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Dienstag, 19. August 2014

Tolkiens Traumlandschaften

Michael Moorcock schreibt in seinem berühmt-berüchtigten Essay Epic Pooh:
It was best-selling novelists, like Warwick Deeping, who, after the First World War, adapted the sentimental myths (particularly the myth of Sacrifice) which had made war bearable (and helped ensure that we should be able to bear further wars), providing us with the wretched ethic of passive ‘decency’ and self-sacrifice, by means of which we were able to console ourselves in our moral apathy [...]. Moderation was the rule and it is moderation which ruins Tolkien's fantasy and causes it to fail as a genuine romance. The little hills and woods of that Surrey of the mind, the Shire, are ‘safe’, but the wild landscapes everywhere beyond the Shire are ‘dangerous’. Experience of life itself is dangerous. (1)
Wie beinahe überall in diesem Essay mischen sich auch hier scharfsinnige Einsichten mit einseitigen und letzlich falschen Verallgemeinerungen.
So ist es sicher richtig, dass Tolkiens Demutsmoral – die ich in meinem letzten Aufsatz zu beschreiben versucht habe – nicht bloß ein Produkt christlicher Tradition war, sondern mindestens ebensosehr Ausdruck der von Hoffnungslosigkeit gespeisten Apathie eines Gutteils der englischen Mittelklasse angesichts der Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre Väter waren noch die stolzen Bürger eines Reiches gewesen, das dazu ausersehen schien, die Welt zu beherrschen. All diese arrogante Macht zerbröckelte nun auf höchst unrühmliche Weise, und sie verspürten nicht einmal mehr die Kraft, um sich dagegen aufzulehnen. Was blieb ihnen anderes übrig, als die Geschichte als das Produkt einer undurchschaubaren Vorsehung zu betrachten und vielleicht noch im stillen Kämmerlein auf eine plötzliche Eukatastrophe zu hoffen? – Natürlich hätten sie nicht diese Begriffe verwendet, aber das Lebensgefühl war dasselbe. (2)
Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Tolkiens Werk ist vielschichtiger und auch widersprüchlicher. Nehmen wir das Beispiel des Auenlandes. Einerseits ist die Heimat der Hobbits in der Tat ein "Surrey of the Mind", ein sentimentales, kleinbürgerliches Idyll, in das sich der Autor vor der Wirklichkeit des modernen Lebens flüchtet. In einem Brief an Deborah Webster schrieb er 1958:
Ich bin tatsächlich selber ein Hobbit (in allem bis auf die Größe). Ich liebe Gärten, Bäume und Ackerland ohne Maschinen; ich rauche Pfeife, esse gern gute, einfache Sachen (nichts aus dem Kühlschrank) und verabscheue die französische Küche; ich getraue mich, in dieser grauen Zeit dekorative Westen zu tragen. Ich mag Pilze (vom Felde); habe einen sehr einfachen Humor (den sogar meine wohlwollenden Kritiker störend finden); ich gehe spät zu Bett und stehe spät auf (wenn möglich). Ich reise nicht viel. (3)
Aber wie ich an anderer Stelle bereits einmal dargelegt habe, verheimlicht der Herr der Ringe nicht, dass das spießige, selbstzufriedene Dasein der Hobbits auch seine Schattenseiten besitzt. Völlig falsch ist deshalb die Behauptung, die "Außenwelt" erscheine ausschließlich als bedrohlich. Trotz allem – der Lord of the Rings ist nicht The Wind in the Willows.

Tolkien führte sein Leben lang eine geradezu vorbildlich kleinbürgerliche Existenz, in der das größte Abenteuer vermutlich aus einem dritten Glas Bier im Eagle and Child bestand. Aber es spricht sehr vieles dafür, dass ihn diese farblose und kleinkarrierte Lebensweise in Wirklichkeit ganz und gar nicht befriedigte, dass er sie oft genug ebenso verabscheute wie die trostlosen englischen Badeorte, in denen die Familie nicht selten den Sommerurlaub verbrachte. Wer würde keine Sympathie für einen würdigen Oxford-Don empfinden, der als angelsächsischer Krieger kostümiert, mit einer Streitaxt in der Hand einen erstaunten Nachbarn die Straße im gutbürgerlichen Norden der Universitätsstadt entlangjagen konnte, wie es von Tolkien überliefert ist? (4)  Wie sein Held Bilbo träumte wohl auch er im tiefsten Herzen davon, aus diesem kleinbürgerlichen Universum auszubrechen. In seinem Werk ist eine Sehnsucht nach Weite und Ferne spürbar, die mehr ist als bloß der Wunsch, der modernen "Maschinengesellschaft", dem „Mordor mitten unter uns" (5), zu entfliehen. Am Horizont dieser Sehnsucht lassen sich zwei Fluchtpunkte ausmachen: Die Berge und das Meer.

Im Sommer 1911 hatte Tolkien zusammen mit seinem Bruder Hillary und seiner Tante Jane eine Tour durch die Schweizer Alpen unternommen. Die Reise hatte einen tiefen und bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Das galt sowohl für die ehrfurchtgebietende Szenerie des Wallis als auch für den Umstand, dass die kleine Gruppe beinahe von einem Steinschlag in die Tiefe gerissen worden wäre. Die Alpen wurden zur realen Vorlage für eine der beiden tolkienschen "Traumlandschaften", und hinter der kalten Majestät der drei Gipfel von Moria – Caradhras (Rothorn), Fanuidhol (Wolkenkopf) und Celebdil (Silberzinne) – verbirgt sich ohne Zweifel die erhabene Schönheit von Eiger und Mönch, Jungfrau und Silberhorn. Wie sich Tolkien 1967/68 in einem Brief an Michael erinnerte:
Von dem Blick auf die Jungfrau konnte ich mich nur schwer trennen: ewiger Schnee, der in ewigem Sonnenschein eingraviert zu sein schien, und das Silberhorn stand scharf gegen den dunkelblauen Himmel: das Silvertine (Celebdil) meiner Träume. (6)
Die schneebedeckten, sturmumtosten Gipfel des Nebelgebirges bilden den radikalen Gegensatz zur friedvoll-kultivierten Felder- und Hügellandschaft des Auenlandes. Immer wenn Tolkiens Helden sich daranmachen, diese mächtige Gebirgskette zu überqueren, bricht ein wüstes Unwetter über sie herein. Hier ist das Reich der Riesen, der ungezügelten Elementargewalten: 
Die Blitze zersplittern auf den Gipfeln, und die Felsen erzittern, ein riesiges Getöse zerreißt die Luft und dringt grollend und dröhnend in jede Höhle und in jedes Loch. Die Finsternis ist erfüllt von überwältigendem Lärm und plötzlichen Lichtflammen. Niemals hatte Bilbo so etwas gesehen, niemals hatte er sich so etwas vorgestellt. Sie waren hoch an einer engen Stelle mit einem schrecklichen seitlichen Abfall tief hinab in ein düsteres Tal. Dort hatten sie unter einem überhängenden Felsen für die Nacht Schutz gesucht. Bilbo lag unter seiner Decke und zitterte von Kopf bis Fuß. Wenn er während eines Blitzes drunter hervorlugte, sah er jenseits des Tales die Steinriesen, die herausgekommen waren und sich zum Spaß Felsblöcke zuschleuderten. Die Riesen fingen die Felsen auf und warfen sie in die Finsternis, wo sie tief unten Bäume zerschmetterten oder krachend in tausend Stücke zersprangen. Dann rauschten die Winde, dann peitschten Regen und Hagel in jedwede Richtung. (7)
Und doch ist es diese Wildnis, nach der sich Bilbo sehnt und um derentwillen er die bierselige Gemütlichkeit von Hobbingen verlässt: „Ich habe das Gefühl, ich brauche Ferien, sehr lange Ferien, wie ich dir schon früher gesagt habe. [...] Ich will wieder Berge sehen, Gandalf – Berge" (8) Wie sympathisch Tolkien das spießbürgerliche Idyll des Auenlandes auch immer gewesen sein mag, letztenendes wusste er, dass es eben auch ein Gefängnis ist. Das wahre Leben – gefahrvoll, unkontrollierbar, frei – liegt jenseits seiner Grenzen.

Allerdings bleibt die Reise ins Gebirge stets nur ein zeitlich begrenztes Abenteuer. Urlaub vom Alltag. Die wahre, grenzenlose Freiheit – das ist das Meer.
Schon in den ältesten Schichten der Mythologie spielt die See eine zentrale Rolle. Die Erzählung von Tuor aus Dor-lomin, seinen Wanderungen, seiner Ankunft in der verborgenen Stadt Gondolin und deren tragischem Untergang ist der älteste, abgeschlossene Teil des späteren Silmarillion-Zyklus. In ihr findet die Sehnsucht nach dem Meer ihren bewegenden Ausdruck in einer Reihe von Szenen, die sich von der ältesten Fassung (1917/20) bis zur letzten ausführlichen Überarbeitung (1951) beinahe unverändert erhalten haben:
Einer göttlichen Eingebung gehorchend gelangt der Geächtete Tuor in eine tief ins Gebirge eingeschnittene Klamm, der er mehrere Tage flussabwärts folgt. Als er eines nachts zu den Klängen seiner Harfe ein Lied anstimmt, weckt die Musik ein vielfältiges Echo in den umliegenden Bergen.
Ein wundersames Staunen regte sich in Tuor, ließ sein Lied verstummen, und allmählich verklang die Musik zwischen den Bergen, und es wurde still. Da vernahm er inmitten des Schweigens hoch in der Luft einen seltsamen Schrei, und er wußte nicht, von welch einem Wesen er stammte. Zuerst sagte er: "Es ist eine Feenstimme", dann meinte er: "Nein, es muß ein kleines Tier sein, das in der Einöde klagt." Doch als er den Schrei zum dritten Mal hörte, sagte er: "Sicherlich ist es der Schrei eines Nachtvogels, den ich nicht kenne." Doch obwohl er ihm vorkam wie ein Klageruf, verspürte er das Verlangen, ihm zuzuhören und ihm zu folgen, denn der Schrei galt ihm und rief ihn an einen unbekannten Ort. Am nächsten Morgen hörte er über sich wieder diesen Ruf, und aufblickend gewahrte er drei große weiße Vögel, die gegen den Westwind in die Schlucht hinabstießen. Ihre mächtigen Schwingen schimmerten im Licht der aufgehenden Sonne, und als sie über ihn hinwegflogen, stießen sie laute Klagerufe aus. So erblickte er zum ersten Mal die großen Möwen, welche die Teleri [die Elben der Küste] so liebten. Darauf erhob sich Tuor, um ihnen zu folgen, und um besser erkennen zu können, in welche Richtung sie flogen, erkletterte er die Klippen zu seiner Linken. Er stand auf der Spitze, spürte wie ein kräftiger Westwind ihm ins Gesicht blies und sein Haar um den Kopf flattern ließ. In tiefen Zügen sog er die prickelnde Luft ein und sagte: "Das erfrischt das Herz wie ein Trunk kühlen Weins." Doch wußte er nicht, daß dieser frische Wind geradewegs vom Großen Meer kam. [...]
Endlich und unerwartet (denn die Spitzen der Klippen am Rand des Landes waren höher als die Abhänge dahinter), gelangte er unvermittelt an das steil abfallende, schwarze Ufer Mittelerdes und erblickte das Große Meer, Belegaer, das Uferlose. Und in dieser Stunde versank hinter dem äußersten Rand der Welt die Sonne wie ein riesiges Feuer. Tuor stand mit ausgebreiteten Armen allein auf der Klippe, und eine tiefe Sehnsucht erfüllte sein Herz. Es heißt, er sei der erste Mensch gewesen, der bis ans Große Meer vordrang, und niemand, die Eldar ausgenommen, habe jemals tiefer jenes Verlangen verspürt, das von diesem Meer ausging. (9)
Wie für das Nebelgebirge gibt es auch für diese zweite tolkiensche "Traumlandschaft" ein reales Vorbild: Die Steilküste von Cornwall. Er hatte sie zum ersten Mal während eines Urlaubs im Sommer 1914 kennengelernt und war sofort ihrem rauen Charme verfallen. In einem Brief an Edith beschrieb er voller Begeisterung die Szenerie der Lizard-Halbinsel:
Wir gingen über das Heideland auf den Klippen nach Kynance Cove. Nichts, was sich in einem öden, alten Brief sagen ließe, könnte es Dir beschreiben. Die Sonne knallt auf Dich herunter, und eine mächtige Atlantikdünung tobt und schäumt über die Zacken und Riffe. Das Meer hat unheimliche Windlöcher und Röhren in die Klippen gefressen, die Töne wie von Trompeten ausstoßen oder Schaum speien wie ein Wal, und überall siehst Du schwarze und rote Felsen und weiße Gischt gegen Violett und durchsichtiges Meeresgrün. (10)
Dies war die Landschaft, die Tuor auf seiner Wanderung durch die Cirith Ninniach (Regenbogenspalte) zum Fjord von Drengist kennenlernt, dies die karge Schönheit von Nevrast mit seinen unzähligen Seevögeln, wo der Geächtete eine Zeit lang lebt.
Wenn Tolkien von der Sehnsucht nach dem Meer schrieb, dann dachte er dabei nicht an die braven englischen Badeorte oder an paradiesische Palmenstrände unter einer tropischen Sonne, sondern an die wütende Brandung, die sich schäumend und brüllend an den Klippen der Nordlande bricht. Ein wildes und gefährliches Element, das Ehrfurcht einflößt.

Anders als das Gebirge besitzt das Meer neben seiner elementaren Urgewalt aber auch einen beinahe spirituellen Charakter. Die Schöpfungsgeschichte im Silmarillion erzählt, wie die Welt von Gott und seinen Engeln durch eine gewaltige Musik erschaffen wurde.
Und die Eldar sagen, mehr als in jedem anderen Stoff auf dieser Erde sei im Wasser das Echo von der Musik der Ainur lebendig; und viele der Kinder Iluvatars lauschen noch immer unersättlich den Stimmen des Meeres und wissen doch nicht, auf was sie lauschen. 
Von Ulmo, dem Vala, dessen Herrschaftsbereich das Wasser ist und der in den Tiefen des Ozeans lebt, heißt es:  
Zuweilen kommt er an die Küsten von Mittelerde, ungesehen, oder wandert die Fjorde hinauf weit ins Landesinnere und spielt dort auf seinen großen Hörnern, den Ulumuri, die aus weißen Muscheln geschliffen sind; und jene, zu denen diese Musik dringt, die hören sie immerdar in ihrem Herzen, und nie mehr verläßt sie die Sehnsucht nach der See. (11) 
Das Verlangen nach dem Meer ist also aufs engste verknüpft mit der für Tolkien so typischen Melancholie, dem Heimweh nach dem verlorenen Paradies. Wenn wir dem Rauschen der Brandung lauschen, dann hören wir den Nachklang der himmlischen Schöpfungsmusik und in uns erwacht das Verlangen nach dem göttlichen Urquell allen Seins, das nach christlich-neoplatonischer Sicht im Herzen aller Wesen schlummert. Doch obwohl dieser Gedanke sicher sehr wichtig ist, glaube ich nicht, dass man das Meeresmotiv auf das religiöse Element reduzieren sollte. Der Hinweis auf die "göttliche Musik" dient in erster Linie der "theologischen" Adelung eines Gefühls, das in seinem Ursprung überhaupt nichts mit Religion zu tun hat.

So wichtig das Motiv der Sehnsucht nach dem Meer in Tolkiens Werk ist, so auffällig ist auch, dass kaum je beschrieben wird, wie jemand dieser Sehnsucht nachgibt. Auf die große Ausnahme Earendil werden wir gleich noch ausführlich zu sprechen kommen. Zuvor jedoch wollen wir uns kurz den ältesten Entwürfen zum späteren Silmarillion zuwenden – dem Buch der Verschollenen Geschichten (Book of Lost Tales) und der Figur des Ælfwine/Eriol.
Tolkien hatte ursprünglich beabsichtigt, die Geschichten von der Altvorderenzeit in eine Rahmenerzählung einzubetten, in der ein Seefahrer nach vielen Mühen und Gefahren die Elbeninsel Tol Eressea erreicht und dort in der Hütte des Verlorenen Spiels den Berichten von den alten Tagen lauscht. Vorbild hierfür war vermutlich William Morris’ gewaltiger Gedichtzyklus The Earthly Paradise (1868-70), mit dem der zum Offizier gewandelte Oxford-Don Wade-Garry Tolkien während des Krieges in Frankreich bekannt gemacht hatte. (12) Dieser Zyklus hebt mit einem The Wanderers betitelten Prolog an, in dem berichtet wird, wie eine kleine Schar Männer Mitte des 14. Jahrhunderts von Norwegen aus in See sticht, um die sagenumwobene Insel der Seligen – das Irdische Paradies – im Westmeer zu finden. Nach vielen Abenteuern gelangen die Überlebenden schließlich zu einem friedvollen Inselreich, wo dann jene Geschichten erzählt werden, die den eigentlichen Inhalt des Zyklus ausmachen.
Es gäbe so manches über die Beziehung zwischen Morris und Tolkien zu berichten, doch das muss warten, bis ich es {hoffentlich} schaffe, meine seit langem abgebrochene Artikelreihe (13) über Tolkien und das Erbe der Englischen Romantik fortzusetzen. Für den Moment muss es genügen festzuhalten, dass  The Earthly Paradise zu einer Zeit geschrieben wurde, als der Dichter sich in seinem Kampf gegen die viktorianische Gesellschaft, die er aus tiefstem Herzen verabscheute, immer stärker auf verlorenem Posten fühlte. E. P. Thompson spricht in seiner Morris-Biographie sehr treffend von einer „poetry of despair". (14) Die Fahrt über das Meer ist hier Symbol für die Flucht aus der Realität in das Reich der Märchen und Träume. In der berühmten Apology, die dem ersten Band vorangestellt ist, stilisiert Morris sich selbst zum „idle singer of an empty day": 
Dreamer of dreams, born out of my due time,
Why should I strive to set the crooked straight?
Let it suffice me that my murmuring rhyme
Beats with light wing against the ivory gate,
Telling a tale not too importunate
To those who in the sleepy region stay,
Lulled by the singer of an empty day.
[...]
So with this Earthly Paradise it is,
If ye will read aright, and pardon me,
Who strive to build a shadowy isle of bliss
Midmost the beating of the steely sea,
Where tossed about all hearts of men must be;
Whose ravening monsters mighty men shall slay,
Not the poor singer of an empty day. (15)
In späteren Jahren würde Morris sich daranmachen, die Ungeheuer der "stählernen See" aktiv zu bekämpfen, doch zu dieser Zeit beschränkte er sich auf ein verträumtes Klopfen an das "elfenbeinerne Tor" von Faërie.
Tolkiens Geschichte von Eriol/Ælfwine wurde immer wieder neu überarbeitet und gelangte eigentlich nie über ein skizzenhaftes Stadium hinaus. Die einzige einigermaßen ausgearbeitete Version entstand ungefähr 1920. Hier ist Ælfwine ein Bewohner des frühmittelalterlichen England, Sohn von Déor dem Sänger und Éadgifu aus Lionesse, einem Land, das die Artus-Tristan-Tradition in der Nachbarschaft Cornwalls verortet. Geboren in Warwick erlebt er die Eroberung der Stadt durch die aus dem Norden einfallenden Wikinger mit, bei der seine Eltern erschlagen werden. Er selbst wird für viele Jahre zum Sklaven der Nordmänner. (16) Während dieser Zeit der Knechtschaft erwacht die Sehnsucht nach dem Meer in ihm:
[E]s war fürwahr wie ein Wunder, daß Ælfwine, obgleich er das Meer nicht kannte und es nie gesehen, dennoch seine gewaltige Stimme tief in seinem Herzen sprechen hörte, und zwischen Wachen und Schlaf vernahm er in seinem Inneren immerfort des Meeres murmelnde Chöre." „Ælfwine trug das Joch der Sklaverei bis zur Schwelle des Mannesalters, hing Träumen nach und war vom Verlangen nach dem Meer erfüllt. (17) 
Traum und Meer hängen in dieser Geschichte aufs engste miteinander zusammen. Der Fall Warwicks, die Ermordung der Eltern, die Jahre der Knechtschaft zeichnen das Bild einer von Gewalt und Grausamkeit beherrschten Welt, aus der sich der junge Ælfwine in seine Träume flüchtet.
In den frühesten Entwürfen zu Tolkiens Mythologie erscheint der Traum mehrfach als Zugang zum Reich der Feen und Götter. So wird uns an anderer Stelle vom Olóre Malle berichtet, dem Pfad der Träume, über den schlafende Menschenkinder nach Tol Eressea zur Hütte des Vergessenen Spiels, ja vielleicht sogar bis nach Valinor gelangen können. Aus diesen Kindern werden dann später die „Dichter der Großen Lande" (18).  Solche etwas süßlich anmutenden Motive verschwanden später völlig, doch die ihnen zugrundeliegende Tendenz zur romantischen Weltflucht blieb natürlich stets ein Teil des tolkienschen Werkes. William Morris hatte sich als „dreamer of dreams, born out of my due time" bezeichnet. Tolkien sah sich ganz ähnlich, und diese Empfindung findet in Ælfwine aus England ihren Ausdruck in der Sehnsucht nach dem Meer. In einem anderen Teil des Buchs der Verschollenen Geschichten wird der Name des Seefahrers, der dort Eriol heisst, als „Einer, der für sich träumt" gedeutet. (19) Kann man noch deutlicher werden?
Als es Ælfwine schließlich gelingt, der Sklaverei zu entfliehen, denkt er bezeichnenderweise nicht einen Moment lang daran, für die Befreiung seiner Heimat von der Tyrannei der Nordmänner zu kämpfen. Vielmehr kehrt er der Welt der Menschen mit ihren Wirren und Leiden den Rücken zu und wandert in die Heimat seiner Mutter, um bald darauf mit sieben Gefährten in See zu stechen und sich auf die Suche nach den elbischen Zauberinseln im Westen zu machen. Ähnlich wie Morris’ "Wanderer" irren sie lange Zeit erfolglos über das Meer und erleben manches Abenteuer, doch gerade als sie endgültig aufgeben und in die Heimat zurückkehren wollen, flammen in der Nacht plötzlich die Lichter von Tol Eressea auf:
Da kam Musik sehr sachte über die Wasser gezogen, und sie war von ungeahnter Sehnsucht durchtränkt, daß Ælfwine und seine Gefährten sich auf ihre Ruder stützten und leise weinten; und ein jeder beweinte sein halb erinnertes Herzeleid, die Erinnerung an die Schönheit lange verlorener Dinge, und ein jeder weinte aus Sehnsucht nach der reinen Schönheit, die jedes Kind der Menschen erfüllt, Schönheit, die es sucht und die es nicht findet.
Die Insel der Elben wird hier zur Verkörperung jener "reinen", außerweltlichen Schönheit, nach der es die Romantiker immer verlangt hat. Das gibt den folgenden Zeilen besondere Bedeutung: 
[U]nd mit einem gewaltigen Schrei sprang er [Ælfwine] plötzlich nach vorn ins dunkle Meer, und die Wasser, die ihn umschlossen, waren warm, und ein freundlicher Tod, so schien ihm, nahm ihn in seinen Armen auf. (20)
Ganz sicher hat Tolkien dies nicht beabsichtigt, aber dennoch deutet diese Szene die innere Verwandtschaft zwischen der Sehnsucht nach einer absoluten Schönheit, die nicht von dieser Welt ist, und der Sehnsucht nach dem Tode an. John Keats, der vielleicht feinfühligste Dichter der englischen Romantik, hatte dies sehr genau erkannt und in seiner berühmten Ode of the Nightingale aufs Wunderbarste zum Ausdruck gebracht.

Ist die Fahrt über das Meer hier also Ausdruck der Abwendung von der Wirklichkeit und damit vom Leben, so erschöpft sich darin doch nicht die Bedeutung dieses Motivs im tolkienschen Werk. Älter noch als Eriol/Ælfwine nämlich ist die Figur des Earendil. (21) Bereits im September 1914 – direkt nach seinem Aufenthalt in Cornwall – hatte Tolkien ein Gedicht über den Seefahrer verfasst, das zusammen mit drei weiteren Gedichten zu dem selben Thema, die im Verlaufe der nächsten zehn Monate entstanden, so etwas wie die Keimzelle der Arda-Mythologie bildet. In der Gestalt des Seefahrers, der sich auf die Suche nach Valinor macht und schließlich mit seinem Schiff hinausfährt in die Weiten des Himmels, wo er nun als Abend- und Morgenstern seine Bahnen zieht, finden sich der religiöse Aspekt des Meeresmotivs mit der Sehnsucht nach Weite und Ferne vereinigt.
Inspiriert wurde Tolkien dabei von einigen Zeilen aus der altenglischen Bibeldichtung Christ:
Eala earendel, engla beorhtast,
ofer middangeard monnum sended,
ond soðfæsta sunnan leoma,
torht ofer tunglas, þu tida gehwane
of sylfum þe symle inlihtes!
Swa þu, god of gode gearo acenned, 
sunu soþan fæder, swegles in wuldre
butan anginne æfre wære,
swa þec nu for þearfum þin agen geweorc
bideð þurh byldo, þæt þu þa beorhtan us
sunnan onsende, ond þe sylf cyme
þæt ðu inleohte þa þe longe ær,
þrosme beþeahte ond in þeostrum her,
sæton sinneahtes; synnum bifealdne
deorc deaþes sceadu dreogan sceoldan.
Nu we hyhtfulle hælo gelyfað
þurh þæt word godes weorodum brungen,
þe on frymðe wæs fæder ælmihtigum
efenece mid god, ond nu eft gewearð
flæsc firena leas, þæt seo fæmne gebær
geomrum to geoce. (22)
In Charles Kennedys neuenglischer Prosaübersetzung: 
Hail Day-Star [earendel]! Brightest angel sent to man throughout the earth, and Thou steadfast splendour of the sun, bright above stars! Ever Thou doest illumine with Thy light the time of every season. As Thou, begotten God of God, Son of the True Father, without beginning abodest ever in the splendour of heaven, so now for need Thy handiwork beseecheth boldly that Thou send the bright sun unto us; that Thou come and shed Thy light on those who long ere this, compassed about with mist and in the darkness, clothed in sin, sit here in the long night, and must needs endure the dark shadow of Death. Now are we full of hope and put our trust in Thy salvation, heralded to the hosts of men by the word of God, which in the beginning was with God, with the Almighty Father coeternal, and afterward was made flesh unstained of sin, which the Virgin bare, a solace unto wretched men. (23)
Im Christ bezeichnet "Earendel" den Morgenstern und steht symbolisch für Johannes den Täufer, der als Herold der Wahren Sonne Christus vorangeht. (24) Tolkien war überzeugt davon, dass es sich bei dem Wort ursprünglich um einen germanischen Eigennamen gehandelt habe, der in einem nur noch bruchstückhaft zu erkennenden Zusammenhang mit einem alten stellaren Mythos gestanden habe. (25) Was Tolkien dazu veranlasste, Earendil in seine eigene Mythologie zu übernehmen, war zwar in erster Linie die klangliche Schönheit des Namens und der mit ihm verbundenen Verszeile „Eala earendel, engla beorhtast". Dennoch ist der christlich-angelsächsische Ursprung – wie wir noch sehen werden – nicht ohne Bedeutung.
Die Identifikation mit einem Stern stammte also aus der altenglischen Vorlage, doch fügte Tolkien dem das Motiv des rastlosen Seefahrers hinzu.

Als Sohn Tuors und der Elbenprinzessin Idril wurde Earendil von Beginn an fest eingebunden in den sich entfaltenden Kosmos des späteren Silmarillion. Allerdings war die Rolle, die er in der Geschichte Mittelerdes spielt, einer Reihe interessanter Veränderungen unterworfen. Nach ihrer Flucht aus dem von Melkors Armeen eroberten Gondolin lassen sich Earendils Eltern mit ihrem Sohn an der Mündung des großen Flusses Sirion nieder. Von Jugend an ist Earendil erfüllt von einer großen Liebe zum Meer. Eines Tages macht sich sein Vater Tuor in einem Schiff auf, und „mit Idril Celebrindal fuhr er in den Sonnenuntergang nach Westen hinaus und verschwand aus den Liedern und Erzählungen." (26)
Ähnlich wie in den antiken Heldenepen Odysseus und Jason die besondere Gunst der Pallas Athene genießen, kann Earendil sich (wie bereits zuvor sein Vater) der Huld Ulmos, des Herrn der Wasser, erfreuen. Er steht unter seinem Schutz, wird von ihm aber auch als Instrument zur Ausführung seiner göttlichen Pläne verwendet.  Mit Hilfe der Elben baut er sein Schiff Vingilot, die Schaumblüte, und sticht in See, dem Ruf des Meeres folgend und dabei hoffend, seine Eltern wiederzufinden oder einen Weg in das verborgene Segensreich Valinor zu entdecken. Denn seit Feanor gegen die Autorität der Valar rebelliert und einen Teil seines Volkes gegen den Willen der engelsgleichen Hüter Ardas nach Mittelerde zurückgeführt hat, ist ja selbst den Elben der Zugang zum Fernen Westen versperrt. 
Jahrelang streift Earendil über die Weltmeere und bereist ferne und exotische Länder, ohne jedoch den Weg ins Irdische Paradies finden zu können.

In der ursprünglichen Konzeption der Erzählung sollte diesen Fahrten ein wichtiger Platz zukommen. Tolkien plante ein langes Versepos mit dem Titel Lay of Earendel, zu dem wenigstens zwei der 1914/15 entstandenen Gedichte gehören sollten, das jedoch schon bald beiseite gelegt wurde. Die Bitte an den Sänger, die als Auftakt des Epos gedacht war und in der vom „raunenden Dämmer abends auf fernen Ozeanen" und dem „Murmeln tropischer Wasser, die nie schlafen,/ Sondern wohltönend unter dem runden Kiel erklingen" die Rede ist, lässt uns noch erahnen, wie das „Lied vom ewig nach dem Meere Begehrenden" wohl geklungen hätte. (27) Auch die spätere Prosafassung ist nie über das Stadium erster Skizzen hinausgekommen. Tolkiens Notizen lassen aber noch erkennen, dass die Erzählung sich motivisch offenbar an mittelalterlichen Quellen wie den Indienkapiteln der Alexanderromane oder Reisebüchern wie John de Mandeville orientieren sollte. Da ist die Rede von Feuerbergen, Baum-Wesen, Pygmäen, „Sariqindi oder Kannibalen-Ogern", Sonnenbewohnern und Gewürzen, außerdem von der „Heimstatt der Nacht" und den „roten Palästen, wo die Sonne wohnt". Auch sollte Earendil auf seinen Irrfahrten Ungolianth, der Großen Spinne, der fürchterlichen Ahnherrin Shelobs/Kankras begegnen. (28)
Wäre diese Geschichte je geschrieben worden, Tolkien hätte jene Regionen verlassen müssen, die vom „heimischen Anhauch (vom Himmel und der Erde des Nordwestens)" (29)  geprägt waren. Dies scheint mir von besonderer Bedeutung zu sein. Nirgends sonst zeigt der Autor das Verlangen, sich über den "europäischen2 Raum hinauszuwagen. Außer ein paar Namen wie Umbar, Harad und Khand erfahren wir nichts über die Reiche der Südländer und Ostlinge. Anders als etwa die farbenprächtigen Traumgeschichten Lord Dunsanys enthalten Tolkiens Erzählungen keine Exotik. Doch die Wogen des Meeres schlagen an alle Ufer. Die Figur des Seefahrers impliziert notwendigerweise das Überschreiten von Grenzen, den Vorstoß ins Unbekannte, die Begegnung mit dem Fremden. Denkbar, dass die Geschichte aus eben diesem Grunde nie fertiggestellt wurde. Dennoch muss der rastlose Wanderer der Meere Ausdruck eines tiefen Bedürfnisses gewesen sein, das seine Befriedigung nicht in der Kleinbürgerlichkeit von Tolkiens realem Leben finden konnte und das meilenweit entfernt war von der engen Behaglichkeit eines Auenlandes. Andernfalls wäre Earendil wohl kaum eine so zentrale Gestalt der Mythologie geworden.

Wichtigster Teil der Geschichte des Seefahrers war freilich schon immer die Fahrt nach Valinor. Denn schließlich gelingt es ihm tatsächlich, an den Dämmerinseln vorbei bis zur Küste der Unsterblichen Lande vorzustoßen. Auf den ersten Blick mag man dies für eine bloße Wiederholung des Eriol/Ælfwine - Themas halten, dem ist aber nicht so. Earendils Reise endet nicht mit dem Erzählen alter Geschichten am heimeligen Kaminfeuer Vaires und Lindos. Hier knüpft Tolkien nicht an die romantische Tradition des Earthly Paradise, sondern an ältere und mächtigere Mythen an.
Dass das Irdische Paradies bei ihm anders als in der mittelalterlichen Tradition nicht im Osten, sondern im Westen liegt, hat mit der ursprünglichen Verwurzelung des Mythos in England zu tun. Als "seo unwemmede leg" (ags. "die unbefleckte Insel") stellte England in der ältesten Fassung eine Art Vorposten Valinors dar, wie später die Einsame Insel (Tol Eressea), mit der es ganz zu Anfang auch identifiziert worden war.
Mit der Idee eines westlichen Segensreiches konnte Tolkien natürlich an die keltische Überlieferung von Avalon und anderen Feeninseln anknüpfen. Von dort war das Gläserne Schiff gekommen, das in der altirischen Heldensage Condla den Roten, den Sohn von König Conn Hundertkampf, mit seiner elbischen Geliebten davonträgt in das Land ewiger Jugend und Schönheit, wo es weder Leid noch Elend gibt. Dorthin war Bran, der Sohn Febals, mit seinen Mannen gesegelt, und dort hatte Manannan mac Lir seinen Sohn Mongan sechzehn Jahre lang behütet und aufgezogen, bevor dieser den Thron Ulsters bestieg und den Tod seines Adoptivvaters Fiachna Finn rächte. Von noch größerer Bedeutung als Quelle der Inspiration war jedoch sicher die im 10. Jahrhundert entstandene Navigatio Sancti Brendani Abbatis (Seefahrt des heiligen Abtes Brendan). Irische Überlieferungen aufgreifend erzählt die Navigatio davon, wie der Abt Brendan zusammen mit einigen seiner Mönche sieben Jahre lang das große Meer im Westen bereist und dabei nicht nur eine Reihe geheimnisvoller Inseln entdeckt, sondern auch Seeungeheuern, Dämonen, heiligen Eremiten, dem auf ewig verdammten Judas Iskariot und den "neutralen Engeln" begegnet, die sich beim Kampf zwischen Gott und Luzifer für keine Seite entschieden haben und deshalb auf die Erde verbannt wurden. Schließlich erreicht Brendan das Irdische Paradies, die Terra Repromissionis Sanctorum (Land der Verheißung der Heiligen), das offenbar als künftige Zuflucht für die Gläubigen während der Herrschaft des Antichrists dienen wird. Nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Wächterengel des Paradieses kehrt er nach Irland zurück. Tolkien verarbeitete einen Teil der Legende in einem Gedicht mit dem Titel Imram (gälisch "Reise"), das erstmals 1955 in der Zeitschrift Time & Tide veröffentlicht wurde. Die Parallelen zur Geschichte von Earendil sind unverkennbar. 
Die Navigatio Sancti Brendani Abbatis gehört in die Tradition geographischer Utopien Der Traum von einem Ort, wo die Welt so ist, wie sie sein sollte, wo das Goldene Zeitalter nie zuende gegangen ist, findet sich bei vielen Völkern: Die Unsichtbare Stadt Kitesch der russischen Sage, das Shambala der Tibeter und Mongolen, die "Festung der Weiden" des chinesischen Volksglaubens und natürlich der Garten Eden des mittelalterlichen Christentums. Ein letzter Abglanz dieses alten Traumes fällt auch auf Earendils Fahrt in den Verborgenen Westen. Dem Verlangen nach dem Meer gesellt sich so die Sehnsucht nach einem Ort hinzu, "wo guten Morgen wirklich noch guten Morgen bedeutet" – wie es in Vittorio de Sicas Wunder von Mailand so hübsch heißt. Zwar ist mit der Vernichtung der Zwei Bäume durch Melkor und Ungolianth das Goldene Zeitalter auch in Valinor zuende gegangen. Dennoch bleibt das Segensreich ein Irdisches Paradies und am Leben jener Elben, die nicht an Feanors Aufruhr teilgenommen haben und aus Valinor verbannt wurden, scheint sich nichts wesentliches geändert zu haben.

Betrachtet man sich Tolkiens Segensreich im Rahmen diser Tradition, so stößt man allerdings auf ein vielsagendes Detail. In einer mittelhochdeutschen Versbearbeitung der Brendan-Geschichte finden wir die folgende Beschreibung der paradiesischen Insel der "neutralen Engel":
der weize ungebuwet wuhs do,
der win ungearbeit so,
do was alles des genuc
daz die erde ie getruc,
swaz ouch ieman solde han.
da vluzen wazzer suze und wol getan.
vische unde vederspil
des was da uzermazen vil.
da was daz wilt allez zam,
der wolf da nie niht genam. (30)
Dort wuchs der Weizen, ohne dass man die Felder bestellen musste, und der Wein gedieh ebenso mühelos; dort gab es von allem genug, was die Erde je hervorgebracht hat, was auch immer ein jeder haben wollte. Da flossen süße und hübsch anzuschauende Bäche. Es gab unermessliche Mengen an Fischen und Vögeln. Alles Wild war dort zahm, der Wolf riss dort kein einziges Tier."
Felder, die von selbst gedeihen und Frucht hervorbringen, gehören zu jedem ordentlichen Irdischen Paradies oder Goldenen Zeitalter, ganz gleich ob bei Hesiod, Ovid, im mittelalterlichen Roman de la Rose, der Völuspa oder Cervantes’ Don Quijote. Selbst in den Verborgenen Tälern (beyuls) der tibetischen Buddhisten im fernen Himalaya „the crops grow without anyone planting and tending them". (31) In Tolkiens Schilderung des Segensreiches hingegen  ist zwar von „Gold unter dem hohen Weizen der Götter" die Rede, und Yavanna – die Demeter unter den Valar – „bestimmte [...] die Zeiten, zu denen alles in Valinor wuchs, blühte und reifte" (32), doch findet man nichts, was der klassischen Formulierung „Frucht gewährte das nahrungsprossende Erdreich/ Immer von selbst, vielfach' und unendliche" (33)  entsprechen würde.
Die Vision vom Goldenen Zeitalter war der Traum einer Agrargesellschaft, für die der Ackerbau ein Synonym für menschliche Arbeit schlechthin und eine Welt, in der die Felder nicht bebaut werden müssen, folglich eine Welt war, in der Arbeit und Mühsal nicht länger existieren. Fällt die Notwendigkeit der Arbeit, so verschwinden zugleich auch die Klassenunterschiede, es gibt keine Herren und keine Knechte mehr. (34)  Derartige Gedanken lagen Tolkien bei der Beschreibung seines Irdischen Paradieses fern. Und das trifft nicht nur auf Valinor, sondern im Großen und Ganzen auch auf die Elbenreiche in Mittelerde zu. Wovon leben die Bewohner Lóriens, eines Reiches, das ausschließlich aus Waldland besteht? Woher stammen all die Köstlichkeiten auf Elronds reichgedeckter Tafel? Auf solche Fragen gibt es keine befriedigende Antwort. Die Elbenreiche besitzen keine wie auch immer geartete ökonomische Grundlage, wie Tolkien selbst einmal auf eine kritische Anmerkung Naomi Mitchisons hin eingestehen musste. (35) Nicht dass sich der sonst so penible Weltenschöpfer hier einen fauxpas geleistet hätte. Es handelte sich um eine ganz bewusste Entscheidung. Insoweit die Elben ein Ideal verkörpern, handelt es sich dabei um das Ideal des vollkommenen Künstlertums. Alle anderen Bereiche des menschlichen Lebens werden dabei völlig ausgeblendet. Tolkien versuchte nicht, seine Vision einer wahrhaft ästhetischen Existenz in einen gesellschaftlichen Rahmen einzubetten. Natürlich wusste auch er, dass in der Realität eine Gemeinschaft nicht nur aus Künstlern bestehen kann. Doch er konnte sich nicht vorstellen, wie er sein Ideal mit den Profanitäten der Ökonomie in Einklang hätte bringen können. Insofern er ein soziales Ideal besaß, kam das Auenland dem am nächsten. Doch eine solch kleinbürgerliche Existenz ist unvereinbar mit dem hehren Anspruch des elbischen Künstlertums. Sie ist viel zu kleingeistig und auch materiell zu arm. Tolkien wusste einfach nicht, wie er dieses Problem hätte lösen können, also verschloss er ganz bewusst die Augen vor ihm. Dadurch erhielt sein Ideal einen ausgesprochen lebensfremden, abstrakten Charakter und zugleich fielen bei der Beschreibung der Elbenreiche und des Segensreiches alle wirtschaftlichen Aspekte notwendigerweise weg. Wozu dann also noch die von selbst gedeihenden Felder des Elysiums?

Doch kehren wir zurück zu Earendil. In den ältesten Entwürfen war die Rolle, die seine Fahrt nach Valinor und die anschließende Verwandlung in den Morgenstern im Gesamtzusammenhang des Mythos spielen sollten, merkwürdig unklar. Bald jedoch erhielten sie eine zentrale, wenn man so will heilsgeschichtliche Bedeutung. Damit entfernte sich der Seefahrer noch weiter vom Typus Eriol/Ælfwine. War dieser ausschließlich Chronist gewesen, so wurde Earendil nun zu einem wichtigen Akteur im Weltendrama, zum Mittler zwischen den Völkern Mittelerdes und den göttlichen Mächten. Er, der selbst Sohn eines Menschen und einer Elbin ist, wird zum Fürsprecher für die von Melkor-Morgoth bedrängten "Kinder Ilúvatars". Nach Feanors Aufruhr, dem Sündenfall der Elben, hatten die Valar sich von Mittelerde abgewandt und griffen – mit Ausnahme Ulmos – nicht mehr in dessen Geschicke ein. Erst Earendils selbstlose Fahrt durch das Schattenmeer macht die Versöhnung zwischen den engelhaften Mächten und den "Kindern Ilúvatars" möglich. Entsprechend wird er von Eonwe, dem Herold der Valar, in den Unsterblichen Landen willkommen geheißen: 
Gegrüßt seist du, Earendil, der Seefahrer ruhm-reichster, Erwarteter, der unversehens da ist, Ersehnter jenseits allen Hoffens! Gegrüßt seist du, Earendil, der du das Licht trägst, das älter ist als Sonne und Mond! Licht der Erdenkinder, Stern in der Dunkelheit, Juwel in der Abendsonne, Strahlenkranz am Morgen! (36)
Diese Worte weisen natürlich auf Earendils Verwandlung in den Morgenstern voraus. Das Licht, das er bei sich trägt und das "älter ist als Sonne und Mond", ist einer der Silmaril, jener magischen Juwelen, in denen das Licht des Goldenen Zeitalters eingefangen wurde. Doch auch wenn die Symbolik ganz die des tolkienschen Mythos ist, besitzt Eonwes Gruß einen unverkennbar biblischen Klang. Der Seefahrer verwandelt sich hier in eine beinahe messianische Gestalt.
Greift Tolkien damit nicht das Motiv des "echten" Earendel aus dem Christ wieder auf? Sicher, in einem Brief aus dem Jahr 1967 hat er dazu geschrieben: 
Die Verwendung von earendel in ags.-christlicher Symbolik als Vorbote des Aufgangs der wahren Sonne in Christo ist meiner Verwendung des Namens vollkommen fremd. Der Sündenfall des Menschen liegt in der Vergangenheit und steht nicht mehr auf der Tagesordnung; die Erlösung des Menschen liegt in ferner Zukunft. Wir sind in einer Zeit, wo die Existenz Erus, des Einen Gottes, zwar den Weisen bekannt ist, wo es aber keinen Zugang zu ihm gibt, es sei denn über oder durch die Valar, obwohl von jenen, die numenorischer Abkunft sind, immer noch in (unausgesprochenen) Gebeten Seiner gedacht wird. (37)
Dass Menschwerdung und Opfertod Christi keine Rolle in einer Geschichte spielen können, die in einer fiktiven Vorzeit angesiedelt ist, versteht sich von selbst. Dennoch scheint mir der Bezug zum "earendel" des angelsächsischen Gedichtes jetzt wieder enger zu sein. Im Christ erscheint der Morgenstern Johannes als Zeichen der Hoffnung für „those who long ere this, compassed about with mist and in the darkness, clothed in sin, sit here in the long night, and must needs endure the dark shadow of Death". Dass Tolkien die Lage der Menschheit nicht viel anders beurteilt hätte als der altenglische Dichter, dürfte klar sein. Und wie dieser sah auch er im gnädigen Eingreifen Gottes die einzige Hoffnung auf Rettung. Nun kündigt der Morgenstern Earendil zwar nicht die Geburt des Gottessohnes an, der die Menschheit von der Erbsünde befreien soll, doch ließe sich durchaus argumentieren, die Versöhnung mit den Valar stelle in ähnlicher Weise die Wiedergutmachung eines Sündenfalles dar. Noch wichtiger scheint mir allerdings zu sein, dass der Seefahrer mit seiner Verwandlung in einen Stern zu einem eschatologischen Symbol wird: 
Als nun Vingilot zum ersten Mal die Meere des Himmels befuhr, da stieg er unverhofft auf, hell und funkelnd, und die Völker von Mittelerde sahen es von fern, und sie nahmen es als ein Zeichen der Hoffnung und nannten es Gil-Estel, den Stern der Hohen Hoffnung. (38)
Was folgt ist der Feldzug der Heere Valinors gegen Morgoth, der mit dessen Niederwerfung und Verbannung aus den "Kreisen der Welt" endet. Diese letzte große Schlacht des Ersten Zeitalters besitzt eindeutig apokalyptische Züge. Nicht zufällig trägt sie keinen elbischen Namen, wie die übrigen großen Schlachten, sondern wird nur "Krieg des Zorns" ("War of Wrath") genannt, eine kaum verhüllte Anspielung auf den "Tag des Zorns" ("Dies Irae" – "Day of Wrath") der christlichen Mythologie. Auf dem Höhepunkt des Kampfes greift Earendil selbst in das Geschehen ein und tötet Ancalagon, den mächtigsten der Drachen, „und stieß ihn vom Himmel herab." Ist es so abwegig, dabei an die Szene aus der Offenbarung des Johannes zu denken, in der der Erzengel Michael den Drachen, „die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt" (Off 12,9), auf die Erde herabschleudert? Zumal Tolkiens Lieblingszeile aus dem Christ "earendel" ja ausdrücklich "engla beorhtast", also "den strahlendsten der Engel" nennt. Der hinabgestoßene Ancalagon bringt die mächtigen Thangorodrim zum Einsturz – drei Berge, die sich über dem Tor von Morgoths "Eisenhölle" erheben. Das heisst "Berge" ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Die „Donnertürme der Thangorodrim" sind vielmehr gewaltige Schornsteine, von Melkor erbaut 
aus der Asche und der Schlacke seiner unterirdischen Öfen und den Schuttmassen von seinen Grabungen. Sie waren schwarz und kahl und stiegen über alle Maßen hoch; und aus ihren Spitzen quoll schwarzer, stinkender Rauch in den nördlichen Himmel. 
Selbst hinter dem mythischen Szenario des Silmarillion verbirgt sich also einmal mehr der Hass auf die "Maschinengesellschaft2, der hier nun allerdings wahrhaft apokalyptische Formen annimmt. Der Krieg des Zorns ähnelt einem Probelauf für Armageddon; eine Art kleiner Jüngster Tag, der zwar nicht gleich die ganze Welt, aber doch beträchtliche Teile Mittelerdes der Vernichtung anheimgibt: 
Denn so heiß tobte die Schlacht dieser Feinde, daß die nördlichen Gegenden der westlichen Welt zerrissen wurden und das Meer durch viele Spalten hereinbrach; und es herrschten Verwirrung und großer Lärm, und Flüsse versiegten oder suchten sich einen neuen Lauf, und Täler wurden gehoben und Berge niedergetreten. (39) 
Nun gehörte Tolkien wohl nicht zu den christlichen Fanatikern, die jeden Tag erwarten, den Menschensohn auf den Wolken des Himmels kommen zu sehen. Dennoch waren ihm chiliastische Hoffnungen nicht fremd: 
[Ich] glaube [...] an ein ‘Millenium’, das prophezeite Tausendjährige Reich der Heiligen, d.h. derjenigen, die sich bei all ihren Unvollkommenheiten am Ende doch niemals mit Herz und Willen der Welt oder dem bösen Geist gebeugt haben. (40)
Zwar entsteht mit der Niederwerfung Melkors kein messianisches Friedensreich in Mittelerde (höchstens ließe sich dabei an das für die Dúnedain reservierte Númenor denken), doch das ebenso unerwartete wie machtvolle Eingreifen einer himmlischen Gewalt zur Erlösung einer vom Bösen beherrschten Welt ist ein verbindendes Motiv. 
Auf den ersten Blick ist der Inhalt dieses Traumes von Apokalypse und Tausendjährigem Reich durchaus reaktionär. Der „böse Geist", dem die Heiligen sich widersetzt haben, ist ja „die Mechanik, der ‘wissenschaftliche’ Materialismus, der Sozialismus", und Melkor, der im apokalyptischen Krieg des Zorns gestürzt wird, verkörpert wie alle satanischen Widersacher des tolkienschen Mythos die Moderne, das pervertierte Schöpfertum, die Herrschaft der "Maschine". Doch gerade die Figur des Earendil verleiht dem Ganzen noch eine etwas andere Note, und das in zweierlei Hinsicht:
1)  Der Krieg des Zorns ist eine mustergültige Eukatastrophe, aber der Seefahrer ist kein Frodo. Zwar bezeichnet er selbst seine Fahrt in den Fernen Westen als „mein Schicksal" und Ulmo erklärt im Rat der Valar: „Dazu ward er in die Welt geboren" (41), aber seine Bestimmung ist ihm von keinem Gandalf offengelegt worden, woraufhin er sie demütigst angenommen hätte. Sein aus Mitleid für die von Melkor unterdrückten Völker Mittelerdes unternommener Versuch, Valinor zu erreichen, bedeutet vielmehr einen direkten Verstoß gegen ein "göttliches2 Gebot. Und doch konnte nur auf diese Weise der Feldzug gegen den Herrn von Angband in die Wege geleitet werden. Wenn die Rettung der Welt also auch hier nur durch die himmlischen Mächte herbeigeführt werden kann, haben wir in Earendil doch das Bild eines Menschen vor uns, der aus eigener Initiative ein ungeheures Wagnis auf sich nimmt und eine Grenze zu überschreiten versucht, die als unüberwindlich gilt und zudem auch noch mit einem quasi religiösen Tabu belegt ist. Der mutige und rastlose "Liebhaber des Meeres" eignet sich ganz und gar nicht als Exempel der Demut. Dabei steht ihm seine Gattin Elwing zur Seite, und auch wenn diese ganz nach dem Ideal des liebenden Eheweibs gezeichnet ist, bleibt es doch bemerkenswert, dass er ohne sie Valinor allem Anschein nach nie erreicht hätte. Wie schon in der Geschichte von Beren und Lúthien ist es auch hier so, dass die größten Heldentaten nur von Mann und Frau gemeinsam vollbracht werden können. Ein Gedanke, der sich im Herr der Ringe leider so gar nicht wiederfindet.
2) Unabhängig von der Handlung sollte man die Figur des Seefahrers stets in jener weiteren Perspektive sehen, in der er ursprünglich stand: Der klagende und lockende Schrei der Möwen; das Donnern der Brandung an den Klippen von Nevrast-Cornwall; das leise Geräusch der Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schlagen, während über dem Mast die fremden Sternbilder weitentfernter Weltregionen am Nachthimmel funkeln. Diese Atmosphäre und die mit ihr verbundenden Gefühle und Sehnsüchte bleiben mit Earendil verknüpft, auch wenn er zum Stern und eschatologischen Zeichen der Hoffnung geworden ist. In ihm verkörpert sich das Verlangen nach einer Freiheit, die nichts mit der biederen Gemütlichkeit von Beutelsend oder der ästhetisch-aristokratischen Pracht von Elronds Haus gemein hat.

Im Herr der Ringe gelangen Tolkiens Helden erst ganz am Ende an die Ufer des Ozeans, aber eigentlich ist das Meer bereits den ganzen Roman über präsent, wie ein fernes Panorama, vor dem sich die eigentliche Handlung entfaltet. Schon ganz zu Beginn seiner Fahrt, in der letzten Nacht, die er im Auenland verbringt, hat Frodo einen eigenartigen Traum:
Dann hörte er ein Geräusch in der Ferne. Zuerst dachte er, es sei ein starker Wind, der durch die Blätter des Waldes rauschte. Doch merkte er, daß es nicht Blätter waren, sondern das Rauschen des fernen Meeres, ein Geräusch, das er in seinem Leben, wenn er wach war, nie gehört hatte, obwohl er es oft in seinen Träumen vernommen hatte. Plötzlich stellte er fest, daß er im Freien war. Es waren überhaupt keine Bäume da. Er war auf einer dunklen Heide, und es lag ein seltsamer Salzgeruch in der Luft. Als er aufschaute, sah er einen großen weißen Turm vor sich, der für sich auf einem hohen Bergrücken stand. Ein starkes Verlangen überkam ihn, auf den Turm zu steigen und das Meer zu sehen. Er begann, den Berg zu erklimmen, um zu dem Turm zu gelangen: aber plötzlich zuckte ein Blitz über den Himmel, und es donnerte. (42)
 Es existiert kein erkennbarer Zusammenhang zwischen dieser Vision und der Reise zum Schicksalsberg. Dennoch hat sie ihre Berechtigung an dieser Stelle. Das Unternehmen, an dessen Beginn Frodo steht, wird kein zeitlich begrenzter ‘Abenteuerurlaub’ sein wie einst bei Bilbo – "There and Back Again". Es wird ihn für immer herausreißen aus dem heimeligen Universum des Auenlandes. Es wird ihm zeigen, dass die Welt sowohl großartiger als auch grausamer ist, als er sich je am knisternden Kaminfeuer von Beutelsend hätte träumen lassen. Gezeichnet vom verführerisch-zerstörerischen Einfluss des Ringes wird er seinen Frieden letztenendes nicht mehr in den grünen Gauen seiner Heimat, sondern nur dort draußen in jener fremden Weite finden können, in der sich das Rauschen der Wellen verbindet mit der Verheißung einer Rückkehr zum Goldenen Zeitalter.
Ein langes Gedicht, das Bilbo in Bruchtal vorträgt, führt das Earendil-Motiv in den Roman ein. (43) Wir hören von seiner Irrfahrt über das Meer, seiner Ankunft in Valinor und seiner Verwandlung in den Morgenstern – als bleibendes Zeichen der Hoffnung für die Völker Mittelerdes,
for ever still a herald on
an errand that should never rest
to bear his shining lamp afar,
the Flammifer of Westernesse.
Und diese Rolle spielt er auch im weiteren Verlauf der Handlung, ist es doch sein Licht, das in Galadriels Phiole eingefangen ist. Wenn Frodo in der alles erstickenden Dunkelheit von Kankras Lauer das Geschenk der Königin hervorholt, ruft er dabei: „Aiya Earendil Elenion Ancalima". (44) Der elbische Ausruf, der "Heil Earendil, hellster der Sterne!" bedeuten soll, ist eine deutliche Anspielung auf das „Eala earendel, engla beorhtast" aus dem Christ und betont in seiner stoßgebetartigen Form die religiöse Dimension des Geschehens. (45)
Das Meer wird hier zwar nicht erwähnt, doch sollten wir es stets mitdenken, wenn von Earendil die Rede ist. Noch als Stern ist er "der Seefahrer", der mit seinem Schiff Vingilot nunmehr den Ozean des Himmels befährt. Im Vordergrund steht freilich das stellare Motiv. Es findet seine Fortsetzung in dem Lied, das Sam in einem Moment tiefster Verzweifelung im Turm von Cirith Ungol anstimmt.
Though here at journey’s end I lie
in darkness buried deep,
beyond all towers strong and high,
beyond all mountains steep,
above all shadows rides the Sun
and Stars for ever dwell:
I will not say the Day is done,
nor bid the Stars farewell.
Das in einem Zustand der "Inspiriertheit" gesungene Lied findet seine reale Erfüllung während einer späteren Nachtwache Sams in der unwirtlichen Ödnis von Mordor:
Hoch über dem Ephel Duath im Westen war der Nachthimmel noch schwach erhellt und bleich. Dort, zwischen dem Gewölk über einem dunklen Felsen hoch oben im Gebirge, sah Sam eine Weile einen weißen Stern funkeln. Seine Schönheit griff ihm ans Herz, als er aufschaute aus dem verlassenen Land, und er schöpfte wieder Hoffnung. Denn wie ein Pfeil, klar und kalt, durch-fuhr ihn der Gedanke, daß letztlich der Schatten nur eine kleine und vorübergehende Sache sei: es gab Licht und hehre Schönheit, die auf immer außerhalb seiner Reichweite waren. (46)
Ob es sich tatsächlich um den Abendstern Earendil handelt, wird nicht gesagt, ist aber eigentlich auch unwichtig. Der symbolische Bezug zumindest ist klar.
Konzentriert sich bei Frodo und Sam alles auf das religiöse Element und die damit verbundene Hoffnung auf eine unbefleckte Schönheit jenseits der industriellen Hölle von Mordor, so wird die unmittelbare Sehnsucht nach dem Meer vor allem mit der Figur des Legolas verbunden. Die Liebe zur See scheint in der Brust eines jeden Elben zu schlummern und nur auf einen äußeren Anlass zu warten, um zu einem unstillbaren Verlangen anzuschwellen. Und genauso ergeht es auch dem Sohn Thranduils, als er zum ersten Mal in die Nähe der Küste gelangt und das Kreischen der Seevögel vernimmt. Nie wieder wird er Frieden in Mittelerde finden können. Und als wäre es Tolkien darum gegangen, dem Leser die alte Geschichte von Tuors Ankunft in Nevrast ins Gedächtnis zu rufen, finden sich hier ganz die selben Details: Die Schreie der Möwen, der Seewind, der Sonnenuntergang:
To the Sea, to the Sea! The white gulls are crying,
The wind is blowing, and the white foam is flying.
West, west away, the round sun is falling.
Grey ship, grey ship, do you hear them calling.
In der Logik des Mythos geht nur deshalb eine so große Anziehungskraft vom Meer aus, weil es den Weg ins Irdische Paradies bildet. Doch die Bilder sprechen eine andere Sprache. Nicht was sich jenseits des Ozeans befindet ist von Interesse, sondern die See selbst in ihrer unendlichen Weite und ungezügelten Elementargewalt. Die mythologische Einkleidung will nicht recht zu der Sehnsucht passen, die das Meer in Tolkien weckt, und die offenbar auf anderes gerichtet ist, als auf das in Valinor verkörperte Ideal einer geordneten, ästhetischen Welt unter Gottes Gesetzen. Worauf? Dass hätte wohl Tolkien selbst nicht zu sagen vermocht. Aber man hat das Gefühl, als beunruhige ihn dieses Verlangen, als spüre er die Gefahr, die es für die kleinbürgerliche Ordnung seines Lebens bedeutet. Die Warnung Galadriels scheint auch für ihn ausgesprochen zu sein:
Legolas Greenleaf long under tree
In joy thou hast lived. Beware of the Sea!
If thou hearest the cry of the gull on the shore,
Thy heart shall then rest in the forest no more.
All das bleibt zugegebenermaßen äußerst vage. Wir spüren ein unbestimmtes Verlangen nach Ferne und Weite, alles übrige bleibt Spekulation. Aber vielleicht ist die mangelnde Konkretheit in diesem Fall sogar von Vorteil, denn überall da, wo Tolkien seinen Sehnsüchten bewusste Form zu verleihen versucht, setzt sich der Kleinbürger in ihm durch und schwärmt entweder von idyllischer Ländlichkeit oder gibt sich melancholischen Träumen von einer eigenartig leblosen elbischen "Schönheit" hin. Die Stimme des Meeres aber ist bei ihm die Stimme des Un- oder zumindest des nur Halbbewussten.


(1) Michael Moorcock: Wizardry and Wild Romance. S. 127.
(2) Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Tolkien allem Anschein nach nicht eben viel für das britische Empire übrig hatte. In einem Brief an seinen Sohn Christopher beschrieb er 1943 seine patriotischen Gefühle so: „[I]ch liebe England (aber nicht Großbritannien, geschweige denn das britische Commonwealth (grr!))"  {Brief an Christopher Tolkien [9. Dezember 1943]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe Nr. 53. S. 89f.} Und auch die folgende Bemerkung dürfte sich wohl auf das Empire beziehen: „Das römische Reich hätte ich seinerzeit gehaßt (ich hasse es jetzt noch) und wäre doch ein patriotischer römischer Bürger geblieben, obwohl mir ein freies Gallien lieber gewesen wäre und ich auch an Karthagern Gutes gefunden hätte."  {Brief an Christopher Tolkien [31. Juli 1944]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 77. S. 121.} Im Klartext: Ich hasse das Empire, bleibe aber trotzdem ein treuer englischer Patriot, obwohl mir ein freies Indien lieber wäre und ich auch an den Deutschen manches Gute zu entdecken vermag. Ob man Tolkiens Abneigung gegen das britische Weltreich allerdings als Antikolonialismus auslegen darf, ist eher fraglich. Vermutlich sah er im Empire vor allem einen Ausdruck des von ihm gehassten "Kosmopolitismus", worunter er jede Tendenz verstand, die die Auflösung regionaler und nationaler Eigenheiten begünstigte. Diese Einstellung richtete sich gegen den Internationalismus ebenso wie gegen den Kolonialismus. Sie war nicht progressiv, sondern konservativ. Allerdings schrieb er 1945 über den Pazifikkrieg: „Obendrein bringe ich in diesem Fall, in diesem restlichen Krieg, keine Spur von Patriotismus auf, denn über den britischen oder amerikanischen Imperialismus im Fernen Osten weiß ich nichts, das mich nicht mit Bedauern und Ekel erfüllte. Keinen Penny würde ich dafür hergeben, geschweige denn einen Sohn, wenn ich ein freier Mann wäre." {Brief an Christopher Tolkien [29. Mai 1945]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe Nr. 100. S. 155.} Ich glaube, manches an der Geschichte von Númenór ließe sich als eine Kritik am britischen Imperialismus interpretieren. Doch das wäre Stoff für einen anderen Essay.
(3) Brief an Deborah Webster [24. Oktober 1958]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 213. S. 378.
(4) Vgl.: Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie. S. 152f.
(5) Brief an Rayner Unwin [24. Oktober 1952]. In: J:R:R: Tolkien: Briefe. Nr.135. S. 220.
(6) Brief an Michael Tolkien [1967/68]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 306. S. 510f.
(7) J.R.R. Tolkien: Der kleine Hobbit. S. 70f. Die Riesen der Mythologie als Verkörperungen von Naturgewalten zu interpretieren, war in der Literatur- u. Religionswissenschaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. üblich.
(8) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 48f.
(9) J.R.R. Tolkien: Tuor und seine Ankunft in Gondolin. In: Ders.: Nachrichten aus Mittelerde. S. 38f. Für die älteste Version vgl.: Das Buch der Verschollenen Geschichten. Bd. II. S. 164f. Das entsprechende Kapitel im Silmarillion gibt nur einen äußerst gerafften Bericht von den Wanderungen Tuors, dem die Details fehlen, auch wenn das Meeres- und Sehnsuchtsmotiv kurz berührt wird.
(10) Zit. nach: Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie. S. 86.
(11) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 25; 33.
(12) Vgl.: George P. Landow: Morris and Tolkien.
(13) Teil 1 - Teil 2 - Teil 3
(14) Vgl.: E. P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary. S. 114-34.
(15) William Morris: The Earthly Paradise (March-August). S. 1f.
(16) Die Wikingerinvasion lässt vermuten, dass die Geschichte im 9. Jahrhundert spielen soll, doch vermittelt sie den Eindruck, als gäbe es kein Christentum. An einer Stelle sprechen Ælfwines Gefährten sogar wie selbstverständlich von "Göttern". Tolkien wollte wohl von Anfang an alle offen christlichen Bezüge aus seiner Mythologie aussparen, was hier zu einem etwas eigentümlichen Ergebnis geführt hat. 
(17) J.R.R. Tolkien: Das Buch der Verschollenen Geschichten. Bd. II. S. 322.
(18) Ebd. Bd. I. S. 25.
(19) Ebd. Bd. I. S. 18.
(20) Ebd. Bd. II. S. 331.
(21) Zu Beginn noch "Earendel"; ich benutze im Folgenden stets die letztgültige Form des Namens, wie sie im Herr der Ringe und im Silmarillion verwendet wird.
(22) Christ. V. 104-124.
(23) Cynewulf: Christ. Translated by Charles W. Kennedy. S. 4. Inzwischen hat sich scheinbar die Ansicht durchgesetzt, dass dieser Teil des Christ nicht von Cynewulf stammt.
(24) Die altenglischen Blickling Homilien (10. Jh.) bezeichnen Johannes den Täufer ausdrücklich als "se niwa eorendel", was meist als "die neue Morgendämmerung" oder "der neue Morgenstern" übersetzt wird: „Nu seo Cristes gebyrd at his aeriste, se niwa eorendel Sanctus Johannes; and nu se leoma thaere sothan sunnan God selfa cuman wille." „And now the birth of Christ [was] at his appearing, and the new day spring (or dawn) was John the Baptist. And now the gleam of the true Sun, God himself, shall come." (The Blickling Homilies. Translated by R. Morris. S. 83.)
(25) De facto existieren offenbar nur sehr wenig Belege für den mythologischen Hintergrund des Namens. Snorri Sturluson erwähnt in seiner Prosa-Edda (Skaldskaparmal XVII) im Zusammenhang mit einem der zahlreichen Kämpfe Thors gegen die Riesen einen gewissen Aurwandil, den Unverzagten, dessen abgebrochener Zeh von dem Gott als Stern bzw. Sternbild an den Himmel versetzt wird. Bei Saxo Grammaticus (Gesta Danorum, III) erscheint Horvendil als jütländischer Held, der die Krone Dänemarks erringt und dessen Sohn Amleð (Shakespeares Hamlet) ist. In dem mittelhochdeutschen "Spielmannsepos" Orendel schließlich hat er sich in einen gnadenlosen Kreuzritter und Liebling der Jungfrau Maria verwandelt, dessen Geschichte mit der Legende des Heiligen Rocks von Trier verknüpft wird. Früher wollte man in all dem Spuren eines Frühlingsmythos erkennen. Inzwischen ist man in Bezug auf solch fantasievolle Konstruktionen vorsichtiger geworden.
(26) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 271. In den ersten Entwürfen wird er nicht von seiner Gattin begleitet.
(27) J.R.R. Tolkien: Das Buch der Verschollenen Geschichten. Bd. II. S. 286.
(28) Vgl.: Ebd. S. 274ff.
(29) Brief an Milton Waldman [1951]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 131. S. 192.
(30) Von sente Brandan. V. 1117-1126.
(31) A Description of the Route to the Beyul of Khembalung, Which is Called Thongwa Tungden (Meaningful to See) [...]. Zit. nach: Johan Reinhard: Khembalung: The Hidden Valley. In: Kailash, Bd. 6, Nr.1 [1978]. S. 20.
(32) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 86f.
(33) Hesiod: Hauslehren. I, 118f.
(34) Die spätmittelalterlichen Erzählungen vom Schlaraffenland oder Cocagne sind nur parodistisch überzogene Versionen des alten Irdischen Paradieses. Das Land of Cockaygne der irischen Überlieferung ist übrigens gleichfalls eine Insel im Westen. 
(35) Vgl. Brief an Naomi Mitchison [25. September 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 154. S. 259f. Eine der ganz seltenen Schilderungen elbischen Ackerbaus findet sich im leider unvollendet gebliebenen Stabreimepos über die Kinder Húrins, wo die verlassenenen Felder und Obstgärten Nargothronds beschrieben werden: „And they came to a country   kindly tended;/ through flowery frith   and fair acres/ they fared, and found   of folk empty/ the leas and leasows   and the lawns of Narog,/ the teeming tilth   by trees enfolded/ twixt hills and river.   The hoes unrecked/ in the fields were flung,   and fallen ladders/ in the long grass lay   of the lush orchards;" (The Lay of the Children of Húrin. V. 1794-1801. In: J.R.R. Tolkien: The Lays of Beleriand. S. 78.) 
(36) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 275.
(37) Entwürfe zu einem Brief an „Mr. Rang" [August 1967]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 297. S. 504.
(38) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. 277.
(39) Ebd. S. 278; 133; 279.
(40) Brief an Christopher Tolkien [30. Januar 1945]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 96. S. 148.
(41) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 274f.
(42) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 139f.
(43) Bilbos Ballade stellt eigentlich eine heroisch-mythische "Überarbeitung" des geschickt gebauten und klanglich sehr hübschen Gedichtes Errantry dar, das erstmals 1933 im Oxford Magazine veröffentlicht und später in The Adventures of Tom Bombadil (1962) aufgenommen wurde. Die Übertragung dieses "nonsense rhyme" auf Earendil passt sehr gut zur Figur des alten Hobbits, der zwar bewandert ist in den Überlieferungen der Elben, aber dennoch der schlichten Tradition seines Volkes verhaftet bleibt. Doch vielleicht steckt in ihr auch ein Stück tolkienscher Selbstironie. Der "Professor" nahm sich und seine Schöpfung bei weitem nicht immer so ernst, wie viele seiner Bewunderer dies immer noch tun.
(44) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. II. S. 380.
(45) Die Mordorkapitel stecken ohnehin voller religiöser Symbole: Da wären z.B. die wiederholte Anrufung Elbereths, die starke Betonung der Licht-Finsternis-Motivik, die"eucharistische2 Wegzehrung Lembas und nicht zuletzt die mehrfache Bezugnahme auf die madonnenhafte "Lady" Galadriel. Der Titel lässt nicht nur an das christliche "Our Lady" denken, sondern macht die Elbenkönigin auch zum Widerpart Shelob-Kankras, die von den Orks halb ironisch, halb furchtsam "Her Ladyship" genannt wird – die Spinne ist ja nicht bloß ein widerliches Monstrum wie in Jacksons Film, sondern die Tochter Ungolianths, der "Weberin der Finsternis", einer wahrhaft dämonischen Kreatur, die selbst von Melkor gefürchtet wurde.
(46) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 223.

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