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Samstag, 5. April 2014

Vampire in Amerika (IV): "Lemora"

Unglücklicherweise war die einzige Fassung von Lemora: A Child's Tale of the Supernatural (aka Lemora: The Lady Dracula & The Legendary Curse of Lemora), die ich auftreiben konnte, von geradezu unterirdischer Bild- und Tonqualität. Streckenweise konnte ich nicht viel mehr als Schemen im Dunkeln erkennen, und Teile des Dialogs waren so gut wie unverständlich. Auch handelte es sich natürlich nicht um die ungekürzte, 113 Minuten lange Version, sondern um die 85minütige Fassung, in der Richard Blackburns Film 1975 erstmals in die Kinos gelangte. Mein Urteil fußt also auf einer ziemlich eingeschränkten Grundlage. Dennoch besteht für mich kaum ein Zweifel, dass dies der beste, auf jedenfall aber der interessanteste der 70er Jahre - Vampirfilme gewesen ist, die ich den letzten Wochen gesehen habe. Wobei ich einschränkend hinzufügen will, dass es mir nicht möglich war, George A. Romeros Martin einen erneuten Besuch abzustatten. Andernfalls sähe die Lage vermutlich etwas anders aus.

Anders als die meisten anderen Streifen der Post-Yorga-Ära porträtiert Lemora die untoten Blutsauger nicht als fremdartige Eindringlinge in das Amerika der Gegenwart. Die Geschichte ist vielmehr in den 30er Jahren angesiedelt und besitzt mit ihren Motiven von Verfall, uralten Schrecken und unterdrückter Sexualität einen deutlichen Anhauch von Southern Gothic, mit einer kleinen Prise Lovecraft angereichert. Das Grauen kommt hier nicht von außen, es ist hausgemacht. Dabei fällt es schwer, klar auszumachen, wer genau eigentlich die Bösen und wer die Guten sind.



Lila Lee (Cheryl "Rainbeaux" Smith) ist die Tochter eines brutalen Gangsters, den sie jedoch seit ihrem neunten Lebensjahr nicht mehr gesehen hat. Die letzten Jahre hat sie in der Obhut eines Baptisten-Pastors (Richard Blackburn) verbracht, in dessen Augen das nunmehr dreizehnjährige Mädchen zu einer engelsgleichen Verkörperung von Reinheit und Unschuld geworden ist, lebendiger Beweis von Gottes Triumph über die Mächte des Bösen. Was nicht verhindert, dass er sich sexuell zu der allmählich zu einer jungen Frau heranreifenden und außergewöhnlich hübschen Lila hingezogen fühlt. {Gerüchten zufolge soll es in der 113minütigen Fassung des Filmes Szenen geben, in denen er sie sexuell bedrängt, was dem weiteren Verlauf der Handlung eine sehr viel eindeutigere Note verleihen würde. In der Kinoversion kommt es zu keinerlei Übergiffen.} 
Als Lila eines Tages einen Brief erhält, in dem sie aufgefordert wird, ihren im Sterben liegenden Vater aufzusuchen, um sich mit ihm "auszusöhnen", beschließt sie spontan, wegzulaufen und sich in das mysteriöse Dorf Astaroth {ich weiß, nicht eben subtil} zu begeben. Die Welt, die sie betritt, kaum dass sie die schützenden Mauern des Pfarrhauses hinter sich gelassen hat, ist ein schattenhaftes Alptraumuniversum voller Schmutz und Gewalt {vor allem Gewalt von Männern gegen Frauen}. Der Bus, der sie in das abgelegene und übel beleumundete Astaroth bringen soll, wird mitten im nächtlichen Sumpfland von einer Horde zerlumpter, tierhafter Vampir-Mutanten überfallen, und wenig später findet sich unsere Heldin eingesperrt im Keller eines der Häuser von Astaroth wieder. 
Spätestens an diesem Punkt {aber eigentlich bereits während der Szenen im Busbahnhof} bekommt der Film einen surreal-traumartigen Charakter. Cinematographie und Soundtrack schaffen eine verstörende und sehr dichte Atmosphäre. Von den Bewohnern Astaroths bekommen wir zuerst nur eine gruselige alte Greisin und einige noch gruseligere Kinder zu sehen, die die arme Lila erschrecken und verspotten. Schließlich jedoch lässt die geheimnisvolle Vampirlady Lemora (Lesley Gilb) das junge Mädchen in ihr Herrenhaus bringen. Im Verlauf des Abends macht sie Lila nicht nur mit solch "sündigen" Vergnügungen wie Tanz und Alkohol bekannt, sondern zeigt ihr auch auf andere Weise sehr deutlich ihre Zuneigung {wobei die homoerotischen Untertöne nicht zu überhören sind} und stellt ihr in Aussicht, dass sie am nächsten Tag vermittels einer geheimnisvollen Zeremonie zu ihrer "Blutschwester" werden soll, was ihr die Tür zum "wahren" Leben öffnen werde. Auf die ganz von den puritanischen Werten ihres "Ziehvaters" beherrschte Lila wirkt all dies äußerst verstörend und verwirrend. Als sie in derselben Nacht zu flüchten versucht, spitzen sich die Ereignisse auf dramatische Weise zu.

An einem kann kein Zweifel bestehen: Lemora ist ein ungewöhnlicher Film, der sich sehr deutlich von der Mehrheit der amerikanischen B-Movies jener Ära abhebt. Und dass er dennoch dieser oft nachwievor mit leichter Herablassung oder postmoderner Ironie behandelten Filmfamilie angehört, verdeutlicht nicht nur das offenbar sehr kleine Budget, das Blackburn und seinem Team zur Verfügung stand, Hauptdarstellerin Cheryl "Rainbeaux" Smith war auch eine Art Star des Exploitation-Films der 70er Jahre, deren Karriere und Leben freilich am Ende eine sehr tragische Wendung nehmen sollten. 
Was seine Ästhetik betrifft macht Lemora eher einen "europäischen" als amerikanischen Eindruck, und es verwundert mich nicht, dass der in seinem Heimatland offenbar ruhmlos untergegangene Streifen später eine Art Wiederauferstehung ausgerechnet in Frankreich erleben sollte. Eine ähnliche Mischung aus leicht surreal anmutender Filmpoesie und klassischen B-Movie-Stoffen finden wir ja nicht nur bei den Italienern {Dario Argento, Lucio Fulci, Mario Bava}, sondern z.B. auch in den besseren Werken des spanischen Exploitation-Meisters Jess Franco. Womit ich nicht gesagt haben will, dass der amerikanische B-Movie in dieser Hinsicht überhaupt nichts aufzuweisen hätte. So zeichnen sich Roger Cormans Poe-Klassiker der 60er Jahre trotz deutlicher stilistischer Unterschiede durch eine vergleichbare ästhetische Sensibilität aus, und noch enger verwandt erscheint mir z.B. ein Film wie Messiah of Evil (1973).*
Doch wie dem auch sei, auf jedenfall besitzt Lemora eine faszinierend poetische Qualität. Von wenigen Ausnahmen abgesehen spielt die Handlung nachts, was nicht nur die Möglichkeit zu einem streckenweise recht beeindruckenden Spiel mit Schatten und nur undeutlich auszumachenden Gesichtern und Gestalten eröffnet, sondern seinen Niederschlag auch in der eigenwilligen Farbgebung gefunden hat. Der Film wird beherrscht von kühlen Blautönen. Nur hie und da wird durch eine Kerze oder Fackel ein etwas wärmerer Farbton in ihn hineingetragen. Damit wird die alptraumhaft-unwirkliche Atmosphäre des Ganzen auf ebenso effektvolle wie subtile Weise verstärkt.
Vor allem was das Pacing betrifft hat der Film allerdings auch so seine Schwächen. Dass der Ablauf der Handlung nicht immer logisch erscheint, kann man einem Werk dieser Art nicht zum Vorwurf machen, aber das entschuldigt nicht einige unverkennbare Längen, bei denen der Rhythmus des Ganzen deutlich ins Stocken gerät.

Wie vielleicht nicht anders zu erwarten, fällt eine eindeutige Interpretation von Lemora nicht leicht. Es ist schwer auszumachen, wohin genau der offensichtliche Symbolismus des Films den Betrachter oder die Betrachterin führen soll.
Kim Newman vertritt in Nightmare Movies die Ansicht, Lemora benutze "the vampire as a force for libertarian feminism".** Und irgendwelche katholischen Organisationen verdammten ihn bei seinem Erscheinen offenbar als "leavened with a fierce anti-Catholicism". 
Letzteres ist offensichtlich Unsinn. Katholizismus spielt keine Rolle in Lemora. Die Kirchengemeinde, in der Lila aufwächst, ist eindeutig baptistisch. Wenn überhaupt, so ließe sich allerhöchstens von einem "antichristlichen" Inhalt sprechen, aber auch das wäre wohl ein etwas zu starker Ausdruck. Ohne Zweifel macht die Gemeinde keinen sonderlich sympathischen Eindruck und soll eine von repressiven Werten beherrschte, kleinbürgerlich-konservative Gesellschaft voller Missgunst und Heuchelei repräsentieren. Auch hinterlässt die Art, in der der Reverend aus Lila eine Ikone der Reinheit gemacht hat, ein unangenehmes Gefühl. Nicht nur wird man dabei an den alten Madonna-Hure-Komplex erinnert, der Pastor isoliert das junge Mädchen damit auch von allen übrigen Mitgliedern der Gemeinde. Wie Lila selbst sagt, wird sie von ihren Altersgenossinnen gehasst. Dennoch erscheint der Reverend nicht als ein "schlechter" Mensch.
Andererseits fällt es schwer, Lemora als eine wirkliche "feministische Befreierin" zu interpretieren. Ja, sie führt Lila in eine Welt sinnlicher Freuden ein, die ihr bislang als "sündig" und "unchristlich" verwehrt wurde. Doch zugleich macht sie einen herrschsüchtigen und mitunter grausamen Eindruck. Auch wirkt alles, was mit Lila  in Astaroth geschieht, eher unheimlich und verstörend, denn freudvoll und befreiend. Dass das Mädchen am Ende gezwungen ist, ihren eigenen, zum Monster mutierten Vater zu töten, ließe sich freilich als etwas krudes "Befreiungsmotiv" ("Tod dem Patriarchat") interpretieren. Erst recht, wenn man dabei in Betracht zieht, dass das Thema männlicher Gewalt im Verlauf des Filmes immer wieder aufgetaucht ist. Dennoch fällt es mir schwer, die Sache so klar zu sehen, wie Kim Newman dies offenbar getan hat.
Natürlich braucht ein Film keine explizite "Botschaft" zu haben, und wirklich guter Symbolismus lässt sich nie eindeutig aufschlüsseln. Andererseits ist diffuse Mehrdeutigkeit nicht per se eine Tugend. Dem Geist von Lemora kommt man vielleicht dann am nächsten, wenn man den Film als die Geschichte des sexuellen Erwachens eines Mädchens versteht, das in einem extrem sinnenfeindlichen Umfeld aufgewachsen ist. Aus ihrer Sicht wäre es dann nur zu verständlich, dass die neue Welt, die sich ihr dabei eröffnet, zugleich beunruhigend und verstörend, aber auch irgendwie verführerisch wirken muss. Mehr als einmal fühlte ich mich an Neil Jordans The Company of Wolves (1984) erinnert. 
Doch auch eine solche Interpretation erlaubt es einem nicht, alle Details der Geschichte zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen. Ob dies gegen den Film spricht? Ich bin mir nicht wirklich sicher. Auf jedenfall werde ich versuchen, mir die 2004 erschienene DVD von Lemora zu besorgen. Denn auch wenn Richard Blackburns Streifen seine Schwächen besitzen mag, so ist er doch ohne Zweifel ein faszinierendes Werk. Und das ist mehr, als man von den meisten amerikanischen Vampirflicks der 70er Jahre behaupten kann.  



* Allerdings gehörte zu den Inspirationsquellen für diesen Horrorflick interessanterweise Michelangelo Antonioni, der damals in Amerikas Gemeinde der Filmfreunde- und freundinnen gerade seine großen Triumphe feiern konnte. Wie Andrew Sarris es 1968 beschrieben hat: "Antonioni came, saw, and conquered the English-speaking market on his very first try." (The American Cinema. Directors and Directions 1929-1968. S. 147)
** Kim Newman: Nightmare Movies. A Critical History of the Horror Film, 1968-88. S. 28.

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