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Montag, 8. August 2016

Back in the U.S.S.R. (I)

Teil 2 * Teil 3

Bei sowjetischer Phantastik werden die meisten vielleicht zuallererst an die Erzählungen der Brüder Strugazki oder an Tarkowskis Solaris (1972) und Stalker (1979) denken.
Ohne Frage ganz großartige Bücher und Filme. Doch möchte ich im Laufe der nächsten Wochen an dieser Stelle ein paar Beispiele phantastischer Kunst aus einer ganz anderen Epoche der Sowjetgeschichte vorstellen: Aus jener faszinierenden Ära des Aufbruchs und der ungebremsten Experimentierfreude, die kurz nach der Oktoberrevolution einsetzte und ihr Ende in den frühen 30er Jahren fand, als die stalinistische Bürokratie ihre absolute Herrschaft endgültig konsolidierte und das kulturelle Leben der UdSSR unter dem bleiernen Mantel des "Sozialistischen Realismus" erstickte.

Die Idee zu dieser kleinen Artikelreihe kam mir bereits vor einigen Jahren, und wenn ich mich recht erinnere, war es ein kurzer Absatz aus einem Essay von Frank Weinreich über die Geschichte der Science Fiction, der mich ursprünglich auf sie brachte. Dort bekommt man zu lesen:
Die meisten sowjetischen Autoren der Zwischenkriegszeit schrieben [...]  auf Linie, was schade ist, denn Russland, das Land vieler berühmter phantastischer Autoren und Regisseure, verfügt über eine großartige Science Fiction-Tradition, zu der parteilich bestellte Jubelhymnen allerdings wenig beitragen. 
Leider teilt uns Weinreich nicht mit, auf welchen Büchern oder Erzählungen sein Urteil basiert.  Ohne Zweifel enthalten einige sowjetische SciFi-Romane der 20er Jahre die archetypische Gestalt des "bösen Kapitalisten", aber das ist keineswegs immer der Fall. Wladimir Obrutschews Plutonia (1915/24) und Sannikow-Land (1924) z.B. sind "Lost World" - Geschichten im Stile von Arthur Conan Doyle oder Edgar Rice Burroughs, inklusive Dinosauriern, Mammuts und Neandertalern. Alexander Beljajews Professor Dowells Kopf (1925) und Der Amphibienmensch (1928) beschäftigen sich auf ähnliche Weise wie einige Werke von H.G. Wells mit den moralischen Implikationen wissenschaftlicher Experimente. Erst in den 30er Jahren begegenen wir SciFi-Büchern wie den Romanen von Grigori Adamow, die Weinreichs Charakterisierung mehr oder weniger entsprechen.
Ganz allgemein ist es ziemlich absurd im Zusammenhang mit der sowjetischen Literatur der 20er Jahre von "parteilich bestellte[n] Jubelhymnen" zu sprechen. Trotz der Existenz einer staatlichen Zensur, die auch in den Augen mancher Bolschewisten wie Alexander Woronski mitunter gar zu brutal und undifferenziert vorging, kann man vor 1929 nicht von einer "parteigelenkten" oder "gleichgeschalteten" Literatur sprechen. Anatoli Lunatscharski, der Volkskommissar für Kultur und Aufklärung, war vielmehr bemüht, den unterschiedlichsten künstlerischen Strömungen Raum zur Entfaltung zu sichern. Der Ruf nach einer quasi-monolithischen "sozialistischen" oder "proletarischen" Kunst wurde zu dieser Zeit nicht von der Partei, sondern von verschiedenen Künstlergruppen erhoben, die sich selbst für die einzig wahren Vertreter der "revolutionären" Kunst hielten. Auch sei darauf hingewiesen, dass nach dem Ende des Bürgerkriegs und mit der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) 1921/22 eine ganze Reihe unabhängiger Verlagshäuser entstanden.
Weinreichs allgemeines Verdammungsurteil scheint mir deshalb mehr auf seinem erklärten Antikommunismus – er spricht in Bezug auf Sowjetrussland von einem "grausame[n] gesellschaftspolitische[n] Experiment ohne Gewinner" – als auf einer ernsthafteren Beschäftigung mit der sowjetischen Literatur zu beruhen.

Die Anfänge der russischen SF reichen natürlich in vorrevolutionäre Zeiten zurück. Interessanterweise hatte man Jahrzehnte bevor Hugo Gernsback den Begriff "Science Fiction" bzw. "Scientifiction" prägte, in Russland bereits die Genrebezeichnung Научная фантастика {naútschnaja fantastika}, "Wissenschaftliche Phantastik" geschaffen. Zwischen 1890 und 1914 erschienen einen ganze Reihe von Büchern, die sich mit interplanetarischen Expeditionen u.ä. beschäftigten. Zu ihnen gehörte auch der 1908 erschienene utopische Roman Der Rote Stern, in dem ein russischer Revolutionär die sozialistische Gesellschaft auf dem Mars besucht. Autor war der spätere Spiritus Rector der "Proletarischen Kulturbewegung" (Proletkult) Alexander Bogdanow, der zu diesem Zeitpunkt noch ein führendes Mitglied der Bolschewistischen Partei war. Die meisten anderen SciFi-Bücher dieser Ära hatten wohl eher keinen ausdrücklich sozialistischen Charakter, doch sie alle waren Teil einer kulturellen Bewegung, die fasziniert von den Errungenschaften der modernen Wissenschaft und Technik deren Potential für eine kommende positive Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse feierte.  Wie man in einer Ausgabe der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Priorda i Ludi (Natur und Volk), die in Form von Extranummern ihre Leserschaft immer wieder auch mit {meist übersetzten} SciFi-Erzähluingen beglückte, lesen konnte:  
Science and technology are defining modern reality by transforming not just everyday life, but the very ways in which we think and imagine. A new kind of writing called nauchnaia fantastika, scientific fantasy, is playing a not inconsequential role in this process. Is it not in the imagination where bold theories and amazing machines are first born?*  
So gesehen wohnte dieser ganzen literarischen Strömung ein zutiefst demokratischer Geist inne. Inspiration fanden die russischen Autoren dabei in westeuropäischen Vorbildern wie H.G. Wells, Camille Flammarion und Jules Verne. Vor allem letzterer erfreute sich schon seit längerem großer Popularität im Zarenreich.
Zu den größten Bewunderern des Franzosen gehörte nicht zufällig Jakow Perelman, der Verfasser zahlreicher äußerst erfolgreicher populärwissenschaftlicher Bücher. Noch gegen Ende seines Lebens (1939) schrieb er:
Who can rightfully claim to be the founder of science for entertainment? Here there can't be two opinions: this honor belongs to Jules Verne. He was not only a remarkable novelist and creator of the science fantasy genre in literature but [also] the greatest master of scientific propaganda. He was the first to show that it is necessary to popularize knowledge, [it is also necessary] to completely capture the attention of the reader, maintaining in them the most lively interest in the topic.**  
Nach dem Oktoberumsturz setzte Perelman seine Bemühungen um die möglichst weite Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse unter den Volksmassen mittels leicht zugänglicher und unterhaltsam geschriebener Bücher mit verdoppelter Energie fort. Auch wenn er selbst wohl kaum ein Kommunist war, trafen sich seine Ideale in diesem Punkt doch hundertprozentig mit denen der bolschewistischen Revolution.

In den 20er Jahren fand dieser Geist seinen Ausdruck u.a. in einer weitverbreiteten Begeisterung für Raketentechnik und die damit verbundene Möglichkeit eines Vorstoßes der Menschheit in den Weltraum. Anders als in späteren Phasen sowjetischer Raumfahrtbegeisterung spielte staatliche Propaganda dabei keinerlei Rolle. Es handelte sich um einen Ausdruck von spontanem Enthusiasmus. Dabei speiste sich die "Bewegung" aus ideologisch sehr unterschiedlichen Quellen:
The artistic scope and diversity of the space fad was extraordinarily broad. With little or no support from the state, amateur and technically minded enthusiasts formed short-lived societies to discuss their interests and exchange information. [...] Their cause, space exploration, was a small but important part of the wild cultural explorations of the New Economic Policy (NEP) era of the 1920s; it stemmed from both ideological oppositions and unions. Two intellectual strands contributed to the birth and sustenance of the 1920s space fad: technological utopianism and the mystical tradition of Cosmism.***
Beide geistige Strömungen fanden sich in der Gestalt des großen russisch-sowjetischen Pioniers der Raketentechnik & Raumfahrt Konstantin Ziolkowski vereinigt. Der visionäre Autodidakt war zu diesem Zeitpunkt noch nicht die "nationale Ikone", die er ab 1932 werden sollte, sondern lebte unter recht ärmlichen Verhältnissen im provinziellen Kaluga. Für Weltraumenthusiasten und Leute wie Jakow Perelman war er freilich schon jetzt ein Held und der Prophet eines neuen Zeitalters. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit hatte Ziolkowski mit der 1920 veröffentlichten Erzählung Jenseits der Erde außerdem einen kleinen Beitrag zur jungen sowjetischen Science Fiction geleistet. Auch wenn das Werk in literarischer Hinsicht wohl eher nicht zu überzeugen vermag:
In wooden prose, Tsiolkovskii described how an international team of scientists built an Earth-orbiting spaceship on the one-hundredth anniversary of the October Revolution. The names of the main heroes of the book probably reflected Tsiolkovskii's lack of literary imagination more than anything else: Franklin (from the United States), Newton (England), Laplace (France), Helmholtz (Germany), Galileo (Italy), and Ivanov (Russia) – a surrogate for himself.****
Als der Moskauer Filmstudent und spätere Kinderfilm-Regisseur Wassili Schurawljow 1924 den Drehbuchentwurf für einen Film über einen ersten Mondflug zu Papier brachte, war auch dies zweifellos Ausdruck des weit verbreiteten Weltraumenthusiasmus jener Jahre. 
Freilich musste er ein gutes Jahrzehnt warten, bevor er diese Idee in die Wirklichkeit umsetzen konnte. Erst als der Komsomol (Kommunistische Jugendverband) 1933 den Auftrag erteilte, einen Film zu drehen, der der Jugend die Visionen Ziolkowskis näherbringen sollte, erhielt Schurawljow eine Gelegenheit, sein altes Script wieder hervorzukramen. Im Zuge der stalinistischen Wiedergeburt des russischen Nationalismus hatte man  Ziolkowski inzwischen zu einem "vaterländischen Genie" erklärt. Heraus kam dabei drei Jahre später der neckische SciFi-Flick Kosmicheskiy reys (Kosmische Reise), der gestützt auf Ziolkowskis Theorien ein verhältnismäßig realistisches Bild eines bemannten Raumflugs zu zeichnen versuchte. 
Der Streifen kann mit einigen wunderbaren Szenen und recht beeindruckenden Trickeffekten glänzen, ist inhaltlich jedoch wenig bemerkenswert. Er erzählt die Geschichte des genial-graubärtigen Astrophysikers Pawel Iwanowitsch Sedich, der gegen den heftigen Widerstand seines bürokratischen und übervorsichtigen Kollegen Karin 1949 mit dem Raketenschiff Stalin zum Mond fliegt. Dabei wird er von der jungen Wissenschaftlerin Marina {die vor dem unautorisierten Start ihren rückgratlosen Kosmonauten-Boyfriend, der für Karin arbeitet, k.o. schlagen muss!} und dem enthusiastischen Komsomolzen Andrjuscha begleitet. Die drei gelangen glücklich zum Mond, entzünden dort ein patriotisches Leuchtfeuer (CCCP), retten ein von Karin zuvor dort hingeschossenes Kätzchen und kehren nach Überwinden einiger technischer Probleme zur Erde zurück, wo sie ein triumphaler Empfang erwartet.  
So gesehen ein wohl relativ typischer Film der Stalin-Ära. Um so erstaunlicher mag es wirken, dass die Zensurbehörde ihn schon kurz nach seinem Erscheinen mit dem Bannfluch belegte. Die fantasievoll-grotesken Stop Motion - Szenen auf dem Mond stellten in den Augen von Stalins Kulturinquisitoren offenbar einen unverzeilichen Verstoß gegen die geheiligten Normen des "Sozialistischen Realismus" dar!

Wenn schon das zu viel für die Kultur-Apparatschiks war, was hätten sie dann erst über Jakow Protasanows großartig avantgardistische Adapation von Alexei Tolstois Aelita aus dem Jahr 1924 gesagt, der wir in den kommenden Wochen zusammen mit ihrem literarischen Vorbild einen Besuch abstatten werden? Ein Beweis mehr dafür, dass sich das sowjetische kulturelle Leben  der 20er in keiner Weise mit dem der 30er Jahre vergleichen lässt.

Uff, für einen Eröffnungspost war das jetzt ein Bisschen lang, aber was soll's. Ich hoffe jedenfalls, dass wir gemeinsam ein paar spannende und unterhaltsame Wochen verbringen werden, liebe Genossinnen und Genossen – back in the U.S.S.R.




* Zit. nach: Anindita Banerjee: We Modern People: Science Fiction and the Making of Russian Modernity.
** Zit. nach: Asif A. Siddiqi: The Red Rockets' Glare. Space Flight and the Soviet Imagination, 1857-1957. S. 38.
*** Ebd. S. 74f. 
**** Ebd. S. 51.

2 Kommentare:

  1. Sehr schöner Start der Reihe! Und mit "genial-graubärtig" hast du auch ein löblich feinsinniges Doppeladjektiv drinne ...

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