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Sonntag, 1. Dezember 2013

1. Advent: "The Box of Delights"

Wie vermutlich die meisten von uns, hatte auch ich einmal eine Phase, in der mir Weihnachten als Fest von Kitsch, Kommerz und verlogener Sentimentalität gründlichst am Arsch vorbei ging. Nicht viel anders als der alte Ebenezer Scrooge hätte ich zur Festzeit grummeln können:
Humbug! If I could work my will, every idiot who goes about with "Merry Christmas" on his lips should be boiled with his own pudding, and buried with a stake of holly through his heart. He should!
Na ja, ich hätte vermutlich eher gesagt, man solle ihn an seinen eigenen Weihnachtsbaum fesseln wie an einen Marterpfahl und ihm einen Adventskranz {mit brennenden Kerzen natürlich} als Kopfschmuck aufs Haupt setzen. Oder so ähnlich ...
Doch irgendwann erkannte ich, wie dumm es eigentlich ist, wenn man ein Fest verachtet, bloß weil der konsumgeile Kraken des Kapitalismus seine Fangarme um ihn geschlungen hat. Käme so ein Verhalten nicht einer Kapitulation gleich? Hatte ich nicht genug Erinnerungen aus meiner Kindheit, um zu wissen, dass Weihnachten mehr sein kann, als das, was irgendwelche herzlosen Werbedesigner aus dem Fest gemacht haben? Und weckt der Anblick funkelnder Weihnachtslichter in einer eisigen Winternacht nicht auch heute noch jedesmal warme Gefühle in mir? Erst recht, wenn dabei der Schnee unter meinen Schuhen knirscht. Warum all das verleugnen? Weil es uncool ist, Weihnachten anders als mit Zynismus zu betrachten? Was für ein erbärmlicher Grund wäre das denn!? Und erst recht möge mir keiner mit dem Argument kommen, mir als einem Atheisten sollte das Fest der Geburt des Gottessohnes doch ohnehin gleichgültig sein. Schon recht, die religiöse Dimension bedeutet mir in der Tat nichts, doch ganz anders sieht es mit der menschlichen aus.

Und so fand ich, es wäre eigentlich ganz hübsch, wenn es in diesem Monat auch auf meinem Blog etwas weihnachtlich zugehen würde. Weshalb ich an jedem Adventssonntag an dieser Stelle ein filmisches Fundstück vorstellen will, das auf die eine oder andere Weise etwas mit Weihnachten zu tun hat. 
Den Anfang soll dabei die BBC-Serie The Box of Delights machen, die auf dem gleichnamigen, 1935 erschienen Kinderbuch des Dichters und Schriftstellers John Masefield basiert und erstmals in der Weinachtszeit 1984 ausgestrahlt wurde. Kennengelernt habe ich dieses bezaubernde kleine Juwel des phantastischen Kinderfernsehens durch den unvergleichlichen Mr. Jim Moon, der ihr eine der frühen Episoden seines Podcasts Hypnobobs gewidmet hat. In England ist die Serie zu einem echten Kultklassiker geworden, und für viele Briten gehört es scheinbar zum alljährlichen Weihnachtsritual, sie sich erneut anzuschauen. Eine Tradition, die ich nur zu gut nachvollziehen kann.



Die Titelmelodie stammt aus dem dritten Satz von Victor Hely-Hutchinsons wundervoller Carol Symphony (12:15) und schafft sogleich die richtige Atmosphäre: Weihnachtlich, traumhaft und ein ganz klein Bisschen unheimlich. Held der Geschichte ist der junge Kay Harker (Devin Stanfield). Zu Weihnachten aus dem Internat nach Hause zurückkehrend, begegnen ihm während der Zugfahrt ein freundlicher alter Punch and Judy - Schausteller* (Patrick Troughton) und zwei eigenartige, leicht bedrohlich und wenig fromm wirkende Vikare. Keiner von ihnen ist, was er zu sein scheint. Und als ihm der alte Mann wenig später seine magische "Box of Delights" anvertraut, nicht ohne ihn zugleich vor den "Wölfen" zu warnen, die sich auf der Jagd nach ihr befänden, sieht sich Kay urplözlich in ein phantastisches Abenteuer verstrickt, in dessen Verlauf er nicht nur fremdartige Wunderwelten betreten und mythischen Wesen wie Herne the Hunter (Glyn Baker) begegnen wird, sondern vor allem die Pläne des bösen Zauberers Abner Brown (Robert Stephens) durchkreuzen muss, der mit Hilfe der wundersamen Schachtel unbegrenzte Macht zu erringen hofft.

The Box of Delights steht ganz in der von Edith Nesbit geprägten Tradition des englischen phantastischen Kinderbuches. Anders als etwa in Tolkiens Hobbit oder C.S. Lewis' Narnia - Geschichten werden wir hier nicht in eine märchenhafte Anderswelt entführt, das Wundersame und das Reale liegen vielmehr ganz nahe beieinander. Kay und seine Freunde müssen ihre kleinstädtische Heimat nicht verlassen, um dem Magischen zu begegnen. Die Zauberer sind mitten unter uns. Und sie sind keine exzentrischen Überbleibsel einer fernen Vergangenheit, sie stehen mit beiden Füßen im modernen Leben. Zumindest die bösen unter ihnen. Abner Brown ist der Chef einer ganz banalen Verbrecherorganisation und verfügt nicht nur über magische Kräfte, sondern auch über so großartige technische Spielzeuge wie ein Auto, das sich auf Knopfdruck in ein Flugzeug verwandelt. Das Vermischen mythischer, märchenhafter, modern-abenteuerlicher und alltäglicher Elemente mag nicht nach jedermanns Geschmack sein. Ich finde es äußerst charmant. Für mich  vermittelt es den Eindruck, als liege das Phantastische ganz in unserer Nähe. Wir müssen nur unsere Augen öffnen und bereit sein, uns verzaubern zu lassen. The Box of Delights besitzt ohne Zweifel etwas Skurilles, aber das bedeutet noch lange nicht, dass dem Mythisch-Magischen damit seine ernsthafte Aura geraubt würde.
Das britische Fernsehen hat in den 80er Jahren eine Reihe recht bekannter phantastischer Kindersendungen produziert. Nicht alle waren so charmant wie z.B. The Worst Witch (1986), aber auch weniger erfolgreiche Hervorbringungen dieser Ära wie The Tripods (1984) oder The Lion, the Witch and the Wardrobe (1988) besitzen ihre starken Seiten. The Box of Delights jedoch hat einen ganz eigenen Charakter. In gewisser Hinsicht erinnert mich die Serie eher an die britische TV-Phantastik der 70er Jahre. Ähnlich wie einige der Serien aus diesem Jahrzehnt (Children of the Stones, klassischer Doctor Who, Sapphire and Steel etc.) ist auch ihr ein Zug eigen, den man vielleicht am besten mit "weird" umschreibt. {Ich finde einfach keinen angemessenen deutschen Begriff dafür.} Sicher, dieses Element ist hier bei weitem nicht so stark, aber es findet sich immer noch genug merkwürdiges, mysteriöses und leicht gespenstisches in The Box of Delights. Wer genau z.B. ist die geheimnisvolle alte Frau (Anne Dyson) mit dem funkelnden Ring? Können sich Abner Browns Handlanger Foxy Faced Charles (Geoffrey Larder) und Chubby Joe (Jonathan Stephens) tatsächlich in Wölfe verwandeln? Und was für eine seltsame Welt ist es, die Kay betritt, nur um gemeinsam mit Herne the Hunter in Hirschgestalt durch die Wälder gehetzt zu werden? Auf solche Fragen gibt die Serie keine Antwort, aber gerade das trägt ganz entscheidend zu ihrer Faszinationskraft bei.
Auch dürfte es kaum ohne Bedeutung sein, dass der Punch and Judy - Schausteller seine eigene Magie als "alt", die von Abner Brown als "neu" bezeichnet. Ohne gar zu viel in die Geschichte hineininterpretieren zu wollen, legt dies doch nahe, dass wir es einmal mehr mit einem Kampf zwischen den traditionellen, mit Mythos und Märchen verknüpften Werten und einer ganz auf Egoismus und Gier nach materiellem Reichtum und Macht ausgerichteten Moderne zu tun haben. 
Das kann man natürlich als Ausdruck eines verstaubten Konservativismus interpretieren. Und vieles an der Story atmet ohne Zweifel einen konservativen Geist: Das Milieu, in dem The Box of Delights spielt, ist ultrabürgerlich;** die erfrischend selbstbewusst auftretende Maria darf ärgerlicherweise an keinem der eigentlichen Abenteuer teilnehmen; das Finale ist stark christlich eingefärbt.*** John Masefield war halt kein progressiver Künstler, andernfalls hätte man ihn kaum zum offiziellen Poeta Laureatus des Vereinigten Königreiches erklärt. Aber auch wenn mich solche Details irritieren, erscheinen sie mir letztenendes als nebensächlich. Man kann ein Gegner dieser Moderne sein, ohne deshalb konservativen Werten anzuhängen, und Mythos und Märchen beinhalten sehr viel mehr als veraltete Vorstellungen über soziale Ordnung, Genderrollen und Religion.

Was neben der einfühlsam und atmosphärisch erzählen Geschichte den besonderen Reiz der Serie ausmacht sind vor allem die Schauspieler & Schauspielerinnen.
Kindliche Protagonisten wirken in Film und Fernsehen all zu oft schrecklich altklug und nervig  Und auch wenn The Box of Delights nicht 100%ig frei von diesem Zug ist, verleiht Devin Stanfield seinem Kay Harker im Großen und Ganzen doch eine sympathische Natürlichkeit. Ähnliches gilt für die meisten der übrigen Kinderdarsteller. Von den Erwachsenen seien nur drei der bekannteren hervorgehoben. Da wäre zuerst einmal der grandiose Robert Stephens als Abner Brown. Der britische Theaterschauspieler, der eine Zeit lang als inoffizieller "Erbe" Laurence Oliviers galt und Filmfreunden vielleicht am ehesten als Protagonist von Billy Wilders' The Private Life of Sherlock Holmes (1970) bekannt ist, verleiht dem Magier eine Aura echter Bösartigkeit, was ihn deutlich von seinen eher humorvoll gezeichneten Handlangern abhebt. Dann hätten wir da Patrick Troughton, für Genrefans vor allem als zweiter Doctor Who ein Begriff, der den alten Punch and Judy - Schausteller Cole Hawlings zu einer ausgesprochen charismatischen, zugleich geheimnisvollen und liebenswerten Gestalt macht. Als dritte im Bunde sei Patricia Quinn erwähnt. Die meisten werden sie vermutlich in erster Linie als Magenta aus der Rocky Horror Picture Show (1975) kennen. Freunde des B-Movies erinnern sich vielleicht außerdem noch an ihren Auftritt als Zauberin in dem legendären Fantasyschlock Hawk the Slayer (1980). Auch durften wir sie vor grade mal einem Jahr in Rob Zombies wunderbar durchgedrehten Lords of Salem erleben. Die von ihr verkörperte Sylvia Daisy Pouncer – Komplizin und Partnerin Abner Browns – ist zwar eher eine Nebenfigur, doch bereitet es stets Vergnügen Patricia Quinn in Aktion zu erleben.

Auch die in The Box of Delights angewandte Tricktechnik verdient es, zumindest kurz angesprochen zu werden. Für ihre Zeit war sie äußerst innovativ, kam dabei doch u.a. die 1981 auf den Markt gelangte  Quantel Paintbox zum Einsatz. Und wenn die Szenen, in denen Kay und seine Freunde dank Cole Hawlings magischer Schachtel auf winzige Größe zusammenschrumpfen oder mit gewaltiger Geschwindigkeit durch die Lüfte fliegen, aus heutiger Sicht nicht mehr ganz überzeugend wirken, haben all jene Sequenzen, in denen sich reale Schauspieler und Zeichentrickanmiationen begegnen, nichts von ihrer Magie eingebüßt. Das gilt vor allem für die schon erwähnte Szene, in der Kay Harker die Welt von Herne the Hunter betritt. Der klassische Zeichentrickfilm besaß eine ganz eigene Ästhetik, eine Lebendigkeit und "Saftigkeit", die in der Ära der computergenerierten Filme weitgehend verlorengegangen zu sein scheint. Hier dürfen wir sie noch einmal in ihrer ganzen zugleich sinnlichen und phantastischen Pracht erleben. 

Wenn ich mir eine Sendung wie The Box of Delights anschaue, frage ich mich jedesmal, ob das deutsche Fernsehen jener Zeit etwas vergleichbares hervorgebracht hat. Ja, ob ihm dies überhaupt möglich gewesen wäre. Meine Erinnerungen an die alten Weihnachtsserien des ZDF à la Timm Thaler (1979), Silas (1981), Jack Holborn (1982) oder Patrick Pacard (1984) sind zwar {vorsichtig ausgedrückt} äußerst verschwommen, aber ich glaube irgendwie nicht, dass man in den 70er und 80er Jahren hierzulande ähnlich zauberhafte Kindersendungen produziert hat. Mein Verdacht ist, dass das Phantastische und Märchenhafte zu jener Zeit oft als etwas suspekt galt. Dabei mag u.a. der Glaube an eine falsch verstandene "soziale Verantwortlichkeit" der Kunst eine Rolle gespielt haben. Auf jedenfall denke ich nicht, dass es ein Zufall gewesen ist, dass der Weihnachtsfilm, auf den ich in meiner Kindheit jedes Jahr sehnsüchtig gewartet habe, keine deutsche Produktion war, sondern Václav Vorlíčeks Drei Haselnüsse für Aschenbrödel.

Wie dem auch sei, alle, die sich ihre Liebe zu Märchen, Mythos und Magie bewahrt haben, seien noch einmal dazu eingeladen, sich zum Auftakt der Adventszeit von der Box of Delights verzaubern und in eine Welt der Wunder entführen zu lassen:   




Eins noch zum Abschluss: Wer das Ende der Serie genauso enttäuschend findet wie ich, dem rate ich, dieses einfach zu ignorieren. Es sollte keinem von uns das Vergnügen an dieser bezaubernden kleinen Geschichte verderben dürfen!


* Das viktorianische Zeitalter war in vielerlei Hinsicht die Ära, in der die "klassische" englische Weihnachtsfeier entstand. Und Charles Dickens war nicht allein dafür verantwortlich.  Dazu gehörte offenbar auch, Punch and Judy - Shows zu einem Bestandteil der Festlichkeiten zu machen, wobei deren ursprünglich karnevalistischer und "erwachsener" Charakter stark abgemildert wurde. Auch wenn dabei immer noch ordentlich viel geprügelt wird. {Nebenbei bemerkt spielt in The Story of a Disappearance and an Appearance, der einzigen Gespenstergeschichte von M.R. James, die tatsächlich in der Julzeit angesiedelt ist, eine Punch and Judy - Show eine zentrale Rolle. Interessant ...}
** Bin ich der einzige, den es unangenehm berührt, wenn eine erwachsene Frau (das Dienstmädchen) gegenüber einem kleinen Jungen (Kay Harker) ein geradezu unterwürfiges Gebahren an den Tag legt?
*** Die Story gipfelt in einer von dem gutmütigen Bischof zelebrierten Christmette. Aber schließlich ist es auch eine Weihnachtsgeschichte.

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