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Dienstag, 10. Mai 2016

Die Republik Gilead - Faschismus in Amerika?

Dass Margaret Atwoods dystopischer Klassiker The Handmaid's Tale zweieinhalb Jahrzehnte nach seiner Adaption durch Volker Schlöndorff & Harold Pinter erneut verfilmt werden soll -- diesmal als zehnteilige TV-Serie -- ist sicher sehr begrüßenswert, wirkt Atwoods Geschichte über die theokratisch-totalitäre Republik Gilead angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten doch erschreckend zeitgemäß.

Trotz vereinzelter Rückschläge, wie der landesweiten Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen durch den Obersten Gerichtshof im Juni 2015, ist der Einfluss christlich-fundamentalistischer Gruppen in den letzten Jahren eher gewachsen. Sie bilden die eigentliche Basis der Republikanischen Partei und initiieren immer aggressivere Attacken gegen die Rechte von Frauen, Homosexuellen, Transgenders u.s.w., derweil sich der "liberale" Flügel der US-Elite in der Verteidigung des demokratischen Grundprinzips der Trennung von Kirche und Staat oft als eher halbherzig und opportunistisch erweist. Als Beispiele seien bloß genannt: das Hobby Lobby - Urteil von 2014 und seine weitreichenden Implikationen; die von führenden Vertretern der Republikanischen Partei unterstützte Kampagne um Kim Davis, die die bigotte Standesbeamtin zu einer Märtyrerin der "Religionsfreiheit" hochzustilisieren versuchte; die in zahlreichen konservativ regierten Bundesstaaten wie North Dakota und Texas eingeführten Gesetze zur massiven Einschränkung des Rechts auf Abtreibung; die extrem aggressiv betriebene, auf grotesken Lügen und Verdrehungen basierende Kampagne gegen Planned Parenthood; die in mehreren Bundesstaaten lancierten transphoben "Bathroom Laws". Allein im März 2016 "three states have passed anti-LGBT discriminatory laws, while half a dozen have enacted new abortion restrictions, all part of the reactionary campaign for 'religious freedom.' The organization Human Rights Campaign estimates that nearly 200 bills they classify as anti-LGBT have been introduced in nearly three dozen states since the start of 2016 alone."
Zur selben Zeit erleben wir, wie sich in der herrschenden Elite der USA ein mehr und mehr offen faschistischer Flügel herauszubildem beginnt. Der am deutlichsten sichtbare Vertreter dieser Strömung ist selbstverständlich Donald Trump, doch vergessen wir nicht, dass sein stärkster Rivale im Vorwahlkampf mit Ted Cruz ein Repräsentant des extrem rechten Flügels der Republikanischen Partei war, der eine sehr viel engere Beziehung zu den christlichen Fundamentalisten unterhält als der demagogische Millionär. Trump ist bloß ein besonders exzentrisch anmutendes Beispiel für eine sehr viel umfassendere Entwicklung.

Vor diesem Hintergrund scheint eine erneute ernsthafte Beschäftigung mit The Handmaid's Tale wie gesagt äußerst begrüßenswert. Und wenn dies in Form einer {hoffentlich intelligenten} TV-Adaption geschieht, die das Potential besitzen würde, ein breites Publikum zu erreichen, um so besser. Allerdings besitzt Margaret Atwoods Roman meiner Ansicht nach auch einige signifikante Schwächen, die gerade im aktuellen politischen Kontext besonders deutlich hervortreten und sich mit ziemlicher Sicherheit auch in der kommenden Verfilmung wiederfinden werden. 

Die Republik Gilead ist letztenendes das Porträt eines genuin amerikanischen Faschismus. Dabei hat die kanadische Schriftstellerin sehr treffend die Rolle beschrieben, die der christliche Fundamentalismus in einem solchen Regime spielen würde. Worauf sie hingegen keine befriedigende Antwort zu haben scheint, ist, wie und warum eine solche Diktatur entstehen könnte. Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, spielt der durch Umweltverschmutzung und Epidemien ausgelöste drastische Rückgang der Geburtenrate eine zentrale Rolle für den Militärcoup, der zur ihrer Errichtung führt. In meinen Augen eine äußerst schwache Erklärung.

Als Margaret Atwood 1984 begann, The Handmaid's Tale zu schreiben, geschah dies ohne Frage in Reaktion auf die damaligen Entwicklungen in den USA. Unter der Führung von Leuten wie Pat Robertson und Jerry Falwell wuchs der christliche Fundamentalismus während der Reagan-Ära erstmals zu einer wirklich einflussreichen politischen Bewegung heran. Die Vorstellung, dass eines Tages auf dem Boden der Vereinigten Staaten eine theokratische Diktatur entstehen könnte, schien deshalb nicht so weit hergeholt. Doch was die Schriftstellerin offenbar nicht zu erkennen vermochte, war, dass der Aufstieg der christlich-fundamentalistischen Rechten Teil eines sehr viel größeren historischen Prozesses war. 
Auf den Niedergang der Massenbewegungen der 60er und frühen 70er Jahre folgte ein breit angelegter Gegenschlag der herrschenden Elite, durchgeführt an ökonomischer, sozialer, politischer und ideologisch-kultureller Front. Dieser begann bereits unter Jimmy Carter, gelangte zu seiner vollen Entfaltung aber erst unter Ronald Reagan. Beginnend mit der Niederschlagung des PATCO-Streiks von 1981 machte sich die Elite daran, der amerikanischen Arbeiterbewegung ein für alle Mal das Rückgrat zu brechen, wobei ihr die opportunistische Politik der Gewerkschaftsbürokratien unschätzbare Hilfe leistete. Die seit dem "Volcker-Schock" von 1979 bewusst vorangetriebene Deindistrualisierung führte zum immer rascheren Niedergang der traditionellen Kernindustrien der USA und damit verbunden zu wachsendem wirtschaftlichem und sozialem Elend. Derweil ebneten die Steuerpolitik der Reagan-Administration und die Deregulierung der Finanzmärkte immer wüsteren Bereicherungsorgien an der Spitze der Gesellschaft und dem raschen Heranwachsen einer auf Spekulationsgeschäften und wirtschaftlichem Parasitismus basierenden Oligarchie die Bahn. Parallel dazu wurde die Bevölkerung im Zuge von Reagans "zweitem Kalten Krieg" mit einer unablässigen Flut von antikommunistischer Propaganda und Lobeshymnen auf die Tugenden des freien Marktes überschüttet.
Kurz gesagt: Die herrschende Elite eröffnete in den 80er Jahren einen offenen Klassenkrieg gegen die arbeitende Bevölkerung. Einen Krieg, den sie in den letzten dreißig Jahren unvermindert fortgesetzt hat und der unter den Verhältnissen einer internationalen Krise des kapitalistischen Systems nun dabei ist, in eine neue, noch sehr viel brutalere Phase einzutreten.

Nur im Kontext dieser historischen Entwicklungen lässt sich meiner Ansicht nach der Aufstieg der christlich-fundamentalistischen Rechten verstehen. Und nur sie bieten eine Erklärung für die wachsende faschistische Bedrohung in den USA. Indem sie mit Hilfe der religiösen Fanatiker Hass und Vorurteile schürt und die rückständigsten Teile der Bevölkerung mobilisiert, züchtet die herrschende Elite das Fußvolk für eine künftige Diktatur heran, deren Errichtung dann auf die Agenda gesetzt werden wird, wenn ihre Ziele sich endgültig nicht länger im Rahmen eines formal demokratischen Regimes durchsetzenn lassen. Und dieser Zeitpunkt ist meiner Meinung nach nicht mehr so weit entfernt, wie man vielleicht glauben möchte.

The Handmaid's Tale zeichnet ein recht überzeugendes Bild der äußeren Formen eines faschistischen Regimes in den USA, hat aber wenig erhellendes über die historischen Wurzeln und den sozialen Inhalt, welche ein solches besitzen würde, zu sagen. 
Meine Empfehlung wäre es dehalb, neben Margaret Atwoods Roman außerdem Jack Londons dystopischen Klassiker The Iron Heel zu lesen. Zusammengenommen vermitteln die beiden Bücher meiner Meinung nach ein ziemlich realistisches Bild. {Ein kurzer Blick in It Can't Happen Here von Sinclair Lewis kann natürlich auch nicht schaden.}

3 Kommentare:

  1. Insgesamt nachvollziehbar, nur die Erwähnung Carters wundert mich. Meinst du das nur als Zeitangabe, oder ist mir bei seiner Administration etwas entgangen?

    Ich habe beim Frühstück extra noch mal den Beitrag zu Carter in Heideking/Mauch DIE AMERIKANISCHEN PRÄSIDENTEN gelesen, aber da auch nichts gefunden, was seine Einreihung begründen könnte ...

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  2. Ein paar Beispiele, um zu illustrieren, warum ich denke, dass der "Gegenschlag" unter Jimmy Carter begonnen hat:

    1978 versuchte Carter den 111tägigen "Bituminous coal strike" mit Hilfe des Taft-Hartley-Acts zu unterdrücken, scheiterte aber am Widerstand der Bergarbeiter, die sich ganz einfach weigerten, an die Arbeit zurückzukehren.

    1979 nutzte die Carter-Regierung dann den drohenden Bankrott von Chrysler dazu, Lohnkürzungen und andere Konzessionen im Gesamtumfang von $462,5 Mio als "Gegenleistung" für die "Rettung" ("Bailout") des Unternehmens durch einen staatlichen Kredit zu erzwingen.

    Im selben Jahr ernannte Carter Paul Volcker zum Chef des FED. Dieser erhöhte drastisch die Leitzinsen (zeitweilig auf über 20%). Der "Volcker-Schock" führte zum Bankrott vieler Unternehmen, die nicht "wettbewerbsfähig" waren, und zu steigender Arbeitslosigkeit. Er war der Beginn der Deindustrialisierung. Zugleich erwies er sich als eine probate Methode, die Welle von Massenstreiks zu beenden.

    Gegen Ende von Carters Amtszeit bereitete sich seine Administration intensiv auf eine Konfrontation mit der Fluglotsengewerkschaft PATCO vor und entwickelte dabei einen Gutteil der Methoden, die Reagan dann gegen die streikenden Arbeiter einsetzen würde.

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