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Donnerstag, 6. März 2014

"Die Seltsamen"

Als mir im Januar von Diogenes ein Leseexemplar von Stefan Bachmanns Die Seltsamen (The Peculiar) angeboten wurde, wusste ich erst nicht so recht, ob ich darauf eingehen sollte. Das Debüt des in der Schweiz lebenden und studierenden US-Amerikaners wird von dem Verlag unter dem Label "Steampunk" beworben, und ich stehe diesem Subgenre im allgemeinen eher skeptisch gegenüber.
Als ich das Buch schließlich in Händen hielt und die ersten paar Seiten gelesen hatte, durfte ich jedoch mit Erleichterung feststellen, dass Bachmanns Erzählung nur wenig mit den typischen Steampunk-Klischees zu tun hat. Ja, die Geschichte spielt in einem phantastisch verbrämten viktorianischen England, und ein paar der genreüblichen Versatzstücke wie Automaten und Luftschiffe kommen auch vor, doch ist dem Ganzen ein ordentlicher Schuss Urban Fantasy (in ihrer ursprünglichen Bedeutung) und ein kleines Bisschen Charles Dickens  beigefügt worden, was insgesamt eine nicht unsympathische Mischung ergibt.

Irgendwann im 19. Jahrhundert öffnet sich in der englischen Ortschaft Bath für kurze Zeit ein Tor zur Anderswelt, was nicht nur zur Zerstörung der Stadt und dem Tod ihrer Einwohner, sondern auch zu einem blutigen Krieg zwischen der britischen Armee und den ins Land strömenden Feen und Elfen führt. Am Ende triumphieren die Engländer, und der Großteil der überlebenden Elfen wird in den rasch wachsenden Industriestädten zusammengepfercht und zu einem Teil des Proletariats. Doch vor allem die Sídhe, die Aristokraten der Anderswelt, träumen weiterhin davon, ihre verlorengegangene Macht eines Tages zurückzuerobern. Auch ist das Verhältnis zwischen Menschen und Feen nach wie vor sehr gespannt, worunter vor allem Mischlinge, die sogenannten "Seltsamen", zu leiden haben, da ihnen von beiden Seiten Hass und Verachtung entgegenschlägt.
Als die Leichen von neun fürchterlich verstümmelten Mischlingskindern aus der Themse gefischt werden, sieht sich sogar der Staatsrat der Königin gezwungen, diesem Problem seine Aufmerksamkeit zu widmen. Wenig später stößt eines seiner Mitglieder, der müßiggängerische und etwas trottelige Arthur Jelliby, zufällig auf sehr deutliche Hinweise auf eine finstere und blutige Verschwörung, die der mächtige Sídhe Mr. Lickerish mit unbekanntem Ziel angezettelt hat. Und obwohl Mr. Jelliby am liebsten weiter sein ruhiges und bequemes Leben führen und vor den harten Realititäten der Welt die Augen verschlossen halten würde, zwingen ihn seine Gutherzigkeit und sein Ehrgefühl dazu, der Sache nachzugehen.* Dabei begegnet er schließlich unserem eigentlichen Helden, dem Mischlingsjungen Bartholomew Kettle aus den Feenslums von Bath, dessen Schwester Hettie von Lickerishs Handlangern entführt worden ist. Gemeinsam macht sich das ungleiche Paar auf, die finsteren Pläne des Sídhe zu durchkreuzen.

Leider weiß ich nur wenig positives über das Buch zu berichten.

Der Weltentwurf ist wie gesagt nicht ohne Reiz, und Bachmann versteht es, ein farbenfrohes Bild des vielgestaltigen, grotesken und etwas unheimlichen Feenvolkes zu zeichnen. Doch bereits hier schleichen sich leichte Misstöne ein. Im Prolog bekommen wir zu lesen:
Die Kobolde und Gnome und die wilderen Feenwesen gewöhnten sich rasch an die englische Lebensart. Sie hausten in englischen Städten und husteten englischen Qualm, und dabei erging es ihnen nicht schlechter als den Tausenden von elenden Menschen, die sich an ihrer Seite abplagten.      
Und tatsächlich bekommt man über weite Strecken des Buches den Eindruck, die Elfen seien so etwas wie eine verachtete und ausgebeutete Minderheit innerhalb der britischen Gesellschaft. Vergleichbar vielleicht mit den Iren im realen England jener Zeit. Dann jedoch hören wir von in Lampen und Laternen eingesperrten Flammenfeen und "Feenbatterien", was eher an die Lage der Geisterwesen in Jonathan Strouds Bartimäus - Trilogie erinnert. Irgendwie passt das für mich nicht recht zusammen.
Auch scheint mir die Lage der Mischlinge etwas arg extrem gezeichnet. Ja, ich weiß, Rassisten hassen scheinbar nichts so sehr, als wenn ein Mitglied ihrer "Rasse" eine sexuelle Beziehung zu dem Mitglied einer von ihnen als minderwertig betrachteten "Rasse" eingeht. Und es ist nur logisch, dass die aus einer solchen Verbindung hervorgegangenen Kinder dies besonders deutlich zu spüren bekommen. Aber in der von Bachmann beschriebenen Welt können Mischlingskinder nicht einmal auf die Straße gehen, ohne fürchten zu müssen, von einem Lynchmob aufgeknüpft zu werden. Ein solch exzessiver und mörderischer Rassismus passt nicht so recht ins viktorianische England, in dem selbst Ehen zwischen Schwarzen und Weißen in der Unterschicht nichts ungewöhnliches waren. Auch fragt man sich, was mit den Mischlingen passiert, sobald sie herangewachsen sind. Sie können sich schließlich nicht ewig in der Wohnung ihrer Eltern verstecken. Das wäre schon aus ökonomischen Gründen unmöglich, stammen sie doch in den allermeisten Fällen offenbar aus sehr armen Familien.**

Diese Einwände gegen Bachmanns Weltentwurf mögen etwas kleinlich wirken. Vielleicht sind sie es. Aber sie stellen ohnehin nicht meinen Hauptkritikpunkt dar. Selbiger besteht vielmehr darin, dass ein Großteil der Handlung auf Zufällen, schwer nachvollziehbarem Verhalten der Hauptfiguren oder Ereignissen basiert, die bei genauerem Hinsehen absolut keinen Sinn machen. Es ist mir unmöglich, dies im Detail zu belegen, weil ich mich ansonsten tief in Spoiler-Territorium begeben müsste. Es muss reichen, auf die mechanischen Vögel hinzuweisen, die für den Plot von zentraler Bedeutung sind. Ohne sie würden sich Jelliby und Bart niiemals begegnen und hätten keine Möglichkeit, die Pläne des Bösewichts aufzudecken und zu durchkreuzen. Wenn man etwas genauer darüber nachdenkt, erscheint es jedoch zumindest bei zwei ihrer drei Zielorte völlig unverständlich, warum die Automaten dorthin geschickt werden. Ihre eigentliche Aufgabe scheint es zu sein, als Aufhänger für die Handlung zu dienen.*** Und damit bilden sie keine Ausnahme. Es gibt eine ganze Reihe von Szenen, die spätestens auf den zweiten Blick unsinnig oder sogar gänzlich unmöglich wirken. Zumindest für mich bedeutet dies einen vernichtenden Schlag gegen das mögliche Lesevergnügen. Ich habe etwas gegen Geschichten, die von mir erwarten, dass ich mein Gehirn ausschalte!

Eine weitere wenig erfreuliche Seite der Geschichte hat "Madame Books" in {ihrer abgesehen davon ziemlich positiven} Besprechung so zusammengefasst:
Nun ärgert es mich allerdings mal wieder maßlos, dass es offenbar nicht mal die Schwester sein kann, die ihren Bruder retten muss, sondern schon wieder das Prinzip der woman in the refridgerator bedient werden muss. Hettie ist entsetzlich passiv und hilflos: Sowohl ihr Bruder als auch sie sind Mischlinge und dürfen nicht gesehen werden. Praktischerweise sieht Bartholomew weniger feenhaft aus und kann sich daher freier bewegen als Hettie – er kann im Haus herumlaufen und in Verstecke verschwinden, offenbar ohne Konsequenzen zu befürchten, während sie immer mit ihm als Begleitung gehen muss und nie allein gelassen werden darf. Seine einzige explizite Strafe erhält Bartholomew, als er Hettie allein nach Hause gehen lässt. Ihre einzigen Aktionen bestehen darin, ihm ihre Zuneigung zu zeigen oder ihn mit großen Augen anzustarren. Als sie entführt wird, verbringt sie die meiste Zeit schlafend und bei der Rettungsaktion verrät sie aus Versehen ihren Bruder. Sie ist dazu erzogen bzw. vom Autor erschaffen worden, nichts allein auf die Reihe zu kriegen. 
Nun hätte mir persönlich die Story nicht besser gefallen, wenn die Schwester den Bruder hätte retten müssen. Zum einen, weil ich die bloße Umkehrung traditioneller Rollenklischees für eher langweilig und nicht unbedingt "progressiv" halte. Vor allem aber, weil die eigentlichen Probleme {siehe oben} damit nicht behoben worden wären. Dennoch hat "Madame Books" meiner Meinung nach völlig recht, wenn sie darauf hinweist, dass Bachmann sich in Genderfragen wie selbstverständlich der ausgelutschtesten Stereotypen bedient. Vor allem Hettie wirkt wie eine willenlose Puppe, die sich von irgendwelchen Männern beliebig hin- und herzerren lässt. Mein Gott, ich kenne genug weibliche Charaktere aus Romanen und Erzählungen des viktorianischen Zeitalters, die sehr viel selbstbewusster und aktiver, vor allem aber lebendiger wirken!

Ist es unfair, wenn ich zum Abschluss die Frage stelle, ob Verlage die Bücher von Sechzehnjährigen veröffentlichen sollten? Stefan Bachmann ist sicher nicht untalentiert. Sprachlich gesehen ist Die Seltsamen {von einigen wenigen Schnitzern abgesehen} durchaus gediegen, wenn auch sicher nicht überwältigend. Und inhaltlich finden sich hier und da einige wirklich interessante Momente. Dennoch würde ich behaupten wollen, dass es besser gewesen wäre, wenn das Lektorat sich gemeinsam mit dem jungen Autor noch einmal an eine Generalüberholung des Manuskripts gesetzt hätte, statt ihn als neues Jungtalent auf den Markt zu schicken. 



* Wie Jelliby zu einem Mitglied des Staasrats {im Original vermutlich "Privy Council"?} werden konnte, ist mir schleierhaft. Seinen Sitz im Parlament verdankt er seiner aristokratischen Verwandtschaft. Das erscheint mir glaubwürdig. Aber warum sollte die Königin einen Mann, der offenbar über keinerlei politischen Ehrgeiz verfügt, in das sehr viel exklusivere Gremium des Rates berufen?
** Etwas eigentümlich fand ich ich auch, dass in Bachmanns Welt die bürgerlich-demokratischen Revolutionen entweder nie stattgefunden haben oder niedergeschlagen wurden. Amerika ist nach wie vor Teil des britischen Empire und in Frankreich regiert ein König. Mit letzterem könnte zwar Louis-Philippe gemeint sein, doch erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass die Geschichte vor 1848 spielen soll. Für die Erzählung spielt dieses Detail im Grunde keine Rolle. Ich habe mich bloß gefragt, was Bachmanns Gründe für diese Veränderung der Realität gewesen sein könnten.
*** Nebenbei bemerkt: Erwartet Bachmann wirklich, dass ich ihm abnehme, im 19. Jahrhundert habe es derart genaue Karten gegeben, wie sie in seiner Geschichte vorkommen? Man bekommt geradezu das Gefühl, man solle glauben, im viktorianischen England hätten die Kartographen mit GPS gearbeitet.

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