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Sonntag, 15. Dezember 2013

3. Advent: "A Christmas Carol"

Es versteht sich beinah von selbst, dass zu meiner kleinen Reihe filmischer Fundstücke für die Weihnachtszeit auch eine Adaption von Charles Dickens' A Christmas Carol gehören muss. Die Geschichte von Ebenezer Scrooge und seiner Bekehrung durch die drei Geister der Weihnacht ist nicht bloß die vermutlich bekannteste Weihnachtserzählung der Weltliteratur, sie dürfte auch die mit Abstand am häufigsten verfilmte sein.

Ich weiß, viele halten sie für unerträglich sentimental. Ein Vorwurf, der all zu oft gegen Dickens' Gesamtwerk vorgebracht wird. Ganz unverständlich ist das zwar nicht, dennoch scheint es mir kurzsichtig und kleingeistig zu sein. George Orwell schreibt in seinem Essay über den großen viktorianischen Autor:
Whatever else Dickens may have been, he was not a hole-and-corner soul-saver, the kind of well-meaning idiot who thinks that the world will be perfect if you amend a few bylaws and abolish a few anomalies. [...] [He] at any rate never imagined that you can cure pimples by cutting them off. In every page of his work one can see a consciousness that society is wrong somewhere at the root.
Um zu erkennen, wo genau die Wurzeln dieses Übels lagen, dazu fehlte es Dickens an Wissen und analytischen Fähigkeiten. Politik betrachtete er ganz allgemein mit Abscheu, und sich mit ökonomischen Fragen ernsthaft auseinanderzusetzen, wäre ihm sicher nie in den Sinn gekommen. So ist es kein Wunder, dass er keine Verbindung zwischen den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen und den gesellschaftlichen Übeln herstellte. Was er hingegen sehr genau erkannte {oder vielleicht sollte man besser sagen: erfühlte}, dass war die tiefe Unmenschlichkeit der Welt, die ihn umgab. 
Was er dagegen zu setzen vermochte, war nichts anderes als eine ebenso tiefe Menschlichkeit. Er war kein Revolutionär, ja nicht einmal ein "Reformer" im herkömmlichen Sinne. Um noch einmal Orwell zu zitieren:  
His whole ‘message’ is one that at first glance looks like an enormous platitude: If men would behave decently the world would be decent.
Keine andere Botschaft besitzt auch A Christmas Carol. Doch wie Orwell gleichfalls ganz richtig bemerkt, diese Botschaft ist bei näherer Betrachtung "not such a platitude as it sounds."
Sie ist sicher nicht die Lösung für Probleme, deren Ursprung letztlich in der Organisation unserer Gesellschaft zu suchen ist. "Gute" Menschen können ein "böses" System nicht gut machen. Innerhalb seiner Grenzen können sie nicht einmal wirklich "gut" sein. Und die Figur des mitleidigen und spendablen reichen Mannes als Erlösers der Armen, wie sie Dickens all zu oft als "Deus ex Machina" aus dem Hut zaubert, ist im Kern sogar schrecklich konservativ, dient sie in den Händen anderer doch für gewöhnlich der Verteidigung des Status Quo. {Wie oft bekommen wir heute z.B. wieder die Vorzüge des "Mäzenatentums" gepredigt.} Nicht so jedoch bei Dickens! Bei ihm ist sie die {zugegeben ungeschickte} Antwort auf eine äußerst dringlich empfundene Frage, auf die der Autor einfach keine andere zu finden vermag. Entscheidend ist dabei jedoch weniger die Antwort als vielmehr die Frage! Auch sind die Tugenden, von denen Dickens' Geschichten durchtränkt sind – simple Menschlichkeit, Mitgefühl und Großherzigkeit – nichts, was man mit zynischer Geste als "naiv" abtun sollte. Gerade heute, in einer Zeit, in der ein Gutteil der Kultur entweder Werte wie Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Cleverness, Macht und Reichtum offen verherrlicht oder sich in pessimistischer Menschenverachtung ergeht, erscheint mir der dickens'sche Geist als etwas erfreuliches und dringend notwendiges. Nicht, weil er fähig wäre, aus sich heraus eine bessere Welt zu schaffen, sondern weil ohne ihn dieses Ziel vorn vornherein unerreichbar bleiben wird. Dass Dickens auch in "linken" Kreisen oft mit einer Mischung aus Belustigung und Verachtung behandelt wird, ist für mich nur ein Beweis mehr dafür, dass selbige Zirkel nicht die progressive Avantgarde darstellen, als die sich ihre Mitglieder so gerne sehen.

1843 veröffentlicht, gehört A Christmas Carol zu Charles Dickens' früheren Werken und trägt viele der typischen Züge dieser Schaffensperiode. Das gilt vor allem für die Figur des Ebenezer Scrooge. Wie Edmund Wilson in seinem äußerst lesenswerten Essay Dickens: The Two Scrooges ausgeführt hat, verändert sich im Laufe seiner Entwicklung das Bild, das der Autor von seinen Bösewichtern zeichnet, auf deutliche Weise: 
The curmudgeons of the early Dickens [...] are oldfashioned moneylenders and misers of a type that must have been serving for decades in the melodramas of the English stage. In Dickens their whole-hearted and outspoken meanness gives them a certain cynical charm. They are the bad uncles in the Christmas pantomime who set off the jolly clowns and the good fairy, and who, as everybody knows from the beginning, are doomed to be exposed and extinguished.
Scrooge wird zwar bekehrt und nicht vernichtet, aber er gehört dennoch ohne Zweifel zu dieser Kategorie von Bösewichtern. Auch wenn ihm die Szenen aus seiner Kindheit und Jugend eine größere psychologische Tiefe verleihen als vielen anderen Schurken derselben Gattung. Die späteren {und reiferen} Werke von Dickens werden von einer anderen Art Bösewichter bevölkert. Selbige sind Vertreter jener     
self-important and moralizing middle class who had been making such rapid progress in England and coming down like a damper on the bright fires of English life  – that is, on the spontaneity and gaiety, the frankness and independence, the instinctive human virtues, which Dickens admired and trusted. The new age had brought a new kind of virtues to cover up the flourishing vices of cold avarice and harsh exploitation; and Dickens detested these virtues.**
Aber auch wenn das Entlarven dieser heuchlerischen, puritanischen Bourgeois zu seinen größten Leistungen gehört, bleibt Scrooge eine seiner unsterblichen Figuren. A Christmas Carol ist ein Märchen, und Märchen verlangen nicht nach "realistischen" Charakteren, sondern nach eindringlichen "Typen". Und eine solche ist der alte Ebenezer ganz ohne Zweifel.

Vielleicht besser als irgendjemandem sonst ist es G.K. Chesterton gelungen, zu beschreiben, warum A Christmas Carol eines der vollkommensten Weihnachtsmärchen aller Zeiten sein dürfte. Er schreibt:
The third great Christmas element is the element of the grotesque. The grotesque is the natural expression of joy; and all the Utopias and new Edens of the poets fail to give a real impression of enjoyment, very largely because they leave out the grotesque. A man in most modern Utopias cannot really be happy; he is too dignified. [...] When real human beings have real delights they tend to express them entirely in grotesques – I might almost say entirely in goblins. On Christmas Eve one may talk about ghosts so long as they are turnip ghosts. But one would not be allowed (I hope, in any decent family) to talk on Christmas Eve about astral bodies. The boar’s head of old Yule-time was as grotesque as the donkey’s head of Bottom the Weaver. [...]  
Arcadian poets and Arcadian painters have striven to express happiness by means of beautiful figures. Dickens understood that happiness is best expressed by ugly figures. In beauty, perhaps, there is something allied to sadness; certainly there is something akin to joy in the grotesque, nay, in the uncouth. [...] A thing of beauty is an inspiration for ever – a matter of meditation for ever. It is rather a thing of ugliness that is strictly a joy for ever. [...]
[A Christmas Carol] exemplifies throughout the power of [this] principle – the kinship between gaiety and the grotesque. Everybody is happy because nobody is dignified. We have a feeling somehow that Scrooge looked even uglier when he was kind than he had looked when he was cruel. The turkey that Scrooge bought was so fat, says Dickens, that it could never have stood upright. That top-heavy and monstrous bird is a good symbol of the top-heavy happiness of the stories.**
Welche filmische Adaption von A Christmas Carol ich nun also präsentieren will? Richard Williams' Zeichentrickversion aus dem Jahre 1971. Denn wie in kaum einer anderen begegnen wir hier jener Einheit aus Groteskem, Unheimlichem, Düsterem, Menschlichem und Freudevollem, die Charles Dickens' Erzählung zu einem der unsterblichen Werke der Weltliteratur macht.





* Edmund Wilson: Dickens: The Two Scrooges. In Ders.:  The Wound and the Bow. Seven Studies in Literature. S. 30f.
** G.K. Chesterton: Appreciations and Criticisms of the Works of Charles Dickens. S. 110ff.

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