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Dienstag, 23. September 2014

"There are demons, and they are more terrible than we can imagine"

Ich glaube, ich bin zum ersten Mal durch den Blogeintrag "Solstice shenanigans" auf Helen Grant aufmerksam geworden. Wenn ich mich recht entsinne, hatte Jim Moon via Twitter auf ihn verlinkt. In ihm erzählt die Schriftstellerin von einer mysteriösen Entdeckung, die sie vor Jahren an einem 22. Juni (dem Tag nach der Sommersonnenwende) in den Wäldern nahe der Alten Burg bei Bad Münstereifel gemacht hatte. Was mich daran faszinierte war allerdings weniger die besagte Entdeckung, auch wenn die Vorstellung, stundenlang durch die Wälder zu streifen und dabei über alte Ruinen und geheimnisvolle Steinkreise zu stolpern, sehr glückliche Erinnerungen aus meiner Jugendzeit in mir weckte. Der entscheidende Punkt war vielmehr, dass Helen Grant in diesem Zusammenhang erwähnt, ihr erster Roman The Vanishing of Katharina Linden sei von den Volkssagen der Eifelregion inspiriert worden.
The book is about a series of disappearances that occur in this beautiful but seemingly sleepy little town; the heroine, Pia Kolvenbach, and her friend Stefan are inspired to investigate by the legends of the town, which suggest to them that there is some supernatural explanation behind what is going on. The legends are woven into the narrative and are all genuine local Eifel legends, retold by me.
Ich mag es, wenn Bücher oder Filme Folklore und Fiktion miteinander vermischen, erst recht, wenn die dabei verwendeten Sagen, Überlieferungen oder Bräuche eine spezifisch regionale Verankerung besitzen. Wenn gut recherchiert und gut umgesetzt, kann einer Geschichte damit ein ganz eigener Charakter verliehen werden. Hat es etwas mit Authentizität zu tun? Ich bin mir nicht ganz sicher. Wichtig ist auf jedenfall, dass derartige Sagen unauflöslich mit den jeweiligen Orten verbunden sind. Selbst wenn sie weiter verbreitete Motive aufgreifen {Grant erwähnt z.B., dass die Ruinen der Alten Burg in der Überlieferung mit der Gestalt des Wilden Jägers in Zusammenhang gebracht werden}, verdanken sie ihre konkrete Ausformung doch der Geschichte und Geographie der Landschaft. Diesen Eindruck des organisch Gewachsenen in neu erfundenen "Sagen" nachzuahmen, dürfte äußerst schwer fallen.

Ich bin nicht sofort aufgesprungen, um mir The Vanishing of Katharina Linden zu besorgen, aber mein Interesse war geweckt.

Das nächste Mal bin ich Helen Grants Namen dann in Episode 8 von A Podcast to the Curious begegnet, in der sich Will & Mike mit The Treasure of Abbot Thomas beschäftigen. Wie sich dabei herausstellte, ist die Autorin nicht nur eine große Liebhaberin der unheimlichen Geschichten von M.R. James {stets ein gutes Zeichen!}, sondern verfasst auch in unregelmäßigen Abständen Beiträge für Ghosts & Scholars, als da wären:
Der letzte Eintrag in dieser {möglicherweise unvollständigen} Liste sollte sich als besonders wichtig erweisen. Wie in "Solstice shenanigans" bereits angedeutet, hat Helen Grant eine Zeit lang {um genau zu sein: sieben Jahre} in Bad Münstereifel gelebt. Und von dort ist es nicht gar zu weit bis zu der ehemaligen Prämonstratenserabtei Steinfeld bei Kall, dem Schauplatz von The Treasure of Abbot Thomas. Als echter Monty-Fan unternahm die Schriftstellerin natürlich eine entsprechende Pilgerfahrt {von der sie in besagtem Artikel berichtet}, doch zugleich begann sie sich intensiver mit der faszinierenden Entstehungsgeschichte der Story zu beschäftigen. Im Jahr 1904 hatte M.R. James im Auftrag von Lord Brownlow die mittelalterlichen Buntglasfenster in dessen Herrensitz Ashridge Park katalogisiert und dabei entdeckt, dass es sich bei etlichen von ihnen um die lange verloren geglaubten, von Gerhard Remsich im 16. Jahrhundert geschaffenen Fenster aus dem Kreuzgang von Steinfeld handelte, die im Zuge der Säkularisation 1802 nach England verkauft worden waren. Diese Entdeckung inspirierte ihn zu seiner Geistergeschichte, führte vier Jahre später aber auch zu einer kurzen Korrespondenz mit dem Priester und Lokalhistoriker Nikolas Reinartz. Eine interessante kleine Episode, von der Helen Grant in einem weiteren Artikel – 'Lingering memories of the treasure': How the lost stained glass of Steinfeld was discovered – erzählt. Für die Autorin selbst wurde die Beschäftigung mit den Fenstern von Steinfeld zur Initialzündung für ihren zweiten Roman The Glass Demon:
The story fascinated me for several reasons. I was amazed that something as fragile as stained glass could be removed from the cloister windows without being smashed to smithereens. And I couldn't help thinking that if a second series of windows by the same craftsman were to be discovered nowadays, they would be almost priceless.           
Ich muss gestehen, dass ich selbst dann noch nicht in den nächsten Buchladen gespurtet bin, obwohl die Ingredienzen, die Helen Grant für ihre Bücher verwendet, von Mal zu Mal immer verlockender klangen: Authentische Volkssagen, M.R. James, mittelalterliche Buntglasfenster ... Das musste doch eigentlich ganz nach meinem Geschmack sein. Doch erst nachdem mir Grants Gastauftritt in Episode 34 von A Podcast to the Curious das bereits Gelesene wieder in Erinnerung gerufen hatte, besorgte ich mir endlich eines ihrer Bücher. Und natürlich handelte es sich dabei um The Glass Demon.



Die siebzehnjährige Lin hatte sich diesen Sommer wahrlich anders vorgestellt. Schulabschluss, Abhängen mit Freunden usw. Doch als ihr Vater – der extrem ehrgeizige Mediävist Oliver Fox – den angestrebten prestigeträchtigen Posten an seiner Universität nicht erhält, versteift er sich darauf, dem vagen Hinweis eines Lokalhistorikers aus Deutschland zu folgen und sich auf die Suche nach den legendären Buntglasfenstern der Abtei Allerheiligen zu begeben – Gerhard Remsichs Meisterwerk, das seit langem als verschollen gilt. Und so findet sich die Familie – zu der neben Lin und ihrem Vater Mutter Tuesday, Schwester Polly und das kleine Brüderchen Ru gehören – schon bald in einer halb verfallenen Burg in den Wäldern nahe des {fiktiven} Eifeldorfs Baumgarten wieder. Aber es wird noch schlimmer. Kaum sind die englischen Schatzsucher in dem Provinznest angekommen, da kommt es auch schon zu einer Reihe mysteriöser Todesfälle und anderer beunruhigender und makabrer Ereignisse. Und stets finden sich dabei mysteriöse Glassplitter am Ort des Geschehens. Versucht irgend jemand mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Allerheiligen-Fenster wiedergefunden werden, oder ist doch etwas dran an der alten Legende von dem Dämon Bonschariant, der auf magische Weise an das Buntglas gebunden sein soll?

The Glass Demon setzt sich aus drei Story-Komponenten zusammen.
Ein Gutteil des Romans dreht sich um die ziemlich gestörten Verhältnisse in Lins Familie: Vater Oliver und seine verbissene Jagd nach Ruhm, der er alles andere zu opfern bereit ist. Die narzissistische Tuesday. Die willensschwache Polly, die stets tut, was man von ihr verlangt, nie wagt, ihre eigenen Interessen offensiv durchzusetzen oder auch nur klar auszusprechen, und die unter dem dadurch entstandenen psychischen Druck schließlich selbstzerstörerische Tendenzen (Magersucht) entwickelt. Lin selbst, die lernen muss, ihren Vater als das zu sehen, was er ist: ein schwacher, getriebener, selbstsüchtiger Mensch, und nicht das idealisierte Heldenbild aus ihrer Kindheit.
Hinzu kommt als zweiter Hauptbestandteil die Krimi/Mystery - Handlung um die Morde etc.
Und als {mögliche} dritte Komponente wäre da außerdem noch das mit der Legende von Bonschariant verbundene phantastische Element.
Alle drei Facetten finden ihre Vereinigung in der Figur des Dämons. Er steht nicht allein für die höllische Kreatur aus der mittelalterlichen Überlieferung, sondern ebenso für die Obsessionen und zerstörerischen Impulse, von denen so viele der beteiligten Personen beherrscht werden. "There are demons, and they are more terrible than we can imagine." Der Satz, der relativ früh in Lins Erzählung fällt, ließe sich sehr gut als Motto für die gesamte Geschichte begreifen.

Helen Grants Bücher werden unter dem Label "Jugendliteratur" (YA) verkauft. Ich kann mit solchen Kategorisierungen ehrlich gesagt nur wenig anfangen, zumal es mir an fest umrissenen Kriterien zu mangeln scheint, mit deren Hilfe sich bestimmen ließe, ob ein Buch der YA-Literatur zuzuordnen ist oder nicht. Das jugendliche Alter der Protagonistin und Erzählerin allein kann dafür doch wohl kaum ausreichen. Die Schriftstellerin selbst hat sich ursprünglich wohl auch nicht wirklich als "Jugendbuchautorin" verstanden, dieses Label inzwischen aber offenbar akzeptiert.

Und warum auch nicht? – Solange sich erwachsene Leser und Leserinnen dadurch nicht abgeschreckt fühlen, ihre Bücher zur Hand zu nehmen! Denn das wäre in der Tat höchst bedauernswert. Ich jedenfalls habe den ca. 400 Seiten starken Roman in knapp vier Tagen verschlungen. Und das ist angesichts der Tatsache, dass ich zur Zeit eigentlich kein wirklich schneller Leser bin, erstaunlich.
The Glass Demon ist eine straff gebündelte, spannend erzählte Geschichte ohne Längen oder Absacker mit einer sehr lebendigen und sympathischen Protagonistin, der es ausgesprochen gut gelingt, die Schilderung zwischenmenschlicher {familiärer} Probleme und Auseinandersetzungen mit einer abenteuerlichen Handlung zu verknüpfen, die durch die historisch-legendenhaften Elemente und deren sehr authentisch wirkende regionale Verankerung einen ganz eigenen, für mich sehr ansprechenden Charakter erhält.
Ganz sicher wird dies nicht das einzige Buch von Helen Grant bleiben, das einen Platz in meiner Bibliothek findet. Erst recht nicht, wenn die anderen Romane {inzwischen sind es insgesamt fünf} halten, was die Autorin in einem kürzlich veröffentlichten Interview versprochen hat: "[A] strong sense of place (I love my foreign locations!), thrills, and a sprinkling of gruesome and sometimes grotesque deaths!" Yeah!

PS: Eines der Allerheiligen-Fenster {der "Engelssturz"} wurde übrigens direkt von einem der Steinfeld-Fenster inspiriert, wie man hier nachlesen kann.
PPS: Auch der Dämon Bonschariant besitzt sein Vorbild in einer authentischen Sage: "[T]here really is a local Eifel legend about the demon Bonschariant. It's connected with Steinfeld Abbey. Count Sigebodo (love that name!), who built the abbey, is supposed to have had a mysterious servant named Bonschariant ("the good servant") who was actually a demon. The count turned a blind eye to Bonschariant's demonic aspects for a long time because he was such a useful person to have around - he once flew into the air during a battle carrying the count with him to save him from being killed. But eventually the count's wife became frightened and encouraged the count to get rid of Bonschariant. The count built the abbey and fixed a cross to the highest point - when Bonschariant saw the cross he flew away snarling and was never seen again."
PPPS: The Vanishing of Katharina Linden und The Glass Demon sind inzwischen auch in deutscher Übersetzung als Die Mädchen des Todes bzw. Blutige Scherben erhältlich.

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