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Montag, 20. Juni 2016

Kein Johannes auf Patmos

Am 1. März 1881 zerriss die Detonation zweier Bomben die sonntägliche Stille von St. Petersburg und beendete das Leben von Alexander II. Romanow, des "Herrschers aller Reußen". 
Doch anders als die Attentäter und ihre Gesinnungsgenossen in der revolutionären Partei Narodnaja Wolja ("Volkswille/Volksfreiheit") gehofft hatten, erwies sich die Explosion nicht als der Startschuss für einen allgemeinen Aufstand gegen das absolutistische Regime. Mit der Thronbesteigung Alexanders III. begann vielmehr eine Ära der bleiernen Reaktion, begleitet von heftigen antijüdischen Pogromen und dem Erlass des Manifests vom 29. April, in dem der neue Zar sein unerschütterliches Festhalten an Gottesgnadentum und Selbstherrschaft bekundete. 
Der neugegründeten Geheimpolizei Ochrana gelang es schon bald, die letzten Überreste der Narodnaja Wolja zu zerschlagen. Große Teile der einst so radikalen Intelligenzija warfen in den folgenden Jahren ihre alten Ideale von Volksbefreiung und Demokratie über Bord und söhnten sich mit dem Zarismus aus, was ihnen um so leichter fiel, als das von einem System hoher Schutzzölle begünstigte rasante Aufblühen des russischen Kapitalismus zahlreiche wohldotierte Posten in Industrie und Verwaltung für sie schuf. Die, die sich dem allgemeinen Renegatentum verweigerten, versanken sehr oft in Resignation und Verzweifelung. Angesichts der scheinbar unerschütterlichen Macht des Selbstherrschertums fühlten sie sich hilflos und isoliert. Aus gutem Grund gelangte der Dichter Semjon Nadson in den linken Kreisen der 1880er Jahre zu großer Beliebtheit.  
I know, dear friend, deep in my heart I know
My verse is pale and faint and lacking power.
Oft for its weakness do I sadly grieve,
And pour forth secret tears at night's still hour.


In vain at times forth from my lips would burst
A cry of anguish I can scarce endure;
In vain at times love almost burns my soul -
Cold is our tongue, and lamentably poor.
(1)
Die radikalen Intellektuellen der 60er und 70er Jahre waren kämpferische Atheisten und Materialisten gewesen. Unter der Herrschaft von Alexander III. kam es nun auch in gebildeten Kreisen zu einer Art Wiederauferstehung religiös-mystizistischen und idealistischen Gedankengutes. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Strömung war der Philosoph und Schriftsteller Wladimir Sergejewitsch Solowjow.

In seinen frühen Studentenjahren war der 1853 in Moskau als Sohn eines konservativen Historikers zur Welt gekommene Solowjow selbst noch ein Anhänger des von Ludwig Büchner und Jakob Moleschott vertretenen Vulgärmaterialismus gewesen. Doch spätestens Mitte der 70er Jahre verwandelte er sich in einen erklärten Gegner sowohl der materialistischen wie auch der positivistischen Philosophie, denen gegegnüber er eine Rückkehr zu Metaphysik und Religion vertrat. In der Folge entwickelte er ein eigenes, unter dem Namen Sophiologie bekanntes philosophisch-religiöses Denksystem.
Die Sophiologie war zuerst einmal ein Aufstand gegen die Aufklärung. Dementsprechend steht am Beginn von Solowjows Philosophie die Verdammung der Vernunft: 
Alles, was die abstrakte Vernunft geben kann, ist erprobt und hat sich als untauglich erwiesen; und die Vernunft selbst hat auf vernünftige Weise ihre Insolvenz bewiesen. Aber dieses Dunkel ist der Beginn des Lichtes; denn wenn der Mensch gezwungen ist zu sagen: Ich bin nichts - so sagt er eben damit: Gott ist alles. Und hier erkennt er Gott - nicht die kindliche Vorstellung aus früherer Zeit und nicht den abstrakten Begriff des Verstandes, sondern den wirklichen und lebendigen Gott. (2)    
Trotz gewisser liberaler Neigungen – so bat er Alexander III. 1881 um Gnade für die "Zarenmörder" – sah es Solowjow als seine vordringlichste Lebensaufgabe an, alle Formen des "Positivismus, Materialismus, Nihilismus" philosophisch zu zerschmettern Einem jungen Verwandten schrieb er: 
[B]eschäftige Dich nicht zu ausdauernd und um Gottes willen nicht mit Naturwissenschaften: Dieses Wissen ist in sich selbst ganz leer und voller Täuschung. Wert zu studieren ist an sich nur die menschliche Natur und das Leben ... (3)
Solowjows oft bekundete Überzeugung, dass die Naturwissenschaften bloß zu hohlen Scheinwahrheiten führten und deshalb ohne Bedeutung für das Heil der Menschheit seien, war keine "rein" philosophische Haltung. Nicht zufällig erhielt die von ihm begründete Strömung die volle Unterstützung der Regierung, und schon bald beherrschten seine "Schüler" beinah unangefochten die philosophischen Fakultäten des Zarenreiches. Als sie Anfang des 20. Jahrhunderts einen wütenden Feldzug gegen den Darwinismus eröffneten, war eines ihrer Argumente, dass die Evolutionslehre auf einem "naturwissenschaftlichen Materialismus" fuße und einen der ideologischen Grundpfeiler des Marxismus bilde. Sergej Bulgakow, der um die Jahrhundertwende aus dem sozialistischen Lager in die Arme des Mystiszismus floh, behauptete sogar, Karl Marx habe seinen historischen Materialismus nach dem Vorbild des darwin’schen "Kampf ums Überleben" entwickelt. (4)
Solowjows eigene Philosophie war ganz auf die Gestalt der göttlichen Weisheit – Sophia – ausgerichtet, die die gesamte Welt mit ihrer Kraft durchströme. Er selbst glaubte, mehrfach in seinem Leben Visionen der Allheiligen Sophia – seiner "ewigen Freundin" – empfangen zu haben. Ziel des Menschen müsse die Erkenntnis dieser Alleinheit sein:
Erst wenn wir zugeben, dass jeder wirkliche Mensch mit seinem tiefsten Wesen in der ewigen göttlichen Welt wurzelt, dass er nicht nur eine sichtbare Erscheinung ... darstellt, sondern ... ein notwendiges und unersetzliches Glied des absoluten Ganzen, erst dann ... können zwei große Wahrheiten vernünftigerweise zugegeben werden ..., die Wahrheit von der Freiheit [gemeint ist die Willensfreiheit] und die Wahrheit von der Unsterblichkeit des Menschen. (5)
Ähnlich wie die Vertreter der ungefähr zur selben Zeit sich entwickelnden Theosophie plünderte auch Solowjow hemmungslos die mythologischen und philosophischen Traditionen aller möglichen Völker und Kulturen, um sein eigenes Gedankengebäude mit illustren Namen auszuschmücken. So begegnet man in seinen Schriften u.a. der antiken Muttergöttin Kybele, der griechischen Aphrodite, der ägyptischen Isis, der weisen Wassilissa aus dem russischen Volksmärchen, dem chinesischen Tao, der indischen Prajna (Transzendente Weisheit) usw. usf. Und auch eine eindrucksvolle Ahnentafel der "Sophiologie" durfte natürlich nicht fehlen – zu ihr gehörten u.a.: Origines, Hildegard von Bingen, Paracelsus, Jakob Böhme, Emanuel Svedenborg, Franz Xaver von Baader, Goethe, Schelling etc. etc.
Doch der "russische Platon", wie ihn seine Bewunderer in maßloser Übertreibung nannten, beschränkte sich nicht allein auf eine persönliche Mystik, sondern entwarf darüberhinaus die Vision einer weltumspannenden "Theokratie", in der die Einheit Gottes und der Menschheit ihre Vollendung finden sollte. 
Nicht zufällig versuchte er diese religiös-politische Utopie als die wahre Erfüllung der Ideale der Französischen Revolution hinzustellen:
Die Vereinigung oder die Religion besteht darin, dass alle Elemente des menschlichen Seins, alle einzelnen Prinzipien und Kräfte der Menschheit in das richtige Verhältnis zum unbedingten zentralen Prinzip und durch dieses und in ihm zum richtigen und harmonischen Verhältnis gegeneinander gebracht werden. [...] Und so stellt sich von dieser Seite aus gesehen, das religiöse Prinzip als die einzige tatsächliche Verwirklichung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dar. (6)
Solowjow verstand sich selbst als eine Art Missionar, der die von den Ideen des Atheismus, Rationalismus und Sozialismus verführte russische Intelligenzija in den Schoß einer erneuerten Orthodoxie zurückführen sollte. Wie sein christliches Reich der "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" in Wirklichkeit ausgesehen hätte, lässt sich daran ablesen, dass er seine Verwirklichung lange Zeit von einer Verschmelzung des russischen Zarismus mit der katholischen Kirche erhoffte. Die beiden reaktionärsten Mächte des damaligen Europa als Doppelhaupt einer weltweiten "Gottesherrschaft" – ein schlimmeres Alptraumszenario hätte man sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts kaum ausdenken können.

Im Verlauf der 1890er Jahre, die in Russland durch einen nie dagewesenen industriellen Aufschwung, ein stetiges Anwachsen der Arbeiterbewegung und eine neuerliche Hinwendung vieler junger Intellektueller zur Revolution gekennzeichnet waren, bemächtigten sich Solowjows immer düsterere Vorahnungen. Er war überzeugt davon, die Welt stehe am Vorabend einer großen Zeitenwende und im Geiste vernahm er bereits den Hufschlag der apokalyptischen Reiter. Nicht mehr lange und der Antichrist werde auf Erden erscheinen. Solowjows theokratische Fantasien erhielten einen neuen Inhalt. Es ging nun nicht länger um eine Art Konkordat zwischen Winterpalais und Vatikan, sondern um das Sammeln einer kleinen Schar Standhafter, die der künftigen Tyrannei der Gottlosen trotzen und den Glauben an Christus und die Allheilige Sophia weitertragen würden.

Seine apokalyptischen Visionen legte er schließlich in der Kurzen Erzählung vom Antichrist nieder.
Liest man heute Solowjows bizarres Alterswerk, so ergeht es einem, wie dem Petersburger Publikum, welchem der Autor seine prophetischen Ergüsse im Frühjahr 1900 zum ersten Mal vortrug – man muss in schallendes Gelächter ausbrechen. Eine vergleichbare literarische Kuriosität ist mir bisher nur in der Gestalt von Karl Mays allegorischem Roman Ardistan und Dschinnistan begegnet. Doch dankenswerterweise ist Solowjows Erzählung im Unterschied zum may’schen Opus tatsächlich kurz.
Der Inhalt des Büchleins ist rasch erzählt: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterwerfen die Völker Asiens unter Führung eines japanisch-chinesischen Kaisers die Welt. Bei der Eroberung Frankreichs genießen sie die Unterstützung der Sozialisten: „In Paris brach ein Aufstand der Kommune aus, und freudig öffnete die Hauptstadt der westlichen Kultur ihre Tore dem Beherrscher des Ostens.
Fünfzig Jahre lang lastet das neue Mongolenjoch auf der "zivilisierten Menschheit", dann erhebt sie sich, befreit sich von der asiatischen Tyrannei und vereinigt sich in einem europäischen Staatenbund. Bald darauf betritt der "Übermensch" die Bühne, ein genialer Philosoph und Schriftsteller, zugleich jedoch der (Adoptiv)-Sohn Satans und der Antichrist. Er selbst glaubt eine Art zweiter Messias zu sein, der Christi Mission erfüllen und übertreffen werde. Sein Buch Offener Weg zum Weltfrieden und Wohlstand verschafft ihm allgemeines Ansehen. Auf Betreiben der Freimaurer wird er auf Lebenszeit zum Präsidenten der "Vereinigten Staaten von Europa" gewählt. Wenig später ruft man ihm zum Römischen Imperator und Weltkaiser aus. Er schafft allgemeinen Frieden und 
im Anschluss daran verkündete er jene einfache und umfassende Sozialreform, mit der er schon in seinem Buche alle bedeutenden und vernünftigen Köpfe gewonnen hatte. Dank der einheitlichen Verwaltung und Kontrolle der Weltfinanzen sowie eines gewaltigen Grundbesitzes konnte der Imperator diese Reform durchführen. Er befriedigte die Armen, ohne die Reichen allzu fühlbar zu treffen. Jeder erhielt seinen Anteil entsprechend den Fähigkeiten, die er durch Arbeit und Verdienst bewies. [...] Damit war die soziale und die wirtschaftliche Frage endgültig gelöst.
Dem Antichristen an die Seite stellt sich der Wundertäter Appollonius, der durch eine Synthese aus westlicher Naturwissenschaft und orientalischer Magie u.a. die Fähigkeit entwickelt hat, „die atmosphärische Elektrizität nach seinem Willen anzuziehen und zu lenken.
Zuguterletzt beruft der Weltkaiser ein allgemeines Konzil der christlichen Kirchen nach Jerusalem ein, auf dem sie sich unter seiner Leitung vereinigen sollen. Doch die Führer der drei großen Konfessionen – Papst Petrus II., der orthodoxe Starez Ioannes und der protestantische Professor Ernst Pauli – wenden sich gegen den Imperator und entlarven ihn als Antichrist. Daraufhin tötet Appollonius mit Hilfe seiner "elektrischen Wundermacht" die ersten beiden und Pauli verlässt mit einigen wenigen Getreuen Jerusalem. Auf den letzten drei Seiten überrschlagen sich die Ereignisse: Petrus und Ioannes stehen von den Toten auf, die Juden erheben sich gegen den Kaiser, dieser zieht eine gewaltige Streitmacht aus den Völkern Asiens zusammen – und der Jüngste Tag bricht an:
Unter dem Toten Meer, an dessen Ufern das Heer des Imperators Aufstellung genommen hatte, öffnete sich der Krater eines ungeheuren Vulkans. Glühende Lavafluten stiegen auf und flossen zu einem einzigen Flammenmeer zusammen. Es verschlang den Imperator, sein zahlloses Heer und auch seinen unzertrennlichen Begleiter, den Papst Appollonius, dem nun alle magischen Künste nicht mehr helfen konnten. Die Juden aber flohen nach Jerusalem und riefen in Furcht und Zittern den Gott Israels um Rettung an. Als die heilige Stadt schon vor ihren Blicken lag, spaltete ein gewaltiger Blitz den Himmel von Osten nach Westen. Sie sahen Christus. Bekleidet mit den Insignien der Allmacht, mit ausgebreiteten Händen, auf denen die Wundmale der Nägel leuchteten, schritt er auf sie zu. In dieser Zeit zog auch die Schar der Christen vom Sinai hinauf nach Zion, geführt von Petrus, Johannes und Paulus. Von allen Seiten strömten ihnen jauchzende Scharen zu: Das waren jene Juden und Christen, die der Antichrist hatte töten lassen. Sie waren auferstanden und herrschten mit Christus tausend Jahre.
Das interessante an dieser Erzählung ist, dass man ihre literarische Form als ein Spiegelbild des geistigen Inhalts der solowjow’schen Philosophie betrachten kann. Solowjow versucht, Fragen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in der mythologischen Bildersprache der Johannesapokalypse und der mittelalterlichen Überlieferung zu behandeln. Dabei prallen Elemente aufeinander, die sich beim besten Willen nicht zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen lassen. Der Antichrist wirkt einfach grotesk, wenn man ihn in eine Mischung aus Nietzsche, Nero und Sozialreformer verwandelt und dann auch noch zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Europa erklärt. Ebenso verkommt Satan zu einem traurigen Popanz, sobald er bei einer nächtlichen Unterhaltung mit seinem "geliebten Sohn" mit einer Stimme spricht, die so klingt, „als käme sie aus einer Sprechmaschine“. Die besondere Ironie besteht jedoch darin, dass es vor allem Solowjows Ehrlichkeit ist, die sein Werk zur Lächerlichkeit verdammt. Er meint es toternst mit seiner Erzählung und sieht in ihr die Aktualisierung einer göttlichen Offenbarung: „Die innere Bedeutung des Antichrist als des religiösen Usurpator, der durch 'Raub' und nicht durch eine geistige Tat die Würde des Sohnes Gottes erwirbt [...] - all das findet sich im Worte Gottes und in der ältesten Überlieferung.“ (7) Eben diese Ernsthaftigkeit und diese unbedingte Treue zum Bibelwort und der kirchlichen Tradition macht es ihm unmöglich, seiner Vision eine modernere Form zu geben. Und so muss der Antichrist eben nicht nur europäischer Präsident, sondern auch römischer Imperator sein, zugleich jedoch „den Tierschutzvereinen [...] seine besondere Förderung zuteil“ kommen lassen.
Solowjow will den Propheten spielen, doch er ist keiner. Also borgt er sich Sprache und Gewand des "Johannes von Patmos" und kleidet seine eigenen Gedanken in die Hülle eines zweitausend Jahre alten Textes. Damit macht er aber nicht nur sich selbst lächerlich, sondern entwürdigt auch jene "älteste Überlieferung", der er doch nachzueifern wünscht. Denn der namenlose Verfasser der Offenbarung des Johannes war insofern ein "echter" Prophet, als er den Gefühlen und Gedanken der Volksmassen seiner Zeit in den grausig-bizarren Bildern seiner Vision Ausdruck verlieh. Der glühende Hass der Unterdrückten auf Rom, die "große Hure Babylon", ihr Verlangen nach Rache, ihr Hoffen auf das Erscheinen des göttlichen Erlösers, der kommen werde, um die Könige der Erde und ihre Heerscharen zu vernichten, ihre Sehnsucht nach einem Tausendjährigen Reich des Friedens und der Gerechtigkeit – all dies spricht zu uns aus dem Text der Apokalypse und macht sie zu einer religiösen Dichtung von bezwingender poetischer Kraft. Nichts davon finden wir bei Solowjow. Seine "Offenbarung" ist nicht Ausdruck mächtiger sozialer Strömungen. In ihr vernehmen wir bloß das bange Stimmchen eines verängstigten Spießbürgers.

Solowjow spürte deutlich, dass er am Vorabend gewaltiger sozialer und politischer Konflikte lebte. Er fühlte, wie die Grundfesten der überkommenen Ordnung unter seinen Füßen ins Wanken gerieten, sah die moralische und intellektuelle Kraftlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft: „Ein Christentum ist nicht vorhanden, von Ideen ist soviel da, wie zur Zeit des trojanischen Krieges, nur waren es damals junge starke Helden, die gegen den Feind zogen, und heute sind es schwächliche Greise." (8) Auf seine Art erkannte er, dass der Liberalismus in den letzten Zügen lag, dass die europäische Bourgeoisie den Glauben an ihre eigene historische Mission verloren hatte: „Der fortschrittliche Gedanke der Gegenwart in Europa hat sein Ideal verloren, denn er glaubt nicht an den absoluten Sinn der Welt und folglich auch nicht an das absolute Ziel der Vollkommenheit. Diese innere Hohlheit des üblichen Begriffes der Fortschrittsidee erregte in Europa eine Enttäuschung über diese Idee selbst.“ (9) 
Nicht dass der "russische Platon" von der erhabenen Höhe seines Ideenhimmels aus die sehr materiellen Wurzeln dieses Prozesses hätte erkennen können. Wer persönlichen Umgang mit der Allheiligen Sophia pflegt, stellt sich keine Fragen über ökonomische oder soziale Entwicklungen. Die größte unmittelbare Bedrohung machte er deshalb auch nicht im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft selbst, sondern in den unendlichen Weiten Asiens aus. Die "barbarischen Horden" Chinas und der Mongolei seien dazu ausersehen, das Urteil an der kraftlos gewordenen europäischen Zivilisation zu vollstrecken. Ihr Triumph werde den Auftakt zur Endzeit bilden. Schon einige Jahre zuvor hatte er in seinem berühmten Gedicht Panmongolismus ein ähnliches Szenario entworfen. Es waren vor allem der japanisch-chinesische Krieg von 1894/95 und der sich damit immer deutlicher abzeichnende Aufstieg Japans zu einer imperialistischen Großmacht, die die Schreckensvision eines neuen Mongolensturms in ihm geweckt hatten.
Nur am Rande taucht in Solowjows Apokalypse der Aufstand der zweiten Pariser Kommune auf, mit dem sich die Sozialisten als bloße Helfershelfer der asiatischen Barbarei erweisen. Für seine geistigen Erben allerdings sollte gerade diese Verschmelzung von Revoluton und Mongolensturm eine zentrale Rolle spielen.

Solowjow war nicht in der Lage, der Gefahr, deren Heraufziehen er inspinktiv spürte, auch nur eine lebensfähige Idee entgegenzustellen. Seine eigene Philosophie war vielmehr selbst Ausdruck jener inneren Kraftlosgkeit der bürgerlichen Gesellschaft, die er so lautstark beklagte. Darum die haltlose Flucht in die mythologischen Gefilde eines untergegangenen Zeitalters. Die eigene Schwäche spürend suchte Solowjow verzweifelt nach einem sicheren Halt in der religiösen Überlieferung. Doch wie sollte sich dort eine Antwort auf die drohenden Herausforderungen des 20. Jahrhunderts finden lassen? Zumal er wie alle Anhänger des "neuen religiösen Bewusstseins" weder fähig noch willens war, seine europäische Bildung und den mit ihr verbundenen Skeptizismus hinter sich zu lassen. Eine Rückkehr zum naiven Glauben der Altvorderen war unmöglich, und Solowjow beteuerte immer wieder, er sei kein Konservativer, er wolle vielmehr dem in die Krise geratenen liberalen Fortschrittsgedanken mit seiner Sophiologie neues Leben einhauchen. Was dabei herauskam war ein wüster Mischmasch aus miteinander unvereinbaren Zutaten – ganz wie die Kurze Erzählung vom Antichrist. Denn worauf lief diese ganze Philosophie letztenendes hinaus? Solowjow verdammte in der Gestalt des Antichrist die aufklärerische Überzeugung, der Mensch könne kraft seiner Vernunft eine gerechte und friedliche Gesellschaftsordnung schaffen, und setzte an die Stelle des sozialen Fortschritts sein "ganzheitliches" Konzept der "Theokratie". Bei Lichte betrachtet bedeutete dies nichts anderes als: Vorwärts ins Mittelalter! – aber bitte ohne irgendwelche Unbequemlichkeiten; ohne Askese, Fasten und Selbstgeißelung; ohne Hexenhammer und Scheiterhaufen.



(1) S. J. Nadson: The People's Poet.
(2) Zit. nach: Andreas Martin: Alleinheit und Vielfalt, Einführung in Leben und Werk von Vladimir Solov'ev
(3) Zit. nach: Andreas Martin: Alleinheit und Vielfalt, Einführung in Leben und Werk von Vladimir Solov’ev.
(4) Vgl.: Alexander Vucinich: Darwin in RussianThought. S. 257-260.
(5) Wladimir Solowjow: Vorlesungen über das Gottmenschentum. Zit. nach: Tatjana Sytenko: EinigeGedanken über das Gottmenschentum.
(6) Zit. nach: Andreas Martin: Alleinheit und Vielfalt, Einführung in Leben und Werk von Vladimir Solov’ev.
(7) Wladimir Solowjow: Einleitung zu ‘Drei Gespräche über Krieg, Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte'.
(8) Vgl.: Fürst Sergius Trubetskoy: Der Tod W. Solovjeffs. Bd. 1. S. 346. Zit. nach: Harry Köhler: Vorwort zu Wladimir Solovjeffs ‘Die Grundlagen des geistigen Lebens’ (Teil 1)
(9) Zit. nach: Harry Köhler: Vorwort zu Wladimir Solovjeffs ‘Die Grundlagen des geistigen Lebens’ (Teil 1).

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