note ausklingen lassen. Unser Held hat erkannt, dass die Monarchie ein durch und durch verwerfliches, nicht zu reformierendes System der Herrschaft ist. Zugleich jedoch muss er realisieren, dass er als einzelner nicht in der Lage ist, den Gang der Geschichte auf fundamentale Weise zu beeinflussen. Dem hätte sich auch das innerhalb der Serie immer mal wieder aufscheinende Motiv von Schicksal und Prophezeiung perfekt eingefügt. Doch leider nimmt die allerletzte Szene von Old King Log all dem die Spitze: 
Claudius ist gestorben. Die Sibylle tritt an sein Totenbett heran und gewährt ihm einen kurzen Blick in die Zukunft: Neros Herrschaft wird sich als so monströs erweisen, wie er es vorausgesehen hat, doch wird sie nicht zum Untergang der Monarchie, bloß zum Sturz der Julisch-Claudischen Dynastie führen. Soweit ist das alles noch in Ordnung, doch dann erklärt die Prophetin, dass die kommenden Kaiser sich alles in allem als gar nicht so schlecht erweisen würden. Es ist dieser eine kleine Satz, der mir das Ende von I, Claudius ein wenig vergällt hat. Er entschärft die antimonarchische Stoßrichtung der Serie und schwächt zugleich die Tragik von Claudius' Schicksal ab. In meinen Augen ein bedauernswerter Fehltritt, aber keiner, der dieser exquisiten TV-Serie ihren bleibenden Wert rauben würde.
   

 

Samstag, 29. Oktober 2016

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Back in the U.S.S.R. (IV)

In der offiziellen sowjetischen Ikonographie erscheint die Oktoberrevolution stets und ausschließlich als ein Aufstand der Industriearbeiter – und in geringerem Maße der Soldaten & Matrosen. Man denke etwa an die entsprechenden Szenen aus Filmen wie Sergei Eisensteins Oktjabr / Oktober (1928), Wsewolod Pudowkins Konjez Sankt-Peterburga / Die letzten Tage von St. Petersburg (1927) oder Dsiga Wertows Schestaja Tschast' Mira / Ein Sechstel der Erde (1926). {Die ich nebenbei bemerkt alle drei sehr schätze.}
In gewisser Hinsicht ist das natürlich auch nicht ganz falsch. Schon in der Februarrevolution, die der Zarendespotie ein Ende bereitet hatte, spielte die Arbeiterklasse die entscheidende Rolle (1), und als sich die Bolschewiki Anfang November (2) daran machten, die Provisorische Regierung von Alexander Kerenski zu stürzen, stützten sie sich dabei ganz auf die Belegschaften der großen Fabriken, die Soldaten in den Kasernen von Petrograd und die Matrosen der Baltischen Flotte. Auch waren es die aus ganz Russland zusammengekommenen Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte, die in Ausführung des direkten Auftrags ihrer Wählerschaft auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress die erste Sowjetregierung – den Rat der Volkskommissare mit Lenin an der Spitze – wählten, derweil Rotgardisten und revolutionäre Soldaten den Winterpalais stürmten. (3)
Doch sollte man darüber nicht vergessen, dass sich parallel zur Machtübernahme durch die Räte draußen auf dem Land ein Bauernkrieg von gewaltigen Ausmaßen zu entfalten begann.

Die Oktoberrevolution vollendete, woran die großen Bauernaufstände des 17. und 18. Jahrhunderts, die mit den Namen Stjenka Rasin und Jemeljan Pugatschow verbunden sind, gescheitert waren, und was die sog. "Bauernbefreiung" von 1861 nie ernsthaft angestrebt hatte – sie rottete auch die letzten Überbleibsel des Feudalismus in Russland mit Stumpf und Stiel aus. In den Monaten zwischen Februar und Oktober hatte sich der bäuerliche Kampf gegen die Großgrundbesitzer trotz aller Bemühungen der Provisorischen Regierung, den Muschik auf die irgendwann einzuberufende Konstituierende Versammlung zu vertrösten, immer weiter verschärft. Hatte der Bauer sich zu Beginn mit friedlichen Appellen an die bürgerlichen Minister zu Gunsten einer Agrarreform begnügt, begann er schließlich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, setzte dem Gutsbesitzer den Roten Hahn aufs Dach, plünderte die Herrenhäuser und teilte gewaltsam den großen Landbesitz unter den Mitgliedern der Dorfgemeinschaft auf.
Die Machtübernahme durch die Bolschewiki wäre kaum von Dauer gewesen, wenn sich diese nicht an die Spitze der bäuerlichen Revolution gestellt und deren Programm übernommen hätten. Neben dem Dekret über die schnellstmögliche Beendigung des Krieges durch einen demokratischen Frieden und der Bildung einer Sowjetregierung war das von Lenin verfasste Dekret über Grund und Boden der wohl wichtigste Beschluss des Zweiten Allrussischen Sowjetkongresses:
1. Das Eigentum der Gutsbesitzer an Grund und Boden wird unverzüglich ohne jede Entschädigung aufgehoben.
2. Die Güter der Gutsbesitzer sowie alle Apanage-, Kloster- und Kirchenländereien mit ihrem gesamten lebenden und toten Inventar, ihren Wirtschaftsgebäuden und allem Zubehör gehen bis zur Konstituierenden Versammlung in die Verfügungsgewalt der Amtsbezirks-Bodenkomitees und der Kreissowjets der Bauerndeputierten über. (4) 
Damit wurde das Fundament für die sog. "Smytschka" – das Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern – gelegt. Politisch fand dieses Bündnis in den ersten Monaten der Revolution seinen Ausdruck in einer Allianz zwischen Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären, die allerdings schon bald an der Frage des Friedensvertrags von Brest-Litowsk zerbrach. (5)

Ganz allgemein war die "Smytschka" immer wieder schweren Belastungen ausgesetzt. Als die Bolschewiki während des Bürgerkriegs dazu übergingen, das zur Ernährung der Städte und vor allem der Roten Armee nötige Getreide zwangsweise zu requirieren, rief das verständicherweise den Unmut der Bauern hervor. Die bolschewistischen Kommissare, die Mehl und Weizen aus ihren Lagern und Scheunen fortschleppten, waren in ihren Augen nicht viel mehr als Räuber. Und so empfanden nicht nur die Kulaken (Großbauern), sondern auch ein großer Teil der sogenannten "werktätigen" Bauernschaft. Tatsächlich verhielten sich die Führer der Requisitionstrupps mitunter auch entsprechend, wie Lenin selbst eingestehen musste: „They say that our food brigades are degenerating into gangs of bandits. It is quite possible. [...] When the old society perishes, its body cannot be nailed up in a coffin and lowered into the grave. The corpse decomposes in our midst: it rots and infects us.“ (6)
Ein Sieg der Weißgardisten freilich hätte unausweichlich zur Rückkehr der Gutsbesitzer geführt, die nur darauf warteten, ihren verlorenen Besitz wieder an sich zu reißen und dem rebellischen Muschik mit der Nagaika den schuldigen Respekt vor Eigentum und Adelsbrief einprügeln zu lassen. Solange diese Bedrohung bestand, ließen die meisten Bauern deshalb die rauen Maßnahmen des sogenannten "Kriegskommunismus" zähneknirschend über sich ergehen, während sie unterdrückte Flüche auf die "Kommune" und die "gierige Stadt" in ihre Bärte murmelten. Doch als sich das Ende des Bürgerkriegs abzuzeichnen begann, schlug der Unmut der Bauernschaft vielerorts in offene Rebellion um. In den Jahren 1920/21 kam es zu einer ganzen Reihe von Bauernaufständen gegen das Sowjetregime. 
Ab Mai 1920 scharten sich in Sibirien und dem Altai die streitbarsten Elemente der unzufriedenen Bauernschaft um die schwarzrote Fahne der anarchistischen Guerillaführer Nowoseljow, Rogow, Lubkow und Plotnikow und eröffneten einen Partisanenkrieg gegen die Bolschewisten. Im Dezember 1920 rebellierte im nördlichen Donkosakengebiet ein Bataillon der Roten Armee unter Führung eines gewissen Vakulin. Nach dessen Tod im Februar übernahm der Kosak Popow das Kommando. Im selben Monat erhob sich im Osten der Ukraine der ehemalige Rote Kommandant Maslakow. Die Rebellen versuchten eine Allianz mit der Schwarzen Armee des berühmten Anarchistenführers Nestor Machno zu bilden – allerdings ohne Erfolg. In Samara stand der Linke Sozialrevolutionär Saposchkow an der Spitze einer vergleichbaren Revolte. Nachdem er im September 1920 gefallen war, führte ein gewisser Serow die Aufständischen, die bis 1923 Widerstand zu leisten vermochten. Im August 1920 erhoben sich unter Führung Alexander Antonows in der Region Tambow – einer alten Hochburg der Sozialrevolutionäre – ca. 21.000 Bauern und bäuerliche Soldaten. Keine dieser Rebellionen verfügte über ein konkretes politisches Programm, wie selbst der anarchistische Autor Nick Heath eingestehen muss: "The Antonov movement had no ideology, they knew what they were against, but had only the haziest of notions as to how to order Russia in the hour of victory. The Antonovists were a local movement with local perspectives." (7) Der berühmte Kronstädter Aufstand vom März 1921 schließlich bildete so etwas wie den Kulminationspunkt dieser ganzen disparaten Bewegung.
Alle diese Rebellionen wurden von der Roten Armee und der Tscheka (8) mit Waffengewalt niedergeschlagen.
Mit Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP), die die Zwangsrequirierungen beendete und eine beschränkte Wiederherstellung des Marktes beinhaltete, beruhigte sich die Lage auf dem Lande dann wieder etwas.

Für eine eingehendere Betrachtung und Analyse dieser Entwicklungen ist hier natürlich nicht der rechte Ort. Es geht mir lediglich darum, den historischen Hintergrund zu skizzieren, vor dem ein nicht unbedeutender Teil der frühen sowjetischen Literatur gesehen werden muss.

Erstaunlicherweise behandelt so weit ich weiß kaum ein Roman oder eine Erzählung aus dieser Zeit das Thema des städtischen Aufstands. In diesem speziellen Fall hatten die Anhänger der sog. "Tatsachenliteratur"  recht, wenn sie erklärten, John Reeds mitreißende Reportage Zehn Tage, die die Welt erschütterten sei allen belletristischen Werken haushoch überlegen. Die wenigen Erzählungen, die in den russischen Metropolen angesiedelt sind  – wie z.B. Anatoli Marienhofs Zyniker oder Jewgeni Samjatins Die Höhle – drehen sich nicht um revolutionäre Arbeiter, sondern um Vertreter der Mittelklasse. Doch der Schauplatz der allermeisten befindet sich ohnehin an der Peripherie, in Provinzstädten (Boris Pilnjaks Das nackte Jahr), den Weiten Sibiriens (Wsewolod Iwanow; Alexander Fadejews Die Neunzehn), dem flachen Land (Nikolai Nikitin), dem dörflichen Wolhynien & Galizien (Issak Babels Die Reiterarmee). (9)
Auch wenn sie die Revolution bejahten, blieb den meisten Schriftstellern deren städtische, proletarische Seite scheinbar eher fremd. Sie konnten sich nur schwer in sie einfühlen, noch viel weniger sich im tiefsten Innern mit ihr identifizieren. Sehr viel leichter fanden sie emotionalen und künstlerischen Zugang zur Elementargewalt des Bauernkriegs. Sei es, dass dieser im Vergleich zur "grauen" Welt der Fabrikkomitees und Arbeiterräte eher ihrer Neigung zum Romantischen entsprach. Sei es, dass in ihnen Überreste der alten volkstümlerischen Traditionen der russischen Intelligenzija fortlebten. (10) Sei es, dass sie in dem Bemühen, ihre geistige Unabhängigkeit gegenüber dem bolschewistischen Regime zu bewahren, eine psychologisch-soziale Stütze in der Bauernschaft suchten.
Mitunter konnte das Züge einer eigenartigen revolutionären Nationalromantik annehmen. So schrieb z.B. Boris Pilnjak – einer der einflussreichsten frühsowjetischen Schriftsteller: 
Ich bin kein Kommunist und sehe nicht ein, weshalb ich Kommunist sein und als Kommunist schreiben muss; aber ich gebe zu, dass die kommunistische Macht in Russland nicht vom Willen der Kommunisten, sondern von den historischen Geschicken Russlands bestimmt wird, und insoweit ich diese historischen Geschicke (so gut ich kann und soweit mein Gewissen und mein Intellekt mich dazu veranlassen) verfolgen will, bin ich für die Kommunisten, d.h. insoweit die Kommunisten für Russland sind, bin ich auch für sie ... (11)
Wenn Pilnjak von "den historischen Geschicken Russlands" sprach, meinte er damit freilich etwas völlig anderes, als was  sich die Kommunisten darunter vorstellten. In seinen Romanen Das nackte Jahr und Maschinen & Wölfe orakelte er in einem etwas gewöhnungsbedürftigen, stark von dem symbolistischen Autor Andrei Bely beeinflussten Stil über eine Wiederauferstehung des "hölzernen", vorpetrinischen Russland. Und er war beileibe nicht der einzige, der solche an das Slawophilentum des 19. Jahrhunderts gemahnende Gedanken vertrat. So verglich z.B. Nikolai Kljujew in seinem Poem Lenin den Führer der Bolschewiken mit dem Protopopen Avvakum, dem Führer der Altgläubigen aus dem 17. Jahrhundert. Leo Trotzki beschrieb die Haltung des großen Bauerndichters zur Revolution einmal wie folgt:
Kljujeff nimmt die Revolution an, weil sie den Bauern befreit, und singt ihr viele seiner Lieder. Aber seine Revolution ist ohne politische Dynamik, ohne historische Perspektive. Für Klujeff ist sie ein Jahrmarkt oder eine prächtige Hochzeit, zu der man aus allen möglichen Orten zusammenströmt, um sich an Dünnbier und Liedern zu berauschen, sich in den Armen zu liegen, und zu tanzen und schließlich zu seinem Hof zurückzukehren: ein eigener Boden unter den Füßen und eine eigene Sonne über dem Kopfe. Für die einen – die Republik, für Kljujeff aber Russland; für die einen Sozialismus – für ihn aber Kitesh-grad. (12)
Auch Sergei Jessenin, das junge Dichtergenie aus dem "Pegasusstall" der Imaginisten, der 1922 erklärte, er sei nie in die KP eingetreten, "weil ich mich bedeutend linker gefühlt habe" (13), feierte in seinen Versen die Revolution in erster Linie als die Geburtsstunde des kommenden Bauernparadieses Inonija. Ja selbst der erzkommunistische Futurist Wladimir Majakowski – Sänger der Massen und Maschinen – verlieh der Gestalt des kollektiven "Iwan" in seinem Epos 150.000.000 die Züge eines altrussischen Recken. 

Eine offene Parteinahme für die gegen das Sowjetregime rebellierenden Bauern wäre natürlich auch schon zu dieser Zeit aufgrund der staatlichen Zensur unmöglich gewesen. Und doch haben wir Bücher wie Leonid Leonows Roman Die Dachse, in dem eine Gruppe bäuerlicher, antibolschewistischer Rebellen nicht ohne Sympathie beschrieben wird.
In die Handlung eingeflochten sind eine Reihe von Märchen und volkstümlichen Geschichten, die sich die "Dachse" am abendlichen Lagerfeuer erzählen. Eines von ihnen ist die Geschichte vom Rasenden Kalafat:
Der Großvater hörte es vom Urgroßvater, dem Urgroßvater hat es ein Altgläubiger aus einem Buch vorgelesen.
... Die alten Zeiten hatten Weite! Felder und Vögel, Wälder und Füchse und Schluchten und Quellen. [...] Zaren wurden damals geboren, die waren menschenscheu, einer immer scheuer als der andere.
Am Morgen tritt so einer auf den Turm und blickt über die Wälder – sehr gut pflegt die Aussicht zu sein; die Wolken laufen, die Wälder lärmen, die Flüsse rollen. Kommt über den Zaren die große Traurigkeit, dann brüllt er vom Turm:
"Alles mein: und Flüsse und Wälder und Sümpfe und Schluchten, und Bauern, und der Bär, und das Land, und die Welt ..."
Den Bauern kränkte das gar nicht, wenn er es auch hörte. Auch der Hahn schreit von der Stange über den Hof, und man füttert ihn dafür noch mit Ameiseneiern. 
Doch eines Tages wird einem dieser gekrönten Gockel ein Sohn geboren, der glaubt, dass es so nicht mehr weitergehen dürfe, dass die Welt auf vernünftige Weise geordnet werden müsse:
"Du Papachen, lebst nicht richtig: dein ganzes Reich hat keine Ordnung. Kannst du mir zum Beispiel sagen, wieviel Gräser auf deinen Feldern wachsen, wieviel Bäume in deinen Wäldern stehen? Wieviel Fische in den Flüssen, wieviel Sterne am Himmel sind? Jeder Grashalm muss erfasst sein." 
Für elf Jahre zieht sich der Zarewitsch in die Einsamkeit der Berge zurück. "Ein anderer hätte in dieser Zeit wer weiß wieviel Land gepflügt; dieser aber dachte nur an die Geometrie." Als er zurückkehrt, ist er zu monströser Größe angeschwollen, stößt seinen Vater vom Thron, errichtet seine eigene Herrschaft und nennt sich von nun an "Kalafat", was "ich schaffe alles" bedeutet.
Die Fische stempelte er, den Vögeln gab er Personalausweise, ein jedes Gras schrieb er auf in sein Buch, ob ledig oder blühend.
Aus den Bauern macht er Soldaten, die sieben Länder für ihn unterwerfen müssen. Mit Hilfe der versklavten Völker beginnt der Kalafat daraufhin einen gewaltigen Turm zu errichten, nachdem er die Warnungen eines alten Mannes {der offensichtlich Leo Tolstoi darstellen soll} in den Wind geschlagen hat. Immer weiter wächst der Turm.
Bis in den Himmel ragt er schon. Was uns zwanzig Jahrhunderte, sind ihm zwanzig Jahre. Ein Jahr Umfang hat der Turm. Die Wolken stoßen sich an ihm uind fließen in Bächen an ihm herunter. 
Mit dem Turm wächst auch die Anzahl der Diebe im Reich – "auf jeden Ziegelstein kommt ein Dieb" –, und schließlich macht sich der Kalafat zusammen mit sieben Dieben an den Aufstieg. Fünf Jahre klettern sie die Stufen hinauf, fünf der Diebe sterben vor Erschöpfung. Doch am Ende ist es dem Kalafat vergönnt, mit einem letzten gewaltigen Sprung die Spitze seines Turmes zu erklimmen.
[Er] sah sich um und heulte auf.
Ein Altgläubiger hat's erzählt, kein gehetzter Hund hat je so geheult, wie dieser Zar heulte. Die ganze Geometrie war wie weggeblasen. Während der Zar den Turm erstieg, da hatte der Turm das Gewicht des Zaren nicht ertragen, war immer tiefer in die Erde gerutscht. Nicht einen Zoll war Kalafat höher gekommen: tritt er einen Schritt nach oben, gleich sinkt der Turm einen Schritt zurück in die Erde.
Und ringsum lärmen wieder die Wälder, und in ihnen schleichen die Füchse. (14)  
Es dürfte nicht schwerfallen, diese Parabel zu deuten.



(1) Am Beginn der Revolution hatten Massendemonstrationen von Arbeiterinnen gestanden, was später dazu führen sollte, dass der 8. März von der Komintern zum Internationalen Frauentag erklärt wurde. Der Fest- und Kampftag selbst war zwar älter {er geht auf eine Intiative Clara Zetkins auf der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz vom August 1910 zurück}, doch das bis heute gültige Datum wurde zu Ehren der Petrograder Arbeiterinnen festgelegt, die dem Zaren furchtlos die Stirn geboten hatten.

(2) Der Umsturz in Petrograd fand am 6./7. November statt, was nach dem damals in Russland noch gültigen Julianischen Kalender der 24. / 25. Oktober war.

(3) Von den 670 Delegierten gehörten zwar nur 300 den Bolschewiki an, doch ganze 505 erschienen mit dem gebundenen Mandat, für eine "Übertragung aller Macht an die Sowjets" zu stimmen. (Vgl.: Alexander Rabinowitch: The Bolsheviks Come to Power. The Revolution of 1917 in Petrograd. S. 291f.) 
Der Sturm auf den Winterpalais war übrigens weit weniger dramatisch, als man meinen könnte. Dieses berühmte Foto z.B. wurde nicht 1917 während des Aufstands, sondern drei Jahre später während eines von Nikolai Jefreinow inszenierten Massenspektakels geschossen. In Wirklichkeit zog sich die Einnahme des Palastes über Stunden hin, und war bei weitem nicht so wild und blutig, wie man das von einer Revolution vielleicht erwarten würde.  

(4) In: Wladimir I. Lenin: Ausgewählte Werke. Bd. 4. S. 28. 
Diese politische Wende, die darauf hinauslief, dass die Bolschewiki de facto das Agrarprogramm der Sozialrevolutionären Partei übernahmen, war unter Marxisten nicht unumstritten. Rosa Luxemburgs Fragment gebliebener Text Die russische Revolution ist heute, wenn überhaupt, so vermutlich ausschließlich für ihre Kritik an den diktatorischen Maßnahmen der Bolschewisten bekannt. Tatsächlich jedoch bildet der Abschnitt über die Fragen von Diktatur & Demokratie, der den berühmten Satz "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden" enthält, bloß einen Teil des Aufsatzes. Daneben attackiert Luxemburg auch sehr heftig die bolschewistische Nationalitätenpolitik ("Selbstbestimmungsrecht der Nationen") sowie die leninsche Agrarreform Indem sie gar nicht erst versuchten, die großen Güter in Gemeinbesitz zu überführen, sondern deren Zerstückelung akzeptierten, hätten die Bolschewiki "dem Sozialismus auf dem Lande eine neue mächtige Volksschicht von Feinden geschaffen, deren Widerstand viel gefährlicher und zäher sein wird, als es derjenige der adeligen Großgrundbesitzer war." (In: Rosa Luxemburg: Politische Schriften. S. 550.)

(5) Wie die linkskommunistische Fraktion um Nikolai Bucharin plädierten auch die Linken SRs dafür, die äußerst brutalen Friedensbedingungen der Mittelmächte abzulehnen und stattdessen einen "revolutionären Krieg" gegen die deutschen Armeen zu eröffnen. Als sie sich damit nicht durchsetzen konnten, begannen sie eine Terrorkampagne gegen deutsche Würdenträger, um den Friedensvertrag auf diese Weise zu torpedieren. Die Ermordung des deutschen Gesandten Mirbach und der anschließende bewaffnete Aufstandsversuch der Linken SRs in Moskau am 6./7. Juli 1918 führte zur weitgehenden Unterdrückung der Partei durch das nunmehr rein bolschewistische Regime.

(6) Zit. nach: Victor Serge: Year One of the Russian Revolution. Chap 7.

(7) Nick Heath: The Third Revolution? Peasant resistance to the Bolshevik government. S. 6.

(8) Tscheka = "Tschreswytschainaja komissija po borbe s kontrrewoljuziej, spekuljaziej i sabotaschem" / "Außerordentliche Kommision zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage". Das von dem polnischen Revolutionär Felix Dserschinski angeführte Instrument des Roten Terrors. Aus ihr ging später die geheime Staatspolizei GPU / NKWD / KGB hervor.

(9) Ich beziehe mich hier natürlich nur auf Werke, die in der unmittelbaren Revolutions- und Bürgerkriegszeit (1917-1920) spielen. Romane wie Fjodor Gladkows Zement oder Juri Libedinskis Die Woche, die sich mit den Problemen des beginnenden Aufbaus einer neuen Gesellschaft nach dem Ende des Bürgerkriegs beschäftigen, sind naturgemäß in einem städtisch-industriellen und sehr "kommunistischen" Milieu angesiedelt.

(10) Für die radikale Intelligenzija des 19. Jahrhunderts war "das Volk" mehr oder weniger identisch mit der Bauernschaft gewesen, in der sie die Trägerin eines genuin russischen Demokratismus & Sozialismus gesehen hatte.
  
(11) Zit. nach: Gleb Struve. Geschichte der Sowjetliteratur. S. 282f. 

(12) Leo Trotzki: Literatur und Revolution. S. 55.

(13) Zit. nach: Sergej Jessenin: Gedichte. S. 74.

(14) Leonid Leonow: Die Dachse. S. 341f.

Samstag, 8. Oktober 2016

Strandgut der Woche

Freitag, 7. Oktober 2016

Schattenwelt pervertierter Leidenschaften

Der "gothic" Horror der 60er Jahre lässt sich grob in drei geographisch-filmische Provinzen unterteilen. Großbritannien mit den Hammer - Produktionen; die Vereinigten Staaten, wo AIP mit Roger Cormans Poe - Zyklus das Genre dominierte; und – last but not least – Italien. 

Nachdem Riccardo Freda & Mario Bava 1956 mit I Vampiri (vgl. hier) den Startschuss abgegeben und Bava 1960 mit seinem ersten eigenen Film La maschera del demonio / Black Sunday (vgl. hier) gleich eines der großen Meisterwerke des "gothic" Horror geschaffen hatte, erfreuten sich Geister und Vampire, neblige Landschaften und staubige Spukschlösser für einige Jahre recht großer Beliebtheit im italienischen Genrefilm, auch wenn dessen äußerst bunte Gefilde nie von ihnen dominiert wurden.
Neben den beiden Pionieren gilt Antonio Margheriti mit seinen Filmen La Danza Macabra / Castle of Blood (1963) La vergine di Norimberga / The Virgin of Nuremberg aka Horror Castle (1963) und I lunghi capelli della morte / The Long Hair of Death (1964) als der dritte italienische Großmeister des "gothic" Horror. Den ersten dieser Streifen wollen wir uns heute etwas genauer betrachten.

   

Vorweg erst einmal: Soweit  mir meine zugegebenermaßen nicht allumfassende Bekanntschaft mit dem Werk von Edgar Allan Poe erlaubt, darüber ein Urteil abzugeben, hat die Story von Danza Macabra nichts mit den Kurzgeschichten des unsterblichen Meisters des Makabren zu tun. Aber solche gefaketen literarischen Quellenverweise waren zu jener Zeit ein beliebter Dreh {wir sind ihnen vor einigen Monaten ja auch schon einmal in Massimo Pupillos Horrorstreifen der 60er begegnet}.
Etwas überraschender mag es da schon sein, zu erfahren, dass es sich bei dem Film ursprünglich um ein Projekt von Sergio Corbucci gehandelt hatte – den meisten vermutlich in erster Linie als Schöpfer der klassischen Spaghetti - Western Django (1966), Il grande silenzio (1968) und Il mercenario (1968) bekannt.  Nicht nur stammte das Drehbuch aus seiner Feder, er hatte auch vorgehabt, die Regie zu führen. Am Ende war es Corbuccis überfüllter Terminplan, der zu Margheritis erstem Ausflug in die Gefilde des Horrorkinos führte.
Bei einem kurzen Blick auf die IMDB - Seite springen einem außerdem noch einige weitere bekannte Namen des italienischen Genrefilms ins Auge. So wurde die Musik zu Danza Macabra von dem großen Riz Ortolani kreiert, und als Regieassistent fungierte der zu diesem Zeitpunkt noch völlig unbekannte Ruggero Deodato. Glaubt man dem späteren Schöpfer von Cannibal Holocaust, so war er es, der Barbara Steele dazu überredete, die Hauptrolle zu übernehmen. Eigentlich habe die Schauspielerin nach ihrem Mitwirken in Federico Fellinis 8 1/2 (1963) versucht, sich von ihrem Image als "Königin des Horrors" zu lösen. Wie glaubwürdig Deodatos Story ist, sei allerdings dahingestellt. {Neben Ms. Steele dürfen wir mit Arturo Dominici als Doktor Carmus ein weiteres Mitglied des Ensembles von La maschera del demonio / Black Sunday zurück begrüßen.}

Zwar basiert Dansa Macabra nicht auf einer Story von Edgar Allan Poe, doch dafür lässt der Film den Schriftsteller als handelnde Person (Silvano Tranquilli) auftreten.Was etwas kurios anmutet, ist er für die eigentliche Handlung doch völlig nebensächlich, während sein Auftritt zugleich erfordert, dass man ihm eine Reise nach England andichtet und ihn in einen überzeugten Verfechter der Realität des Übernatürlichen verwandelt, der behauptet, seine phantastischen Erzählungen seien Tatsachenberichte. Nun denn, wir werden noch sehen, dass der Plot des Films manche Merkwürdigkeiten aufweist.
Auf jedenfall startet der Streifen damit, dass der Journalist Alan Foster (Georges Rivière) Poe in seinem Londoner Gasthof aufsucht, um ihn zu interviewen. Schon bald sind die beiden in eine Diskussion über die Realität des Übernatürlichen verstrickt, was dazu führt, dass der gleichfalls anwesende Lord Blackwood (Umberto Raho) dem skeptischen Foster eine Wette vorschlägt: Wenn er bereit ist, dieselbe Nacht (Allerseelen) in Castle Blackwood zu verbringen, und bei Aufgang der Sonne noch unter den Lebenden weilt, ist er um ein paar Pfund reicher. Wenig später schon befinden sich die Drei auf dem Weg zu dem übel beleumundeten Herrenhaus. Dort angekommen erwartet den guten Alan ein erwartungsgemäß gruseliges Ambiente, doch wirklich spannend wird es erst, als er entdeckt, dass die staubigen Gemächer keineswegs so verlassen sind, wie es ursprünglich den Anschein hatte. Es dauert nicht lange, und er findet sich in der Gesellschaft zweier äußerst reizender Frauen wieder – Elizabeth (Barbara Steele) und Julia (Margarete Robsahm). Wir als Zuschauer ahnen natürlich von Anfang an, dass es sich bei den beiden um Geister handelt, doch der beinharte Skeptiker ist völlig blind für diese Möglichkeit. Zumal es sich um sehr "körperliche" Gespenster handelt. Erst als er entdeckt, dass Elizabeth, mit der er gerade leidenschaftlichen Sex hatte, scheinbar keinen Herzschlag besitzt, wird auch ihm die Sache etwas unheimlich. Doch da befindet er sich bereits gefangen in einem unnatürlichen Strudel von Leidenschaft und mörderischer Gewalt, aus dem es kein Entrinnen mehr für ihn geben wird.

Danza Macabra ist ein faszinierender Film, aber sein Plot besitzt Eigenheiten und Schwächen, die es mir unmöglich gemacht haben, ihn vorbehaltlos zu genießen. 
Zuerst einmal ist die Struktur der Handlung recht eigenartig. Ein wenig fühlte ich mich dabei an Pupillos La Vendetta di Lady Morgan erinnert, der nebenbei bemerkt auch inhaltlich einige erstaunliche Parallelen zu Margheritis Film aufweist. Die Handlung erreicht einen dramatischen Höhepunkt, wenn nach erwähnter Liebes/Sexszene urplötzlich ein Mann mit nacktem Oberkörper in Elizabeths Schlafzimmer gestürmt kommt und sie umbringt, woraufhin Alan seinerseits den Angreifer erschießt. Kaum ist dies geschehen, kommt die Handlung zu einem abrupten Halt. Es folgt der Auftritt des mysteriösen Doktor Carmus, der unseren Helden über die wahre Natur seiner Geliebten und aller übrigen Schlossbewohner aufklärt, ihm seine eigene kuriose Theorie über ein Fortleben nach dem Tod erläutert und ihn anschließend die Ereignisse mitverfolgen lässt, die den Fluch von Blackwood Castle ursprünglich hereigeführt haben. Während dieser Sequenz wird Alan ganz zum Zuhörer und Beobachter. Er ist selbst nicht in die Geschehnisse involviert {die ja bereits Jahre zurückliegen}, und damit scheinbar auch in keinerlei Gefahr, was dem Ganzen natürlich sehr viel an Spannung raubt. Freilich sind wir noch nicht am Ende angekommen, und nach der {ehrlich gesagt vorhersehbaren} Enthüllung, dass Carmus selbst ein Geist ist, sieht sich Alan im furiosen Finale von einer ganzen Gespensterschar verfolgt, die es nach seinem Blut gelüstet, da nur der "ganz besondre Saft" ihre alljährliche "Wiederauferstehung" an Allerseelen sicherstellen kann.
Daneben weist der Plot bei genauerer Betrachtung eine ganze Reihe ziemlich großer Löcher auf. Wenn es den Geistern {mit Ausnahme Elizabeths} ausschließlich um Alans Blut geht, warum sind sie nicht schon bei ihrem ersten Auftritt über ihn hergefallen? Der von Carmus "herbeigezauberte" Rückblick erklärt den Tod aller Anwesenden mit Ausnahme Elizabeths. Wie ist sie gestorben? Sollen wir glauben, dass sie Selbstmord begangen hat? Der Rückblick legt außerdem nahe, dass Lord Blackwood über die Natur des Fluchs im Bilde ist. Warum lockt er mit seiner Wette dennoch Jahr für Jahr Unschuldige ins Verderben? Carmus nennt ihn einen Sadisten, aber reicht das aus, um zu erklären, warum er den ganzen Spuk offenbar am Laufen halten will? Wie ist der Lebende Leichnam, der Carmus auf dem Gewissen hat, in den Sakrophag in der Gruift gelangt? Will die entsprechende Szene andeuten, dass es in Wirklichkeit die geheimnisvollen Experimente des guten Doktors waren, die zur Rückkehr der Toten führten?

Doch so irritierend manche dieser Wendungen und Plotlöcher auch seien mögen, aufs Ganze gesehen verblassen sie neben der unleugbaren Kraft von Antonio Margheritis filmerischer Vision. 
Der Regisseur gehörte zu jenen Akteuren des italienischen Grindhouse-Kinos, die stets bereit waren, sich den Gegebenheiten des Marktes anzupassen, und problemlos von Genre zu Genre wechselten. Er war kein Auteur wie Mario Bava oder Dario Argento. Viele mögen ihn vor allem als Schöpfer des Trash-Klassikers Yor – The Hunter From The Future (1983) kennen. Patricia MacCormack schreibt in ihrem {leider mit einer Reihe faktischer Fehler behaftetem} Essay auf Senses of Cinema: "Margheriti was, first and foremonst, a working director. Like Fulci, his artistry could be said to be accidental rather than volitional." Doch unbezweifelbar besaß er Talent und ästhetische Sensibilität, ja vielleicht sogar so etwas wie einen persönlichen künstlerischen Stil. Wie dem auch sei, in Danza Macabra jedenfalls hat Margheriti eine faszinierende Schattenwelt pervertierter Leidenschaften geschaffen. 
Ein morbider, nicht selten fetischistischer Erotizismus gehört zu den Merkmalen vieler italienischer Horrorfilme. {Was vermutlich mit dem starken Einfluss der Katholischen Kirche auf die Kultur und Gesellschaft Italiens zusammenhängt.} Danza Macabra bildet da keine Ausnahme, auch wenn das Motiv hier nicht ganz so unverhüllt zutage tritt wie etwa in Riccardo Fredas ein Jahr zuvor in die Kinos gelangtem L'orribile segreto del Dr. Hichcock oder dem Giallo-Genre, das Mario Bava ein Jahr später mit Sei donne per l'assassino / Blood and Black Lace* ins Leben rufen würde.
Aus der amerikanischen Fassung des Films wurden übrigens alle gar zu offen erotischen Sequenzen rausgeschnitten, was einer Kastration von Margheritis Werk gleichkommt. Was das US-Publikum nicht zu sehen bekam, war vor allem: 1) Das plötzlich aufflammende Kaminfeuer, das in der Liebesszene zwischen Alan und Elizabeth nicht nur als symbolische Darstellung eines Orgasmus dient, sondern auch andeutet, dass sie anders als die übrigen Geister ihr unnatürliches Leben weniger aus physischem Blut als vielmehr aus sexueller Ekstase bezieht. 2) Die Szene, in der Elizabeth von ihrem Liebhaber aus der Vergangenheit offenbar oral befriedigt wird. 3) Die Szene, in der Julia Elizabeth sexuell bedrängt. {Hier ist der Eingriff der Zensoren so extrem ausgefallen, dass die Szene für amerikanische Zuschauer kaum mehr Sinn gemacht haben kann.}

Doktor Carmus' vertritt die Ansicht, dass sich der Mensch in drei Komponenten aufteilen lasse: Den physischen Körper, die unsterbliche Seele und die Sinne. Anders als gemeinhin angenommen, könne auch der dritte Teil nach dem Ableben des Körpers fortbestehen. So eigenartig und beinah fehlplaziert die Carmus-Sequenz auf den ersten Blick auch wirkt, erfüllt sie mit der Formulierung dieser Theorie doch eine wichtige Funktion in der Handlung. Sie unterstreicht, dass der ganze Spuk auf sinnlichem Verlangen basiert. Damit gewinnen auch die merkwürdige "Körperlichkeit" der Geister und ihr Verlangen nach Blut eine thematische Folgerichtigkeit, wie sie z.B. in La Vendetta di Lady Morgan nicht gegeben ist.
Im Zentrum des Geflechts sexueller Leidenschaften, die in mörderische Gewalt umschlagen, steht Elizabeth. Sie ist das Objekt des Begehrens für ihren Ehemann, ihren Geliebten und Julia. Ihre eigene Haltung ist dabei merkwürdig ambivalent stets schwankend zwischen Passivität und Aktivität. Barbara Steele verleiht ihr eine beinah kindlich wirkende Hilflosigkeit, zugleich jedoch eine vampirisch anmutende Leidenschaftlichkeit. Patricia MacCormack vergleicht sie mit einem Succubus, doch bei aller sinnlich-erotischen Ausstrahlung, die sie ohne Zweifel besitzt, scheint sie mir nicht über jene sexuelle Aggressivität zu verfügen, die ich mit einem Dämon dieser Art assoziieren würde. Aus ihrer sexuellen Beziehung zu Alan scheint sie einerseits neues {untotes} Leben beziehen zu wollen {was mehr dem Vampirtypus entsprechen würde}, sucht in ihr jedoch zugleich einen Weg zur Befreiung aus ihrer fluchbeladenen Situation. Ein Verlangen, das unmöglich erfüllt werden kann, wie ihr Julia klarzumachen versucht und wie sie sich selbst im Finale eingestehen muss. Statt ihre Freiheit zu erlangen, verstrickt sie bloß eine weitere Person in den Fluch, der auf dem Herrenhaus und seinen Bewohnern lastet. Die ganze Tragik der Geschichte findet in der allerletzten Szene des Films, nachdem Lord Blackwood und Poe den toten Foster am nächsten Morgen gefunden haben, einen ebenso subtilen wie niederschmetternden Ausdruck. Wie es  Jo Gabriel aka Monstergirl sehr schön auf ihrem Blog The Last Drive In beschrieben hat:
The camera lowers passed Alan’s body down to the leaves on the ground and we hear Elisabeth’s voice remote from somewhere in the daylight shadow,  “You have stayed with me Alan.” Then Alan’s voice answers her.
“Yes Elisabeth.” A beautifully romantic melody plays as the camera rises to the sunlit sky poking through the tree tops. The night of the dead is over and the lovers remain together. United at last, in death.
The camera pauses on the burning hazy light of the sky. The theme of the waltz has now morphed into a triumverant melody rejoicing in the culmination of their union. Abruptly the music turns ominous again, as we know the next year will bring yet another wager, yet another victim.
FINE comes onto the screen. The nightmare continues.
Die besondere Faszinationskraft von Danza Macabra basiert u.a. darauf, dass es uns Margheriti nicht erlaubt, eine überlegen-distanzierte Haltung einzunehmen, aus der heraus wir das Verhalten der handelnden Personen moralisch be- und verurteilen könnten. Im Unterschied zu vielen anderen Horrorfilmen der Zeit und vor allem zu den frühen klassischen Hammer-Flicks mit ihrem von Terence Fisher geprägten "Monster & Savant" - Schema** liegt diesem Film keine Gut-Böse-Dichotomie zu Grunde. Schon rein äußerlich bilden die blonde Julia und die brünette Elizabeth zwar ein Gegensatzpaar, doch wird dem kein moralischer Inhalt verliehen. Julias lesbische Neigungen werden nicht anders dargestellt als Elizabeths Promiskuität. Wie auch die männlichen (Neben)figuren werden die beiden Frauen von sinnlichen Leidenschaften beherrscht. Diese führen zwar schließlich zu ihrem Verderben, doch wird dadurch kein moralisches Urteil über sie gefällt. Wenn der Film einen Bösewicht besitzt, so ist es Lord Blackwood, der ein perverses Vergnügen daraus zu beziehen scheint, diese tragischen Opfer ihrer Leidenschaften in einem limboähnlichen Zustand zwischen Leben und Tod zu halten und damit ihre Qual zu verewigen. 
Wie Patricia MacCormack ganz richtig bemerkt, spiegelt sich diese moralische Ambiguität in der visuellen Ästhetik des Films wider:
This blurring of conceptual binaries of the dark and the light are reflected in the chiaroscuro, and the blurring of boundaries between good and evil, perversion and pragmatism are seen in the lack of clear demarcation between bodies and sets, as black clothes recede the figures into the background and stark, angular faces (particularly Steele’s) seem to float with voluminous proprioceptivity from the screen independent of their integrated form. This is a film of blurred visions and amorphous morals and the visual style reflects this beautifully.
Dem habe ich nichts weiter hinzuzufügen.




 

* Zwar wird Bavas La ragazza che sapeva troppo / The Girl Who Knew Too Much (1963) oft als der erste Giallo bezeichnet, doch kann ich mich dem nicht recht anschließen. Wer das wundervoll dekadente Meisterwerk des großen Horror-Auteurs noch nicht gesehen hat, lasse sich durch diesen Clip in Versuchung führen.
** Vgl. meine Besprechung von Fishers The Devil Rides Out.