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Dienstag, 14. Juli 2015

Ein Jahr vor dem "Blair Witch Project"

"Found Footage" ist in den Gefilden des Horrorfilms bekanntlich immer noch groß in Mode, auch wenn es viele Freundinnen & Freunde des Genres gibt, die gerne und oft auf die problematischen Aspekte des Formats hinweisen: Sei es der häufig zu bemerkende Mangel an innerer Logik {"Warum filmt der/die das immer noch, statt schreiend davonzulaufen?"}, sei es die in ihm angelegte Gefahr, filmerische Schlampigkeit und Inkompetenz mit dem Argument von "Authentizität" und "Realismus" zu entschuldigen. {"Das wurde ja von 'Amateuren' gefilmt, also darf es auch mies aussehen."}

Vor einigen Wochen nun habe ich mir Episode 70 des Honey Radio angehört, in welcher sich die Horror Honeys ganz dem "Found Footage" - Film widmen. Dabei gehen die Ladies natürlich auch kurz auf die Geschichte des Formats ein. Als erster seiner Art wird im allgemeinen Ruggero Deodatos berühmt-berüchtigter Streifen Cannibal Holocaust aus dem Jahre 1980 angesehen. Die Flut der letzten anderthalb Jahrzehnte hingegen wird in erster Linie auf den phänomenalen Erfolg des Blair Witch Project (1999) zurückgeführt. In der jüngeren Entwicklung spielt natürlich vor allem die Paranormal Activity - Reihe eine wichtige Rolle. So weit war mir das alles nicht neu. Unbekannt hingegen war mir bisher gewesen, dass die Hexe von Burkittsville einen unmittelbaren Vorläufer in Gestalt von The Last Broadcast (1998) gehabt hatte Und obwohl der Film bei den Honeys denkbar schlecht abschnitt, war meine Neugier geweckt.



Genau genommen ist The Last Broadcast kein "Found Footage"-, sondern ein Pseudodokumentarfilm. Die Übergänge zwischen den Formaten sind fließend, aber ich denke, es ist dennoch wichtig, zwischen ihnen zu unterscheiden. Der Film von Stefan Avalos und Lance Weiler enthält zwar "Found Footage" - Material, doch dieses ist in den allgemeineren Rahmen einer Doku eingefügt, d.h. auch in der Logik des Films ist das Material bereits bearbeitet, ausgewählt und geschnitten worden, um einer bestimmten Zielsetzung zu dienen. Damit wird von vornherein eine größere Distanz zwischen dem Betrachter und den Personen und Ereignissen, die er in dem "gefundenen Filmmaterial" zu sehen bekommt, hergestellt.

Der Pseudodokumentarfilm ist deutlich älter als das "Found Footage" - Format. Seine Wurzeln reichen zurück bis in die 60er Jahre, und er verdankt seine Entstehung u.a. der Auseinandersetzung mit den verwandten und doch unterschiedlichen Strömungen von Direct Cinema und Cinéma vérité. Frühe Beispiele sind u.a. Culloden (1964) und The War Games (1965) von Peter Watkins, Jim McBrides David Holzman's Diary (1967) und Mitchell Blocks No Lies (1972). Im Horrorgenre fand das Format meines Wissens nach nur in leicht abgewandelter Form Verwendung. So z.B. in der legendären BBC-Produktion Ghostwatch (1992)*, die die Gestalt einer Live-Reportage besitzt, sowie in dem belgischen Film C'est arrivé près de chez vous / Man Bites Dog (1992), der versucht eine besonders clevere und beißende Kritik am Cinéma vérité zu sein, sich letztenendes aber bloß als ein weiterer Beleg für die Demoralisation und Desorientiertheit herausstellt, die sich zu seiner Zeit in Künstler- und Intellektuellenkreisen breitmachten.

Auch The Last Broadcast ist kein lupenreiner Pseudodokumentarfilm. In den letzten zehn Minuten durchbricht der Streifen seine bisherige Struktur und nimmt für den finalen Twist eine konventionelle Form an.

Wie ja bereits dem Trailer zu entnehmen, geht es in dem Streifen um die Geschichte eines grauslichen Dreifachmordes, für den möglicherweise ein Unschuldiger büßen musste.
Die beiden TV-Moderatoren und Mächtegernfilmemacher Steven "Johnny" Avkast (Stefan Avalos) und Locus Wheeler (Lance Weiler) versuchen der sinkenden Popularität ihrer Show Fact or Fiction mit der Einführung eines Live Internet Chats in die Sendung entgegenzuwirken. Einer der anonymen Chatter bringt sie auf die Idee, eine "Vor Ort" - Reportage über den "Jersey Devil"** zu drehen. Also machen sich die beiden schließlich zusammen mit dem Tontechniker Rein Clackin (Rein Clabbers) und Jim Suerd, einem einheimischem Sonderling, der behauptet, über paranormale Fähigkeiten zu verfügen, in die Pine Barrens auf. Sie planen, ihre Livereportage zugleich via Fernsehen, Radio und Internet zu präsentieren. Aber irgendetwas läuft schief, und Suerd kehrt als einziger lebendig von dem Trip zurück. Nachdem die Polizei zwei fürchterlich verstümmelte Leichen gefunden hat, wird er vor Gericht gestellt, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. David Leigh (David Beard) jedoch, der Regisseur unseres "Dokumentarfilms", glaubt Beweise dafür gefunden zu haben, dass es sich bei dem Ganzen um einen politisch motivierten Justizirrtum gehandelt hat, insbesondere als er auf mysteriöse Weise in den Besitz von bislang verloren geglaubtem Filmmaterial aus jener verhängnisvollen Nacht in den Wäldern gelangt.

Um keine falschen Vorstellungen aufkommen zu lassen: The Last Broadcast ist ein schlechter Film, und nicht im Sinne von unterhaltsam schlecht. Zugegebenermaßen gelingt es ihm ganz gut, den Stil einer konventionellen Doku mit Interviews, Kommentaren des Filmemachers und kurzen Videoeinspielungen nachzuahmen, doch zugleich ist er erschreckend zäh und langweilig. Das "Found Footage" - Material ist von unterirdischer Qualität, was sicher auf Absicht beruht, doch selbst in der Logik des Films nicht recht Sinn macht: "Johnny" und Locus mögen ziemlich inkompetente Filmemacher sein, aber immerhin leiten sie eine kleine TV-Show. Man sollte annehmen, dass sie zumindest wissen, wie man mit einer Kamera umzugehen hat. So oder so wirken die oft verwackelten und aus absurden Perspektiven gefilmten Sequenzen ziemlich irritierend. Und wie der ganze Rest des Films, gelingt es auch ihnen nicht einmal ansatzweise, Spannung oder eine bedrohliche Atmosphäre heraufzubeschwören.

Es ist mindestens zehn Jahre her, seit ich The Blair Witch Project gesehen habe, doch was mir an dem Film damals besonders gut gefallen hat, war, dass es in ihm eigentlich weniger um irgendwelche übernatürlichen Schrecken geht, sondern um das sich verändernde Verhalten von drei Menschen in einer sich stetig steigernden Extremsituation. Die immer heftigeren Konflikte innerhalb der Gruppe; Ausbrüche von Panik, sinnloser Aggression und irrationalem Verhalten etc. etc. Das "Found Footage" - Format verstärkt die beklemmende Wirkung dessen noch, indem es uns ganz nah an die Drei herankommen lässt. Wir sehen die Welt quasi durch ihre Augen und können uns deshalb sehr viel unmittelbarer in ihre Lage versetzen, als dies bei einer konventionelleren Erzähl- und Filmweise der Fall gewesen wäre.
Oberflächlich betrachtet existieren durchaus Parallelen zwischen The Blair Witch Project und dem "Found Footage" - Material in The Last Broadcast. Auch hier wandert eine Gruppe von Menschen in irgendwelche gottverlassenen Wälder, es kommt zu immer schärferen Konfilkten zwischen ihnen und am Ende geschieht etwas furchtbares, von dem wir jedoch nicht ganz sicher sein können, was genau es gewesen ist. Doch weder scheint die Entwicklung der Charaktere sonderlich glaubhaft {sie befinden sich nicht wirklich in einer Extremsituation, haben sich nicht verirrt}, noch fühlen wir uns ihnen nahe.

Freilich sollte man bei diesem Vergleich nicht außer Acht lassen, dass Stefan Avalos und Lance Weiler vermutlich gar nicht beabsichtigt hatten, mit ihrem Film eine ähnliche Wirkung zu erzielen, wie ein Jahr später Daniel Myrick und Eduardo Sánchez mit dem Blair Witch Project. Es ließe sich sogar fragen, ob The Last Broadcast überhaupt als ein echter Horrorfilm intendiert war. Meiner Meinung nach spricht vieles dafür, dass dem nicht der Fall gewesen ist. Sicher, der Streifen enthält Horrorelemente, doch scheint er mir in erster Linie ein Kommentar auf die "neuen Medien", vor allem auf das Internet, sein zu wollen. Verändertes Sehverhalten; ein Wandel in der Beziehung zwischen Prodizenten und Konsumenten; Auswirkungen der Anonymität im Netz usw. – zu diesem ganzen Themenkomplex versucht der Film offensichtlich irgendetwas zu sagen. Leider ist absolut nicht klar, was. "Johnny" und Locus werden von einem anonymen Chatter zu ihrer verhängnisvollen Expedition animiert und sie wollen ihre Reportage live im Internet übertragen. So weit, so gut. Doch was genau hat das mit den blutigen Ereignissen jener Nacht in den Pine Barrens zu tun? Und was soll uns damit über die "neuen Medien" und ihre gesellschaftlichen oder kulturellen Auswirkungen gesagt werden? Ich habe keine Antwort auf diese Fragen finden können, und so wirkt der Film auf mich letztlich wie ein prätentiöser intellektueller Bluff in Gestalt einer ziemlich langweiligen Horrorstory. Der finale Twist {dessen Inhalt ich nicht verraten werde} verstärkt diesen Eindruck noch, zumal er innerhalb der Logik der Story, die uns bis dahin erzählt wurde, absolut keinen Sinn macht und mehr Fragen aufwirft als beantwortet.

Und doch scheint mir The Last Broadcast nicht ganz ohne Interesse zu sein, wenn man ihn als den unmittelbaren Vorläufer des Blair Witch Project betrachtet. Und das "Found Footage" - Format ist dabei nicht der entscheidende Punkt.
The Blair Witch Project  ist in gewisser Hinsicht die vielleicht berühmteste {auf jedenfall aber die finanziell einträglichste} Verkörperung dessen, worüber The Last Broadcast offensichtlich zu reflektieren versuchte. Der Film verdankte seinen gigantischen Erfolg bekanntlich vor allem der geschickten Nutzung des Internets für PR-Zwecke. Daniel Myrick und Eduardo Sánchez schufen mithilfe ihrer Website die Illusion, es handele es sich um "authentisches" Filmmaterial und entzündeten zahllose Netzdebatten darüber, ob ihr Flick "echt" oder "gestellt" sei. Heute ist das kaum noch vorstellbar, doch selbst lange nachdem The Blair Witch Project in den Kinos angelaufen war, gab es nicht wenige Leute, die tatsächlich glaubten, die letzten dokumentierten Lebenszeichen dreier in den Wäldern von Maryland verschollener Studenten gesehen zu haben.
Hier liegt der wirkliche Berührungspunkt zwischen den beiden Filmen. Dieselbe technische und kulturelle Entwicklung, die das Blair Witch - Phänomen hervorbrachte, ist das eigentliche Thema des Streifens von Avalos und Weiler, auch wenn diese nichts wirklich erhellendes darüber zu sagen wissen. Ich finde das irgendwie faszinierend, zumal die beiden Flicks für gewöhnlich nur über das "Found Footage" - Format miteinander in Verbindung gebracht werden. Das macht The Last Broadcast natürlich nicht zu einem besseren Film. Er ist und bleibt zäh und langweilig. Aber mich faszinieren solche kuriosen Koinzidenzen.        
                

* Wer etwas mehr über Ghostwatch erfahren will, dem sei Episode 53 von Mr. Jim Moons Podcast Hypnobobs empfohlen.
** Der Skeptical Inquirer hat vor Zeiten einen sehr interessanten Artikel von Brian Regal über die realen historischen Hintergründe der modernen Legende vom Jersey Devil veröffentlicht.

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