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Samstag, 2. Januar 2016

Der Hort und sein Fluch


Wo es [das Schöpfungsverlangen] nicht verderbt ist, 
strebt es nicht nach Trug, Herrschaft und Behexung: 
Nach gemeinsamen Reichtum sucht es, nach Gefährten 
beim Schaffen und Genießen, nicht nach Sklaven.

J.R.R. Tolkien, Über Märchen


Ich sehe in J.R.R. Tolkien nicht allein einen der großen Gründerväter der modernen Fantasy, sondern zugleich einen der letzten bedeutenden Vertreter einer auf die Englische Romantik zurückgehendenTradition, die ich als "romantischen Antikapitalismus" bezeichnen würde. Vor bald zweieinhalb Jahren habe ich einmal eine Artikelserie (hier * hier * hier) begonnen, die diesem Thema gewidmet sein sollte, die ich jedoch leider nie zu Ende geführt habe. Ich kann nicht versprechen, dass ich das je tun werde. Vor allem, da ich dazu erst einmal meine Bekanntschaft mit William Morris und seinem Werk auf umfassende Weise auffrischen müsste. Was ich sehr gerne tun würde, doch wer weiß, wann ich die Muße dazu finde. Darum veröffentliche ich jetzt einfach einen Text, der eigentlich zum abschließenden Teil der Artikelserie hätte gehören sollen.

Kurioserweise zeigt sich der antibürgerliche Charakter von Tolkiens Werk vielleicht am deutlichsten im Hobbit. Es ist schon irgendwie merkwürdig, aber offenbar war der "Professor" bei einem Kinderbuch sehr viel weniger zurückhaltend, wenn es darum ging, seinen sozialen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen.

Ziel der abenteuerlichen Fahrt, an der Bilbo teilnimmt, ist bekanntlich die Zurückeroberung eines Schatzes. Das Motiv des Drachenhortes gemahnt an die germanischen Heldenepen – an den zweiten Teil des Beowulf, vor allem aber an die Nibelungensage –, und wenn die "unvorhergesehene Gesellschaft" der Zwerge, nachdem sie die Speisekammer des armen Hobbits geplündert hat, ihre Musikinstrumente auspackt und das Lied über ihr "lang vergessenes Gold" anstimmt, wirkt dies, als öffne sich auf einmal eine Tür und gebe den Blick frei auf eine weite, nebelverhangene Landschaft von archaischer Schönheit und epischer Strenge, die sich hinter der bieder-witzigen Fassade des Eröffnungsszenarios verbirgt.
 
Far over the misty mountains cold
To dungeons deep and caverns old
We must away ere break of day
To seek the pale enchanted gold.
The dwarves of yore made mighty spells,
While hammers fell like ringing bells
In places deep, where dark things sleep,
In hollow halls beneath the fells.
For ancient king and elvish lord
There many a gloaming golden hoard
They shaped and wrought, and light they caught
To hide in gems on hilt of sword.
On silver necklaces they strung
The flowering stars, on crowns they hung
The dragon-fire, in twisted wire
They meshed the light of moon and sun.
Far over the misty mountains cold
To dungeons deep and caverns old
We must away, ere break of day,
To claim our long-forgotten gold.

 
An dieser Stelle deutet sich zum ersten Mal an, dass der Hobbit mehr ist als ein für den heutigen Geschmack vielleicht etwas albernes Kinderbuch.
In der zweiten Hälfte der Erzählung erhält das Hortmotiv dann allerdings noch eine ganz andere Bedeutung. Der Hobbit wird zu einer Geschichte über die Gier nach Reichtum und ihre Folgen
Auch dieses Thema war den alten Germanen nicht völlig unbekannt. So ist es in der ursprünglichen Fassung der Nibelungensage, wie sie uns im Altnordischen überliefert ist, Atlis/Etzels Gier nach dem Hort, die den tragischen Untergang der Gjukungen am Hof des Hunnenkönigs herbeiführt. Und selbst in der um 1200 entstandenen mittelhochdeutschen Version scheint dieses Motiv ganz am Ende wieder auf: Wenn in der letzten "Aventiure" des Nibelungenlieds der von Dietrich von Bern bezwungene Hagen vor Kriemhild geführt wird, geht es dieser nämlich auf einmal nicht mehr um Rache für Siegfried, sondern bloß noch um das von ihrem großen Widersacher im Rhein versenkte Gold: „welt ir mir geben widere, daz ir mir habt genomen,/ sô muget ir noch wol lebende heim zen Burgonden komen.“ – ‘Wenn ihr mir das zurückgebt, was ihr mir genommen habt, so wird’s euch wohl noch möglich sein, lebendig heim ins Burgunderland zu gelangen.' (1)
Doch anders als in den alten Heldensagen geht es im Hobbit in erster Linie um die moralisch verheerende Wirkung des Reichtums auf ursprünglich edle Charaktere. Nachdem er in den Besitz des Drachenhortes gelangt ist, zeigt sich Thorin Eichenschild eher gewillt, einen Krieg vom Zaun zu brechen, als auch nur "ein Gran seines Goldes" abzugeben, denn „[t]ief hatte sich die Begierde in ihm festgefressen.“ Wie Bilbo dem Elbenkönig erzählt, dessen Heer zusammen mit Bards Männern den Einsamen Berg belagert: „Er ist bereit, auf seinem Goldhaufen sitzen zu bleiben und zu verhungern, wenn ihr nicht abzieht.“ Als Thorin den "Verrat" des Hobbits ent-deckt, der, um ein Blutvergießen zu verhindern, das Arkenjuwel "gestohlen" und den Belagerern übergeben hat, wird der zornerfüllte Zwergenkönig nur durch das Eingreifen Gandalfs davon abgehalten, Bilbo zu erschlagen. Aber auch der scheinbar so edle Elbenherrscher ist nicht gefeit gegen den unheilvollen Einfluss des Goldes. Schließlich war es „die Sage von dem märchenhaften Reichtum Thrors“, die ihn sein Heer in Marsch setzen ließ, nachdem er von Smaugs Tod erfahren hatte. Auch ihn verlangt es also nach dem Schatz und nicht bloß nach "Gerechtigkeit".
Für sich allein genommen besäße solch eine Kritik an der Gier nach Reichtum natürlich nichts antibürgerliches. Schließlich war schon für das mittelalterliche Christentum Habgier/Geiz ("Avaricia") eine der sieben Todsünden. Erst die Figur des Meisters von Seestadt verdeutlicht uns, in welchem Kontext wir den Hobbit zu lesen haben.
Esgaroth auf dem Langen See ist das einzige wirklich "republikanische" Gemeinwesen, das wir in Mittelerde kennenlernen. Im Unterschied zur bäuerlichen Eidgenossenschaft des Auenlandes handelt es sich um eine auf Handel basierende Kommune. Den Meister von Seestadt zeichnet Tolkien dann auch nicht zufällig als eine Karrikatur des bürgerlichen Politikers: verlogen, geldgierig, feige und demagogisch. Als Smaug die Stadt angreift, flüchtet er ohne zu Zögern „zu seinem großen, vergoldeten Boot und hoffte, in der allgemeinen Verwirrung davonrudern und sich in Sicherheit bringen zu können.“ Mit Bard dem Bogenschützen wird ihm der aufrechte Vertreter des Adels entgegengestellt: „Einer seiner Vorfahren war Girion, Fürst von Dal“. Nach dem Tod des Drachen und der Vernichtung Seestadts macht sich der Unmut der Bevölkerung in deutlichen Worten Luft: „Er [der Meister] mag einen gescheiten Kopf haben, was Geschäfte angeht, besonders für seine eigenen. [...] Aber wenn es ernst wird, dann ist kein Verlaß auf ihn.“ Stattdessen wollen sie den Drachentöter zu ihrem König machen. Der Meister ist der einzige, der das republikanische gegen das monarchische Prinzip zu verteidigen versucht: „In der Seestadt wählten wir von jeher unter den Alten und Weisen einen Meister aus. Nie haben wir die Herrschaft kriegerischer Männer geduldet.“ [„In the Lake-town we have always elected masters from among the old and wise, and have not endured the rule of mere fighting men.“] Er tut dies selbstverständlich aus völlig eigennützigen Motiven, und die einfachen Leute durchschauen ihn. Sie haben genug von "Geldzählern" und Pfeffersäcken: „Up the Bowman, and down with Money-bags“! Woraufhin der Meister sein demagogisches Geschick unter Beweis stellt, indem er zuerst Bard mit heuchlerischem Lob überschüttet und der aufgebrachten Menge anschließend einen probaten Sündenbock präsentiert: Thorin und seine Zwerge, die Smaug doch überhaupt erst aufgescheucht und in Wut versetzt hätten. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass Tolkiens feudale Romantik nicht nur antibürgerlich, sondern auch antidemokratisch ist, denn das Volk erweist sich augenblicklich als leicht zu manipulierender Pöbel: „Der Erfolg seiner Rede war, daß das Volk seinen Wunsch nach einem neuen König für den Augenblick völlig vergaß und Thorin und seine Gesellschaft zur Zielscheibe ihres Ärgers machte. Ungezügelte, bittere Worte wurden laut. Einige von denen, die damals die alten Lieder [über die Rückkehr des Königs unter dem Berg und den damit verbundenen Segen] gesungen hatten, schrien sich jetzt heiser, daß die Zwerge den Drachen vorsätzlich gegen sie aufgestachelt hätten.“ 
Einzig Bard zeigt sich ruhig, gerecht und mitfühlend. Und so kommt es zwar nicht zum Sturz des Meisters, doch in Wirklichkeit übt der Bogenschütze in der folgenden Krisenzeit die uneingeschränkte Gewalt über das Gemeinwesen aus: „Er ordnete alle Angelegenheiten, wie er es für gut hielt (jedoch stets im Namen des Meisters).“ Und natürlich erweist er sich als kluger und umsichtiger Führer, während der Meister weiterhin nur an sein eigenes Wohlergehen und seine Bequemlichkeit denkt. Dass Bard das aristokratische Prinzip verkörpern soll, zeigt sich nicht nur an seiner adeligen Herkunft, sondern auch in der Art, wie Tolkien ihn beschreibt. Er verleiht ihm die Züge eines klassischen Heroen, "grimmig und stolz": die beiden Epitheta werden im Laufe der Erzählung immer wieder auf ihn angewandt, und schon bei seinem ersten Auftreten heisst es, er sei „grim-voiced and grim-faced“ gewesen. Vögel sprechen mit ihm, wie weiland mit dem berühmtesten germanischen Drachentöter, Sigurd dem Wälsungen. Und wenn Bard sich dazu entschließt, gegen Thorin und die Zwerge zu ziehen, so weniger aus nackter Gier (obwohl auch er nicht gegen den verführerischen Reiz des Hortes gefeit ist), sondern weil er von „der wiederaufgebaute[n] Stadt Dal, über der goldene Glocken klingen sollen“ träumt, d.h. vom wiedergewonnenen Ruhm seiner Sippe. 
Ein besonders vielsagendes Detail findet sich im vorletzten Kapitel des Buches. Als Dain Eisenfuß nach der Schlacht der Fünf Heere Teile des Schatzes an alle beteiligten Parteien verteilt, heisst es von Bard: „[A]nd he rewarded his followers and friends freely“. Meine Kenntnis der alt- und mittelenglischen Literatur ist leider eher bescheiden, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Tolkien mit "followers and friends" etwas ähnliches ausdrücken wollte wie die mittelhochdeutschen Dichter mit "mâge unde man". Gemeint ist der Feudalverband aus Verwandten bzw. gleichgestellten Verbündeten ["friends"/"mâge"] und Vasallen ["followers"/"man"]. Dafür spricht meines Erachtens vor allem die Alliteration, die der Formulierung etwas formelhaftes verleiht. Tolkien besaß ein großes Feingefühl für solche sprachlichen Details. Bard praktiziert hier die feudale Tugend der Freigebigkeit, wie sie alle wahren Helden und guten Könige der mittelalterlichen Literatur auszeichnet, und deren soziale Funktion der Dichter des Beowulf ganz ungeniert wie folgt beschrieben hat: „Swá sceal geong guma góde gewycrean/ fromum feohgiftum on fæder bearme/ þæt hine on ylde eft gewunigen/ wilgesíþas þonne wíg cume/ léode gelaésten“ – ‘So schenkte in jungen Jahren der Sohn/ vom Hort freigebig im Haus seines Vaters,/ dass willig im Alter ihm wiederum halfen/ die kühnen Kämpen, wenn Krieg entbrannte,/ und mutig ihm folgten’. (2)
Der Meister hingegen verfügt selbstverständlich nicht über diese löbliche Eigenschaft und endet dementsprechend: „[D]a er zu denen gehörte, die leicht solchen Sünden verfallen, hatte die Drachenkrankheit ihn angesteckt. Er nahm den größten Teil des Goldes und floh – und verhungerte in der Einöde, verlassen von seinen Spießgesellen.“ (3)
Dass dennoch nicht Bard, sondern Bilbo der wahre Held des Hobbit ist, zeigt einmal mehr, dass Mitgefühl und schlichte Menschlichkeit für Tolkien über dem "heroischen" Ideal stehen.
Der Ausdruck "Drachenkrankheit" könnte vielleicht den Eindruck erwecken, als hafte Smaugs Gold eine Art unheilvoller Zauber an, ist aber offenbar nur als metaphorische Umschreibung für Habgier gedacht. Das ist insofern von Bedeutung, als das Motiv des verfluchten Drachenhortes in der germanischen Heldensage weitver-breitet war. Sowohl auf dem Schatz des Drachen im Beowulf als auch auf dem Nibelungenhort lastet ein solcher Fluch. Das Unglück, das die späteren Besitzer des Goldes ereilt, besitzt darum einen stark schicksalhaften Charakter, weshalb man z.B. die altnordische Erzählung vom Untergang der Gjukungen auch nur schwer als eine Warnung vor den Folgen der Gier lesen kann. Wenn hingegen Tolkien sich des Hortmotivs bedient, so verleiht er diesem stets eine deutlich moralische Dimension. Das interessanteste Beispiel dafür findet sich nicht im Hobbit, sondern in der Gedichtsammlung The Adventures of Tom Bombadil:

Nicht allein aufgrund der archaischen Versform scheint The Hoard der altgermanischen Dichtung besonders nahe zu stehen. Aber obwohl das Gedicht tatsächlich von einem Vers aus dem Beowulf inspiriert wurde, (4) trügt der Schein.
 
When the moon was new and the sun young
of silver and gold the gods sung:
in the green grass they silver spilled,
and the white waters they with gold filled.
Ere the pit was dug or Hell yawned,
ere dwarf was bred or dragon spawned,
there were Elves of old, and strong spells
under green hills in hollow dells
they sang as they wrought many fair things,
and the bright crowns of the Elf-kings.
But their doom fell, and their song waned,
by iron hewn and by steel chained.
Greed that sang not, nor with mouth smiled,
in dark holes their wealth piled,
graven silver and carven gold:
over Elvenhome the shadow rolled.
There was an old dwarf in a dark cave,
to silver and gold his fingers clave;
with hammer and tongs and anvil-stone
he worked his hands to the hard bone.
and coins he made, and strings of rings,
and thought to buy the power of kings.
But his eyes grew dim and his ears dull
and the skin yellow on his old skull;
through his bony claw with a pale sheen
the stony jewels slipped unseen.
No feet he heard, though the earth quaked.
when the young dragon his thirst slaked.
and the stream smoked at his dark door.
The flames hissed on the dank floor,
and he died alone in the red fire;
his bones were ashes in the hot mire.
There was an old dragon under grey stone;
his red eyes blinked as he lay alone.
His joy was dead and his youth spent,
he was knobbed and wrinkled, and his limbs bent
in the long years to his gold chained;
in his heart's furnace the fire waned.
To his belly's slime gems stuck thick,
silver and gold he would snuff and lick:
he knew the place of the least ring
beneath the shadow of his black wing.
Of thieves he thought on his hard bed,
and dreamed that on their flesh he fed,
their bones crushed, and their blood drank:
his ears drooped and his breath sank.
Mail-rings rang. He heard them not.
A voice echoed in his deep grot:
a young warrior with a bright sword
called him forth to defend his hoard.
His teeth were knives, and of horn his hide,
but iron tore him, and his flame died.
There was an old king on a high throne:
his white beard lay on knees of bone;
his mouth savoured neither meat nor drink,
nor his ears song; he could only think
of his huge chest with carven lid
where pale gems and gold lay hid
in secret treasury in the dark ground;
its strong doors were iron-bound.
The swords of his thanes were dull with rust,
his glory fallen, his rule unjust,
his halls hollow, and his bowers cold,
but king he was of elvish gold.
He heard not the horns in the mountain-pass,
he smelt not the blood on the trodden grass,
but his halls were burned, his kingdom lost;
in a cold pit his bones were tossed.
There is an old hoard in a dark rock,
forgotten behind doors none can unlock;
that grim gate no man can pass.
On the mound grows the green grass;
there sheep feed and the larks soar,
and the wind blows from the sea-shore.
The old hoard the Night shall keep,
while earth waits and the Elves sleep. (5)

Wenn wir die Reihe der unglückseligen Besitzer des Schatzes überblicken, so mag uns das an die altnordische Erzählung vom fluchbeladenen Nibelungenhort erinnern, der nacheinander Hreidmar, Fafnir, Sigurd, die Gjukungen und Atli ins Verderben stürzt. Tatsächlich aber ist nirgends von einem Fluch die Rede, der über dem Gold liegen würde. Die elbischen Schöpfer des Geschmeides waren zwar der Magie kundig, aber nichts spricht dafür, dass sie einen Zauber in das Gold gewoben hätten, in dem der Grund für das üble Schicksal von Zwerg, Drache und König zu suchen wäre. Erst nachdem die Elben der Gewalt von Eisen und Stahl hatten weichen müssen, und „greed that sang not, nor with mouth smiled,/ in dark holes their wealth piled“, erhielt der Schatz einen unheilvollen Charakter. Seinen späteren Besitzern wird kein Fluch, sondern die ausschließliche Fixierung auf ihren Reichtum zum Verhängnis. Allerdings hatte dieser bereits lange zuvor ihr Leben zerstört, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst gewesen wären. Das Greisenhafte und Gebrechliche aller drei Besitzer ist dafür ein äußerliches Symbol. Tolkien entwickelt in The Hoard einen Gedanken, der von zentraler Bedeutung für sein gesamtes künstlerisches Werk ist. Er zeigt, wie Schönheit und Kunst durch das Besitzdenken pervertiert werden, und wie dasselbe Denken auch dem gesamten menschlichen Leben seinen wahren Wert nimmt. Als die Elben ihre Geschmeide schufen, taten sie dies offenbar aus unverfälschter Freude an der Schönheit und an ihrer eigenen Schöpferkraft, was sich darin zeigt, dass sie während ihrer Arbeit sangen. Damit vollzogen sie in gewisser Weise den göttlichen Schöpfungsakt nach, denn die Götter hatten von Gold und Silber ‘gesungen’, während sie diese erschufen – eine deutliche Parallele zur ‘Musik der Ainur’ im Silmarillion (6), und zugleich ein Hinweis auf Tolkiens Idee vom "Nebenschöpfertum" ("subcreation"). (7) Dann aber zerstörten Gewalt und Gier, die weder ‘singen’ noch ‘lächeln’, den paradiesischen Urzustand. Der von Habgier beherrschte Mensch will die Schönheit für sich allein besitzen, dies aber führt unweigerlich dazu, dass er sich nicht mehr wirklich an ihr erfreuen kann. Der Zwerg ist zwar noch schöpferisch tätig, aber er denkt dabei ausschließlich an die Macht, die der Reichtum ihm verschaffen soll: „coins he made, and strings of rings, and thought to buy the power of kings.“ Drache und König sind ausschließlich Besitzende. Ersterer kennt zwar den Platz des kleinsten Ringes, der an seinem Körper klebt, aber „[h]is joy was dead and his youth spent [...] in the long years to his gold chained“. Ebenso ist der König zwar stolz darauf, Herr des Elbenhortes zu sein, aber Essen, Trinken und Gesang – d.h. das Leben – bergen keine Freude mehr für ihn. Da er außerdem als Herrscher für sein Reich und seine Untertanen verantwortlich ist, zerstört die Gier nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das der von ihm Abhängigen: „The swords of his thanes were dull with rust,/ his glory fallen, his rule unjust,/ his halls hollow, and his bowers cold“.

The Hoard ist in meinen Augen eine der eindrucksvollsten Äußerungen von Tolkiens romantischem Antikapitalismus und erinnert nicht zufällig an einige Szenen aus Richard Wagners Das Rheingold. Und dass nicht nur, weil der Zwerg, der mit seinem Gold "die Macht von Königen" kaufen will, an Alberich und seine Allmachtsfantasien denken lässt. Wie das Geschmeide der Elben ist auch das Rheingold zu Beginn "unschuldig" in seiner Schönheit. Die Rheintöchter erfreuen sich an seinem Glanz, ohne dass sie je auf den Gedanken verfallen würden, es "in Besitz zu nehmen". Erst als der Zwergenkönig sich seiner bemächtigt und den Ring aus ihm schmiedet, wird es zu einer unheilbringenden Macht.

Tolkien mit Wagner zu vergleichen, scheint bei vielen Tolkienisten verpönt zu sein. Frank Weinreich etwa schreibt im Zusammenhang mit dem gegen Tolkien erhobenen Faschismusvorwurf:
Der HdR ist immer wieder mit Wagners ‘Ring der Nibelungen’ [sic] verglichen worden. Tolkien mochte Wagner nicht und er mochte explizit die Götterdämmerung nicht und einmal soll er aufgebracht gesagt haben: ‘Beide Ringe sind rund - und damit enden die Gemeinsamkeiten!’ 
An anderer Stelle heißt es bei ihm: 
Saurons Ring und der der Nibelungen haben nichts miteinander zu tun? Haben Sie auch nicht, jedenfalls nicht in dem Sinn wie die Leute es meinten, die damals diese Frage an Tolkien richteten. Die wollten Parallelen zu Wagner und dem deutschen Nationalismus aufweisen und Tolkien - wie so oft - in die arische Ecke stellen.
Ich finde es ehrlich gesagt etwas traurig, wenn ein Autor, der jede "politisch motivierte" Kritik an seinem eigenen literarischen Idol für illegitim hält, scheinbar kein Problem damit hat, Richard Wagner ganz selbstverständlich zu einem Nazi vor Hitler abzustempeln. Meiner Meinung nach erweist sich jeder, der den großen Komponisten auf seine widerliche antisemitische Hetzschrift Das Judenthum in der Musik oder die nationalistischen Ausfälle gegen „wälschen Dunst mit wälschem Tand“ und das völkische „Was deutsch und ächt, wüßt’ Keiner mehr,/ lebt’s nicht in deutscher Meister Ehr’“ (8) aus dem Finale der Meistersinger zu reduzieren versucht, als fürchterlich borniert.
Tatsache ist freilich, dass Tolkien für den Ring des Nibelungen in der Tat nichts übrig hatte. Vermutlich behagte ihm die allegorische Umdeutung des alten Stoffes nicht. Vielleicht war auch einfach Wagners Musik nicht nach seinem Geschmack. Allerdings bezieht sich das von Weinreich angeführte Zitat überhaupt nicht auf den wagnerschen Ring, sondern auf das Vorwort Åke Ohlmarks zur schwedischen Ausgabe des Herr der Ringe, in der dieser Tolkiens Ring mit dem Ring aus der altnordischen Nibelungenüberlieferung identifiziert hatte. (9)
Doch sei’s drum, der Vergleich mit Wagner ist in meinen Augen dennoch angebracht. Und mit Germanentümelei hat das überhaupt nichts zu tun. Sowohl Tolkiens Roman als auch Wagners gewaltige Operntetralogie sind geboren aus dem Hass auf die moderne kapitalistische Gesellschaft – auf eine „Industrie, die den Menschen tödtet, um ihn als Maschine zu verwenden“, auf einen Staat, „der den Menschen ehrlos erklärt, um ihn als Unterthan wieder zu Gnaden anzunehmen“. (10)
Alberichs Ring verkörpert, wie Bernard Shaw als erster ganz richtig erkannt hat (11), die weltbeherrschende Macht des Kapitals: „Niblungen all,/ neigt euch nun Alberich!/ Überall weilt er nun,/ euch zu bewachen;/ Ruh und Rast/ ist euch zerronnen;/ ihm müßt ihr schaffen,/ wo nicht ihr ihn schaut;/ wo nicht ihr ihn gewahrt,/ seid seiner gewärtig:/ untertan seit ihr ihm immer! Im Nibelungen-Motiv des Rheingolds findet das rastlose Schaffen und Zusammenraffen einer auf unendlicher Akkumulation basierenden Gesellschaftsordnung seinen faszinierenden musikalischen Ausdruck.

{ungefähr ab 2:00)

Wie der arme Mime klagt: „Sorglose Schmiede,/ schufen wir sonst wohl/ Schmuck unsern Weibern,/ wonnig Geschmeid,/ niedlichen Niblungentand,/ wir lachten lustig der Müh./ Nun zwingt uns der Schlimme,/ in Klüfte zu schlüpfen,/ für ihn allein/ uns immer zu mühn./ Durch des Ringes Gold/ errät seine Gier,/ wo neuer Schimmer/ in Schachten sich birgt:/ da müssen wir spähen,/ spüren und graben,/ die Beute schmelzen/ und schmieden den Guß,/ ohne Ruh und Rast/ dem Herrn zu häufen den Hort.“ (12)
In seiner Schrift über Das Kunstwerk der Zukunft hat Wagner diesen Zwang zur unendlichen Akkumulation, der dem kapitalistischen Wirtschaftssystem innewohnt, in verschwommener und moralisierender, von feuerbachschen Vokabeln durchsetzter Ausdrucksweise als "Luxus" beschrieben:
Der Luxus ist ebenso herzlos, unmenschlich, unersättlich und egoistisch, als das Bedürfniß, welches ihn hervorruft, das er aber, bei aller Steigerung und Überbietung seines Wesens nie zu stillen vermag, weil das Bedürfniß eben selbst kein natürliches, deßhalb zu befriedigendes ist, und zwar aus dem Grunde, weil es als ein unwahres, auch keinen wahren, wesenhaften Gegensatz hat, in dem es aufgehen, sich also vernichten, befriedigen könnte. Der wirkliche, sinnliche Hunger hat seinen natürlichen Gegensatz, die Sättigung, in welchem er – durch die Speisung – aufgeht: das unnöthige Bedürfniß, das Bedürfniß nach Luxus, ist aber schon bereits Luxus, Überfluß selbst; der Irrthum in ihm kann daher nie in die Wahrheit aufgehen: es martert, verzehrt, brennt und peinigt stets ungestillt, läßt Geist, Herz und Sinne vergebens schmachten, verschlingt alle Luft, Heiterkeit und Freude des Lebens; verpraßt um eines einzigen, und dennoch unerreichbaren Augenblickes der Erlabung willen, dieThätigkeit und Lebenskraft Tausender von Nothleidenden; lebt vom ungestillten Hunger abermals Tausender von Armen, ohne seinen eigenen Hunger nur einen Augenblick sättigen zu können; er hält eine ganze Welt in eisernen Ketten des Despotismus, ohne nur einen Augenblick die goldenen Ketten jenes Tyrannen brechen zu können, der es sich eben selbst ist.Und dieser Teufel, dieß wahnsinnige Bedürfniß ohne Bedürfniß, dieß Bedürfniß des Bedürfnisses, - dieß Bedürfniß des Luxus, welches der Luxus selbst ist, – regiert die Welt. (13)
In prahlerischer Rede entwirft Alberich im Rheingold die Vision einer Welt, in der alles Schöne und Edle dem Reichtum untertan sein wird: „Die in linder Lüfte Wehn/ da oben ihr lebt,/ lacht und liebt:/ mit goldner Faust/ euch Göttliche fang ich mir alle!/ Wie ich der Liebe abgesagt,/ alles, was lebt,/ soll ihr entsagen!/ Mit Golde gekirrt,/ nach Gold nur sollt ihr noch gieren.“ (14)
Das Zwergenreich Nibelheim – erfüllt von der Hammerklängen der unermüdlich schuftenden Sklaven Alberichs – ist ebenso eine industrielle Hölle wie Sarumans Festung Isengart.

Natürlich gibt es auch bedeutende Unterschiede zwischen den beiden Werken, und dass nicht nur, weil der Ring im Gegensatz zu Tolkiens Roman tatsächlich eine allegorische Dichtung ist.
Richard Wagner war einmal ein überzeugter Revolutionär gewesen, Verfasser so umstürzlerischer, von Ludwig Feuerbachs materialistischer Philosophie inspirierter Schriften wie Die Kunst und die Revolution und Das Kunstwerk der Zukunft; Freund des demokratischen Dichters Georg Herwegh – der "eisernen Lerche" des Vormärz – und des Anarchisten Michail Bakunin, mit dem zusammen er 1849 auf den Barrikaden von Dresden gekämpft hatte. Im Gegensatz zum Herr der Ringe kennt der Ring des Nibelungen deshalb keine gute göttliche Weltordnung. Wotans Herrschaft ist vielmehr selbst Teil des Problems, und die einzige Hoffnung besteht im Auftreten des freien Menschen, der die göttlichen Gesetze zerbrechen und aus eigener Machtvollkommenheit heraus eine neue und bessere Ordnung schaffen wird. Doch Wagners revolutionärer Optimismus war angesicht des Triumphes der Reaktion, der auf das Scheitern der europäischen Revolution von 1848/49 folgte, zerbrochen, und er hatte sich unter dem Einfluss der Ideen Arthur Schopenhauers ein zutiefst pessimistisches Welt- und Menschenbild angeeignet. Und so versagt Siegfried in der Götterdämmerung. Im berühmten Trauermarsch wird nicht ein blonder Recke zu Grabe getragen, sondern ein Ideal, eine Hoffnung. Und die Welt kann Erlösung finden nurmehr durch den selbstlosen Freitod Brünhilds und die Rückkehr in den anfänglichen Naturzustand.

 
Der revolutionäre Humanismus, dessen Spuren selbst in dieser pessimistisch gebrochenen Form noch zu erkennnen sind, war Tolkien völlig fremd. Die Aufgabe, die Wagner seinem Siegfried stellte, wäre ihm sicher ebenso verwerflich vorgekommen, wie die Ambitionen Saurons oder Sarumans. Dennoch – die Schrecken des Nan Curunir und die Schrecken Nibelheims sind nahe Verwandte. Und Tolkien wie Wagner bedienten sich der Sprache des Mythos und der Heldenepik, um diese Schrecken darzustellen und gegen sie anzukämpfen.


(1) Das Nibelungenlied. V. 2367, 3-4.
(2) Beowulf. V. 20-24.
(3) J.R.R. Tolkien: Der kleine Hobbit. S. 261; 266; 271; 257; 250; 251; 253; 254; 255; 256; 249; 255; 291; 301.
(4) Vgl.: Brief an Mrs. Pauline Gasch (Pauline Baynes) [6. Dezember 1961]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 235. S. 408.
(5) J.R.R. Tolkien: The Hoard. In: The Adventures of Tom Bombadil and Other Verses from the Red Book. § 14.
(6) Als Teil der Adventures of Tom Bombadil gehört The Hoard zum Arda-Mythos, denn das Buch soll ja eine Sammlung von Versen aus dem ‘Roten Buch der Westmark’ vorstellen, und in der Einleitung heisst es, das Gedicht „depends on the lore of Rivendell, Elvish and Númenorean, concerning the heroic days at the end of the First Age; it seems to contain echoes of the Númenorean tale of Turin and Mim the Dwarf.“ So gesehen könnten die ‘singenden Götter’ also tatsächlich einer Erinnerung an die Ainulindale entsprungen sein. Die meisten der in den Adventures enthaltenen Gedichte waren jedoch ursprünglich geschrieben worden, ohne dass Tolkien dabei an eine Verbindung zu seiner Mythologie gedacht hätte. Tatsächlich beschränken sich die Ähnlichkeiten zwischen The Hoard und der Geschichte von Túrin darauf, dass in beiden ein Zwerg und ein Drache erwähnt werden. 
(7) Wir schaffen nach unserem Maß und abgeschauten Muster, weil wir selber geschaffen sind – und nicht nur geschaffen, sondern geschaffen nach dem Bild eines Schöpfers.“ (J.R.R. Tolkien: Über Märchen. In: Ders.: Die Ungeheuer und ihre Kritiker. S. 186.)
(8) Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. 3. Akt. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 7. S. 270.
(9) Vgl.: Brief an Allen & Unwin [23. Februar 1961]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 229. S. 401. 
(10) Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 3. S. 49.
(11) Vgl. Shaws 1883 erschienenen Essay ThePerfect Wagnerite: A Commentary on the Niblung’s Ring.
(12) Richard Wagner: Das Rheingold. 3. Szene. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 5. S. 236; 238.
(13) Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 3. S. 49.
(14) Richard Wagner: Das Rheingold. 3. Szene. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 5. S. 243.

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