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Dienstag, 13. August 2013

J.R.R. Tolkien und das Erbe der Englischen Romantik (1)

Teil 2 * Teil 3

Als "Großvater der Fantasy" (Raymond Feist) wird J.R.R. Tolkien meist in seinem Verhältnis zu den ihm nachfolgenden Schriftstellern und Schriftstellerinnen betrachtet, was aufgrund seines überragenden Einflusses nur zu verständlich ist. Wie es George R.R. Martin formuliert hat:
Die meisten zeitgenössischen Fantasy-Autoren geben bereitwillig zu, dass sie in der Schuld des Meisters stehen (und dieser Gruppe zähle auch ich mich ganz entschieden zu), doch selbst diejenigen, die Tolkien lautstark schmähen, können sich seines Einflusses nicht entziehen. Die Straße gleitet fort und fort, wie Tolkien gesagt hat, und keiner von uns kann wissen, welche wundersamen Orte vor uns liegen [...] Doch wie lange und wie weit wir auch wandern mögen, wir sollten nie vergessen, dass die Reise in Beutelsend begann und wir immer noch in Bilbos Fußstapfen wandeln. (1)
In der Tat hat selbst China Miéville, der eine Zeit lang kein Interview geben konnte, ohne ein paar abfällige Bemerkungen über den "Professor" loszuwerden, einmal einen Artikel mit dem Titel Five Reasons Tolkien Rocks geschrieben.
Doch wird ein Blick auf Tolkiens eigene Vorläufer geworfen, so führt dies nicht selten bloß zum Proklamieren einer reichlich amorphen Tradition der "Fantasy", die im Extremfall vom Gilgamesch-Epos bis zu Lord Dunsany reichen soll. Um zu einem tieferen Verständnis seines Werkes zu gelangen, scheint es mir aber gerade hier notwendig, sehr viel präziser zu Werke zu gehen. Tolkien steht nicht nur am Beginn, sondern bildet auch den Endpunkt einer Entwicklung – einer Entwicklung, die in der englischen Romantik ihren Anfang genommen hatte.

Ich weiß, das klingt zuerst einmal nicht besonders originell. Ich bin wahrhaftig nicht der erste, der eine Verbindung zwischen Tolkien und der Romantik herstellt. Dennoch hoffe ich, dass das Folgende einige interessante Gedanken enthalten wird. 
Dass man den Arda-Mythos als einen späten Spross der romantischen Bewegung betrachten kann, dürfte kaum auf allzu großen Widerspruch stoßen. Wie genau diese Beziehung aussieht, bleibt allerdings noch zu diskutieren. Der in deutschen Tolkienistenkreisen nicht nur als Mitherausgeber von Hither Shore wohlbekannte Frank Weinreich hat im Juli 2008 einen längeren Essay mit dem Titel Fantasy im Aufbegehren gegen die Moderne – Tolkien und die Romantik veröffentlicht, der eine erweitere Version des zuvor auf der phantastik-couch präsentierten Aufsatzes Äxte am Stamm der Moderne darstellt..Beide Texte enthalten einige durchaus interessante Ansätze, kranken meiner Meinung nach jedoch vor allem an zwei schweren Mängeln.

Zuerst einmal beschränkt Weinreich sich in seinen Überlegungen nicht auf Tolkien, sondern erklärt gleich die ganze Fantasy zu einem „’Kind’ der Romantik". 
Die Autoren Christoph Hardebusch und Markolf Hoffmann haben gewichtige Einwände gegen diese These vorgebracht und zurecht darauf hingewiesen, dass Weinreichs Essay sehr leicht den Eindruck erwecken könne, hier werde versucht, "eine Blöße der Fantasy zu verdecken, und ihr das Mäntelchen der romantischen Legitimation umzuhängen." 
Wer [...] eine Verwandtschaft zwischen Fantasy und Romantik konstruiert, setzt sich dem Verdacht aus, das Genre durch den Rückgriff auf eine literarisch anerkannte Tradition rehabilitieren zu wollen. Das aber hat die Fantasy nicht nötig; man erwiese ihr einen Bärendienst, wenn man so argumentierte. Vielmehr sollte man das Neue, Aufregende dieser Gattung betonen, ihre Stärken hervorheben und ihre Möglichkeiten herausstreichen.
Dem kann ich mich nur anschließen, ohne dass ich Weinreichs Ansatz deshalb in Bausch und Bogen verwerfen würde. 
Die Frage nach solchen Traditionszusammenhängen ist nicht leicht zu beantworten, vor allem, weil man dabei unvermeidlich zur leidigen Genre-Diskussion gelangt: Was genau macht Fantasy aus und worin unterscheidet sie sich von der Phantastik im Allgemeinen? Denn dass die Romantik eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der phantastischen Literatur gespielt hat, wird wohl niemand ernsthaft bezweifeln. Man braucht ja bloß Namen wie Edgar Allan Poe, E.T.A. Hoffmann und Nikolai Gogol zu nennen, oder auf William Beckfords Caliph Vathek und die ‘gothic novels’ – von Walpoles Castle of Otranto bis zu Maturins Melmoth the Wanderer – hinzuweisen. Als Teil der Phantastik steht natürlich auch die Fantasy in dieser Tradition, ebenso wie in der vorromantischen des Amadis de Gaula, der États et Empires de la Lune des Cyrano de Bergerac oder der französischen Feenmärchen des 17. und 18. Jahrhunderts. Nicht zu vergessen Jonathan Swifts unsterbliches Meisterwerk Gulliver’s Travels. Doch jede direktere Verbindung muss von Fall zu Fall, von Autor zu Autorin untersucht und bestimmt werden. In ihrer Allgemeingültigkeit ist Weinreichs These sicher nicht haltbar. Der tolkienesken High Fantasy am nächsten kommen noch romantische Werke wie Fouqués schmerbäuchiges, aber gar nicht so uncharmantes, wenn auch fürchterlich frommes Ritterepos Der Zauberring oder Walter Scotts Mittelalterromane. Aber es ist gerade nicht die Romantik eines Ivanhoe oder Quentin Durward, die Weinreich interessiert. Und damit kommen wir zum zweiten problematischen Punkt in seinem Aufsatz.

Weinreich geht nämlich von einem ausgesprochen eindimensionalen Verständnis der Romantik aus, wobei er sich in erster Linie auf einige Charakteristika der deutschen Variante und deren fragwürdige Interpretation durch Rüdiger Safranski stützt. Für ihn ist sie 
eine Bewegung des Aufbruchs und des Ausbruchs aus einer zunehmend rational gewordenen, aufgeklärten Welt. Es war ein Aufbruch und Ausbruch zurück zum Spirituellen und zur Metaphysik, zurück zum Glauben daran, dass es mehr gibt als das, was wir mit unseren Sinnen und Messinstrumenten erfassen können.
Ja, sie sei „vielleicht sogar in erster Linie Wissens- und Wissenschaftskritik" gewesen. Der Novalis der "Blauen Blume" gilt ihm als der Archetyp des Romantischen. (2) 
Nun ist die Rebellion gegen die aufklärerische Vernunft sicher ein wichtiges Element der Romantik, und Weinreich hat vollkommen recht, wenn er Tolkien in dieser Tradition sieht. Ich werde zu gegebener Zeit selbst etwas genauer auf diese Frage eingehen. Aber die Reduktion auf ein „Aufbegehren Richtung Metaphysik" wird nicht einmal der deutschen, noch viel weniger der englischen Romantik gerecht. Wenn Weinreich schreibt, sie sei von einem „spirituelle[n] Befreiungsmotiv" dominiert gewesen, das er ausdrücklich „dem nachromantisch dann akut werdenden politischen Befreiungsmotiv bei Heine, Marx und anderen" entgegenstellt, zugleich jedoch die Namen Byron und Shelley fallen lässt, fühle ich mich gezwungen, die Frage zu stellen, ob der gute Frank die Werke dieser Dichter überhaupt gelesen hat.

Was den historischen Konext betrifft, in dem die Romantik entstanden ist, so erwähnt Weinreich zwar den Einfluss der Französischen Revolution, reduziert diesen aber auf einen allgemeinen, rein gedanklichen „Aufbruch zu neuen Ufern". Tatsächlich jedoch lässt sich die Entwicklung der englischen Romantik nur im engsten Zusammenhang mit dem Auf und Ab der revolutionären Kämpfe um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verstehen. (3)
Neben radikalen Intellektuellen wie Thomas Paine, Joseph Priestley, Mary Wollstonecraft und William Godwin sowie den in den Corresponding Societies organisierten Arbeitern und Handwerkern gehörten die größten romantischen Dichter der ersten Generation – William Blake, William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge und der Schotte Robert Burns – zu den enthusiastischsten Anhängern der Revolution in England. Sie hofften inständig, der Funke der Freiheit möge auf ihre Heimat überspringen:
To-day ‘tis theirs. To-morrow we / Shall don the Cap of Libertie (4)
Was in den Jahren 1792-95 auch gar nicht so unwahrscheinlich gewesen wäre.
Dass dabei mystische und politische Rebellion Hand in Hand gehen konnten, zeigt uns vor allem das Beispiel Blakes. Andererseits belegt der Einfluss, den Godwin zu dieser Zeit auf die meisten Dichter der Romantik ausübte, dass deren Revolte sich keineswegs nur gegen eine diffuse "banal gewordene Moderne" richtete. Der Ehemann der feministischen Pionierin Mary Wollstonecracft war einer der ersten Theoretiker des Anarchismus, der in seinem Hauptwerk An Inquiry into Political Justice die Ansicht vertrat, der Mensch werde nach seiner Befreiung von Privateigentum und staatlicher Gewalt zu quasi grenzenloser Selbstvervollkommnung fähig sein. Coleridge feierte ihn 1794 als Propheten, dessen Stimme 
in Passion's stormy day, 
When wild I roam'd the bleak Heath of Distress, 
Bade the bright form of Justice meet my way –
And told me that her name was Happiness (5)
Und auch wenn es natürlich verfehlt wäre, in den Romantikern ausgewachsene Sozialisten zu sehen, ist es doch bemerkenswert, dass derselbe Dichter noch 1798 explizit kommunistische Ansichten äußerte. (6)
In seinem berühmten autobiographischen Gedicht The Prelude beschreibt Wordsworth, wie sich den Dichtern durch die Revolution die Möglichkeit zu eröffnen schien, ihre Ideale nicht länger bloß in irgendwelchen jenseitigen Sphären zu suchen, sondern in die Wirklichkeit umzusetzen. Sie fanden in ihr
helpers to their hearts' desire,
And stuff at hand, plastic as they could wish, –
Were called upon to exercise their skill,
Not in Utopia, – subterranean fields, –
Or some secreted island, Heaven knows where!
But in the very world, which is the world
Of all of us, – the place where, in the end,
We find our happiness, or not at all!
Und anders als das Klischee von der Romantik als einer antiaufklärerischen Bewegung vermuten lassen würde, erschien dem jungen Wordsworth die Revolution als der Anbruch eines Zeitalters der Vernunft:
When Reason seemed the most to assert her rights
When most intent on making of herself
A prime enchantress – to assist the work,
Which then was going forward in her name!
Not favoured spots alone, but the whole Earth,
The beauty wore of promise (7)
Doch diese revolutionären Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen. Die Regierung Pitts des Jüngeren unterdrückte die demokratische Opposition in England mit eiserner Faust und ertränkte den irischen Volksaufstand von 1798 in Strömen von Blut, während in Frankreich statt dem ersehnten Reich der Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit 1799 die Militärdiktatur Bonapartes das Licht der Welt erblickte.
Anders als William Blake gaben Wordsworth und Coleridge schließlich dem Druck der "guten Gesellschaft" nach und versöhnten sich mit dem Establishment. Ihr alter Enthusiasmus machte einer meditativen Versenkung in die Natur und das eigene Ich Platz, und ihre Dichtung diente mehr und mehr dem Ziel, die metaphysische Lehre vom "Naturgeist" zu verbreiten, während sie zugleich vor Thron und Altar katzbuckelten, was ihnen zusammen mit Bob Southey den wohlverdienten Spott Byrons im Prolog zum Don Juan einbrachte:
Bob Southey! You’re a poet – Poet-laureate,
And represantative of all the race,
Although t’is true that you turned out a Tory at
Last; yours has lately been a common case;
And now, my Epic Renegade! What are you at?
With all the Lakers, in and out of place?

And Coleridge, too, has lately taken wing,
But like a hawk encumber’d with his hood, –
Explaining metaphysics to the nation –
I wish he would explain his Explanation.
And Wordsworth, in a rather long Excursion
(I think the quarto holds five hundred pages),
Has given a sample from the vasty version
Of his new system to perplex the sages;
‘Tis poetry – at least by his assertion,
And may appear so when the dog-star rages –
And he who understands it would be able
To add a story to the Tower of Bable.
Er stellte ihnen Milton entgegen, den sie doch alle als einen der größten Dichter Englands verehrten und der seine revolutionären Überzeugungen nie verraten hatte:
He deigned not to belie his soul in songs,
Nor turn his very talent to a crime;
He did not loathe the Sire to laud the Son,
But closed the tyrant-hater he begun.
(8)
Die zweite Generation der englischen Romantiker – Lord Byron, Percy Bysshe Shelley, John Keats, Mary Shelley – entwickelte sich unter deutlich veränderten historischen Bedingungen. An die Stelle der revolutionären Aufbruchsstimmung war die bleierne Atmosphäre der Reaktion getreten. In England herrschte eine unbezwingbar wirkende Tory-Regierung, während auf dem Kontinent die Mächte des Ancien Regime mit dem Sturz Napoleons und dem Wiener Kongress 1815 endgültig triumphiert zu haben schienen. Wer wie Keats gehofft hatte, dass im Frieden auch die Chance für eine Liberalisierung der politischen Verhältnisse in England liegen könnte, sah sich schon bald getäuscht. Für die Masse der britischen Bevölkerung bedeutete das Ende des Krieges nur eine weitere Steigerung des wirtschaftlichen Elends, und als sich erneut radikaler Widerstand zu regen begann, reagierte Englands herrschende Klasse mit ungebremster Brutalität. Das sog. Peterloo-Massaker vom 16. August 1819, als berittene Truppen der Yeomanry in eine friedliche Menge von 60-80.000 Menschen hineinsprengten, die sich in Manchester versammelt hatten, um für die Abschaffung der Korngesetze und die Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu demonstrieren, und wahllos Männer, Frauen, Kinder niederritten und -säbelten, war das blutigste Beispiel für die Skrupellosigkeit der Elite. Shelley antwortete mit seinem Gedicht The Mask of Anarchy, das mit dem berühmten Aufruf an das Volk endet:
Rise like Lions after slumber
In unvanquishable number –
Shake your chains to earth like dew
Which in sleep had fallen on you –
Ye are many – they are few. (9)
Von allen Romantikern war Shelley der politisch bewusstetste. Doch niemand brachte seinen Hass auf und seine Verachtung für die Herrschenden auf so ätzende und pointierte Weise zum Ausdruck wie Byron. So verfasste er z.B. folgenden netten Nachruf auf den irischstämmigen Toryführer Lord Castlereagh, nachdem dieser 1822 Selbstmord begangen hatte:
So Castlereagh has cut his throat! – the worst
Of this is, that his own was not the first.
So he has cut his throat at last! He? Who?
The man who cut his country's long ago. (10)
Der Typus des byronesken Helden, jenes stolzen und melancholischen Außenseiters, der – am Besten auf einer schroffen Felsklippe stehend und den Sturmwind im Haar – wie ein zweiter Luzifer Gott und die Welt herausfordert, wobei er auf uns heute leider oft wie eine Karrikatur seiner selbst wirkt, verdankt seine Entstehung zu einem nicht unbeträchtlichen Teil der isolierten Lage des unangepassten und fortschrittlichen Künstlers im beginnenden 19. Jahrhundert. Byron selbst "floh" schließlich nach Griechenland, um sich dem hellenischen Freiheitskampf gegen die Osmanen anzuschließen. Schien dies doch der letzte Winkel im Europa der Restauration zu sein, wo die Flamme der Revolution noch nicht völlig erloschen war.

Ich will die englische Romantik nicht auf ihre politische Dimension reduzieren oder Weinreichs "Blaue Blume" - Klischee durch ein ebenso beschränktes Revoluzzerklischee ersetzen. Walter Scott etwa war Zeit seines Lebens ein konservativer Tory und betätigte sich beim Besuch Georges IV. in Edinburgh 1822 sogar als eine Art schottischer Chefpropagandist der Monarchie. In seinem Ivanhoe zeigt er uns, wie eine Figur der rebellischen Romantik – Robin Hood – "domestiziert" und der Idee einer geeinten Nation dienstbar gemacht werden konnte. Ebenso blieben die "Lake Poets" Wordsworth, Coleridge und Southey selbstverständlich Romantiker, auch nachdem sie sich von ihren demokratischen Idealen abgewandt hatten. (11)
Die Romantik ist komplex und vielgestaltig, und es kann nicht meine Absicht sein, mich an einer erschöpfenden Analyse dieser literarischen Epoche zu versuchen. Zum Verständnis der Tradition, um die es mir hier geht, ist es jedoch unbedingt erforderlich, sich klarzumachen, dass sie in der Auseinandersetzung mit einer konkreten sozialen Ordnung – der des sich voll entfaltenden industriellen Kapitalismus – entstand. 
Das von Weinreich ins Zentrum gerückte "Aufbegehren Richtung Metaphysik" spielte dabei eine zwiespältige Rolle. Wenn der von Revolution und Menschheit enttäuschte Coleridge sich mehr und mehr in die opiumgeschwängerte Traumwelt von Xanadu (12) zurückzog, um von dort aus seine Lehre vom Naturgeist zu verkünden, dann zeigt sich darin die eher reaktionäre Seite der spirituellen Revolte, ging diese mystische Weltflucht doch Hand in Hand mit dem Hinnehmen einer Ordnung, die in der Niederschlagung der irischen Rebellen und der englischen Maschinenstürmer und schließlich im Peterloo-Massaker ihre ganze Grausamkeit offenbart hatte. Aber andererseits hat der Historiker Eric Hobsbawm nicht ganz Unrecht, wenn er schreibt, die Romantiker hätten den „materialistischen Rationalismus des 18. Jahrhunderts" verabscheut, weil sie in ihm „eines der wichtigsten Werkzeuge sahen, mit denen die bürgerliche Gesellschaft errichtet wurde". (13) Bester Beleg dafür ist die eigenwillige Mythologie William Blakes. In ihr verkörpert der despotische Gesetzesgott Urizen nämlich sowohl die mit Newtons Namen verbundene mechanistische Weltsicht als auch die herrschende soziale, politische und religiöse Ordnung. Gegen ihn kämpfen Los und Orc, die Mächte von Imagination, Leidenschaft und Revolution. Zudem enthielt die Romantik eine berechtigte Kritik an der Einseitigkeit des mechanistischen Materialismus, der den Menschen zu einem belebten Automaten degradierte. Der französische Philosoph La Mettrie gab einem seiner Werke ja sogar den Titel L’homme machine. Marx und Engels, die nun wirklich nichts für Mystik und Metaphysik übrig hatten, schrieben über die Entwicklung der materialistischen Philosophie vom 16. zum 18. Jahrhundert:
In Baco, als seinem ersten Schöpfer, birgt der Materialismus noch auf eine naive Weise die Keime einer allseitigen Entwicklung in sich. Die Materie lacht in poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an. [...] In seiner Fortentwicklung wird der Materialismus einseitig, [...] Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers. Die physische Bewegung wird der mechanischen oder mathematischen geopfert; die Geometrie wird als die Hauptwissenschaft proklamiert. Der Materialismus wird menschenfeindlich. (14)
In Blakes Kupferstichen erscheint Urizen stets in der Gestalt des göttlichen Geometers mit dem Zirkel in Händen.

Was Weinreich nicht verstehen will ist, dass die Romantiker, wenn sie aus einer „nüchterner werdende[n] Welt" auszubrechen versuchten, gleichzeitig gegen eine soziale Klasse rebellierten, für die nur noch Nützlichkeit und Profitabilität zählten. Die Rationalität, die sie verabscheuten, war jene der "Fakten, Fakten, Fakten" des Mr. Gradgrind aus Dickens’ Hard Times. Selbst nachdem er längst ein königstreuer Tory geworden war, erklärte der alte Wordsworth: „Ich habe nichts für die [bürgerlich-liberalen] Whigs übrig, aber in mir ist viel von einem Chartisten". (15)
Da Weinreich selbst nichts grundsätzliches gegen den Kapitalismus einzuwenden hat, sieht er das „Revolutionäre" der Romantik – losgelöst von allen gesellschaftlichen Zusammenhängen – ausgerechnet in ihrer Wissenschaftsfeindlichkeit, in ihrem Feldzug gegen „Newton, der mit dem Prisma das Licht in seine Farben aufgespalten und den Regenbogen damit entwoben hatte", gegen „Kopernikus, Kepler und Galilei, die die Sterne ihres Zaubers beraubt und sie auf mathematisch berechenbare Bahnen geschickt hatten." Im Grunde käut er damit bloß das uralte Vorurteil von der "obskurantistischen" Romantik wieder. Bloß will er in diesem irrationalistischen Zug gerade das Positive der romantischen Kunst sehen. Der Grund hierfür wird klar, wenn man sich seine Charakterisierung des 19. Jahrhunderts betrachtet. Dieses sei „von zwei wesentlichen Umbrüchen gezeichnet" gewesen:
Erstens scheinen die Naturwissenschaften sich langsam als allmächtig zu beweisen, denn die Ingenieure und die Ärzte, aber auch die Theoretiker scheinen auf jede Frage eine Antwort zu wissen. Zweitens verändert die beginnende Industrialisierung die Gesellschaften der westlichen Welt. Die Menschen rücken, hauptsächlich aus wirtschaftlichen Erfordernissen, in Städten eng zusammen und verbringen zudem einen Großteil ihres durch die Arbeits- und Lebensbedingungen oftmals nur noch sehr kurz währenden Lebens an fremdbestimmten und hoch arbeitsteilig diversifizierten Arbeitsstellen, die neben der Entfremdung außerdem nur einen allzu kargen Lohn erbringen. In Deutschland hungern die Weber, in Frankreich zerstören sie die Webstühle mit ihren Holzpantinen – den ‘Sabots’, daher stammt der Begriff Sabotage – und in England wird der Manchesterkapitalismus zum Inbegriff des ärmlichen, fremdbestimmten und ausgebeuteten Arbeiters. Karl Marx und Friedrich Engels liefern die theoretische Erklärung für den Grund zu dieser menschenunwürdigen Entwicklung – wahrlich, ein Gespenst geht um, nur nicht das, welches die beiden Denker meinten, sondern das des Sinnverlustes.
Ein erstaunliches Bild, das der gute Frank da zeichnet! Die großartigen Fortschritte in Wissenschaft, Technik und Medizin werden mit Ausbeutung und Entfremdung im Kapitalismus auf eine Stufe gestellt und unter dem Begriff "Sinnverlust" zusammengefasst! Auffällig ist dabei, dass der große Gewinner des 19. Jahrhunderts, die Bourgeoisie, überhaupt nicht erwähnt wird. Denn es sind nicht die realen ökonomischen Verhältnisse und die auf ihnen basierende Klassenstruktur der Gesellschaft, die Weinreich interessieren. Besonders bizarr erscheint deshalb auch die Erwähnung von Marx und Engels. Denn wenn diese tatsächlich die „theoretische Erklärung" für diese „menschenunwürdige Entwicklung" geliefert hätten, müsste Weinreich doch eine antikapitalistische Position beziehen, und das käme ihn sicher nie in den Sinn. Für ihn ist der Rationalismus und die mit ihm einhergehende "Entzauberung der Welt" für alle Übel der modernen Epoche verantwortlich. Es ist darum auch kein Wunder, dass er in den Arbeitern bloß hilflose Elendsgestalten oder impulsive Maschinenstürmer zu sehen vermag, wobei ich den Verdacht nicht loswerde, dass wir die Erwähnung der Sabots einzig einer Bemerkung der Vulkanierin Valeris in Star Trek VI: Das unentdeckte Land zu verdanken haben. Kein Wort hingegen über die mächtige Bewegung der Chartisten in England, Blanquis konspiratorische Societé des Saisons in Frankreich, den internationalen Bund der Kommunisten oder die Pariser Juni-Insurrektion von 1848 – von Entwicklungen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mal ganz zu schweigen. Arbeiter als bewusste politische Kämpfer passen einfach nicht in Weinreichs Weltbild.
Wenn man die Welt und die Geschichte aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist es verständlich, dass man in Novalis' Kampf gegen das wissenschaftliche Weltbild der "Zahlen und Figuren" (16) die höchste Form der Rebellion sehen muss, ist dieses doch das vermeindliche Grundübel der modernen Epoche. Die einzige Kritik, die Weinreich in diesem Zusammenhang an den Romantikern anzubringen hat, ist denn auch, dass sie noch an die Möglichkeit eines Erfolgs ihrer Revolte glaubten.

Ginge es mir in erster Linie um eine Kritik an Frank Weinreichs Ansichten, so müsste ich mich nun daranmachen, sein eigenes Weltbild etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn sein einseitiges Bild der Romantik lässt sich in erster Linie darauf zurückführen, dass er den Dichtern der Vergangenheit seine eigene Sicht der Dinge unterschiebt. Ein solches Unternehmen würde beinah automatisch zu einer Kritik seiner Interpretation der Fantasy als einer "metaphysischen Literatur" führen. Doch so lohnend ein solches Unterfangen auch wäre, hier ist nicht der richtige Ort dafür. Geht es mir doch vor allem darum, eine ganz andere, in der englischen Romantik beginnende Traditionslinie und ihre Verbindung zu J.R.R. Tolkien nachzuzeichnen.

Im Vergleich zu den deutschen Romantikern war die Mittelalterbegeisterung unter den englischen Dichtern eher verhalten. Da, wo sie sich zeigt, erweist sie sich – wie so viele Elemente der Romantik – als zwiespältig.
Walter Scott etwa schuf ein Mittelalterbild, mit dem sich die Bourgeoisie sehr gut anfreunden konnte. Ist das zentrale Thema seiner historischen Romane – wie Georg Lukacs dies einmal herausgearbeitet hat – das Versöhnen von Gegensätzen, die den Zusammenhalt der Gesellschaft bedrohen, so stellt auch sein Mittelalter keinen Gegenentwurf zur bürgerlichen Ordnung dar, sondern eher eine Art wortgewordenen englischen Landschaftsgarten – scheinbar wild und mit pittoresken Ruinen und Eremitagen ausgestattet –, in dem man einen verträumten Abendspaziergang machen kann, nur um am nächsten Morgen pünktlich auf die Minute zur Arbeit im Kontor zu erscheinen. Ähnliches gilt für seine Helden, die von Moorcock als Vorläufer des stereotypen „decent chap" (17) bezeichnet worden sind, wie er in der viktorianischen Literatur zu Prominenz gelangen würde. Bürgerliche Moral lässt sich ohne weiteres in eine romantische Ritterrüstung stecken, wie dies insbesondere Tennyson mit seinen Idylls of the King beweisen sollte, in denen Arthur, Lancelot, Galahad & Co. zu  bloßen Verkörperungen von  „Victorian middle-class values in medieval fancy dress" (18) geworden sind.
Doch die scott’sche Warte war nicht die einzig mögliche. Shelley, der ganz sicher nichts für die feudalen Überreste in der sozialen und politischen Ordnung Englands übrig hatte, gab doch der alten Aristokratie mit ihrer Kultiviertheit und ihrem Standesethos den Vorzug vor den bürgerlichen Parvenus:
Ihre Mitglieder besitzen eine gewisse edle Großzügigkeit sowie verfeinerte Sitten und Ansichten, die zwar weder Philosophie noch Tugend sind, doch als Ersatz dafür anerkannt werden und zumindest eine Religion darstellen, die gegenüber jenen ehrwürdigen Namen Hochachtung einflößt. Die andere ist eine Aristokratie von Anwälten, Steuereinnehmern, Staatspensionären, Wucherern, Börsenmaklern, Provinzbankiers samt ihrer Gefolg- und Nachkommenschaft. Das ist eine Klasse von Schuften, die anderen die Haut abziehen und in deren Dienst für die Übung der edleren Fähigkeiten des Geistes kein Raum ist, nicht einmal für deren Mißbrauch. (19)
Von dieser Position aus konnte man natürlich sehr leicht zu ausgesprochen reaktionären Ansichten gelangen, hatte doch auch Edmund Burke – der Chefideologe der Reaktion – in seinen Reflections on the French Revolution gejammert: „[T]he age of chivalry is gone. That of sophisters, economists, and calculators, has succeeded; and the glory of Europe is extinguished for ever." (20)
Derselbe Burke hatte allerdings auch erklärt: „[The laws of commerce [...] are the laws of nature, and consequently the laws of God." (21) Und das revolutionäre Potential der romantischen Hinwendung zum Mittelalter bestand genau darin, dazu beitragen zu können, diese laissez-faire-Ideologie, derzufolge der Kapitalismus die "natürliche" und damit ewige Ordnung der menschlichen Gesellschaft sei, zu untergraben. Eine genauere Beschäftigung mit der mittelalterlichen Kultur konnte zu einem geschärften historischen Bewusstsein führen, und ein solches würde einem deutlich machen, dass die bürgerliche Ordnung und ihre Werte – Nützlichkeit, Wettbewerb, kommerzieller Erfolg, Profitabilität – nur einen sehr kleinen und sehr jungen Teil der Geschichte ausmachen. Über Jahrtausende haben sich die Menschen in ihrem Leben und Arbeiten an völlig anderen Idealen orientiert.
Die eigentlichen Romantiker schufen hierfür freilich nur die Grundlage, erst mit Thomas Carlyle (1795-1881) begann sich dieses Potential voll zu entfalten.

Fortsetzung folgt ...



(1) George R.R. Martin: Einleitung. In: Karen Haber (Hg.): Tolkiens Zauber. Essays und Erinnerungen von Terry Pratchett, Ursula K. Le Guin, George R.R. Martin und anderen. S. 28.
(2) Auf dem Umweg über George MacDonald spielt Novalis tatsächlich eine gewisse Rolle in der Vorgeschichte der Fantasy, doch ist dies eine Traditionslinie, die so gut wie nichts mit Tolkien zu tun hat. 
(3) Zumindest teilweise erkennt Weinreich dies an, wenn er schreibt: "Die Romantik war auch eine Bewegung des Neuanfangs, geboren aus der Erfahrung der französischen Revolution. Denn der Sturz der absoluten französischen Monarchie war in gewisser Weise herbeigeschrieben worden; Dichter und Denker gehörten zu ihren Protagonisten. Damit war der Beweis erbracht, dass Denken und Schreiben die Welt verändern können (vgl. Safranski 31). Zu Dichtern, die besonders von der Revolution beeinflusst wurden, gehörten unter anderen die Briten William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge." Mit dem hier gezeichneten Bild einer "herbeigeschriebenen" Revolution stimme ich freilich nicht überein. Sicher, ohne Rousseau kein Robespierre, aber sind Aufklärung und Revolution nicht zwei Phasen derselben gesellschaftlichen Entwicklung, deren Wurzeln in materiellen, ökonomischen Veränderungen zu suchen sind? Als Charakterisierung der Illusionen der romantischen Generation mag diese Beschreibung allerdings zutreffend sein.
(4) Robert Burns: Why Should We Idly Waste Our Prime. V. 19f. In: The Poetry of Robert Burns. Bd. 4. S. 57.
(5)  To William Godwin, Author of ‘Political Justice’. In: The Complete Poetical Works of Samuel Taylor Coleridge. Bd. 1.  S. 86.
(6) So zumindest berichtet es John Thelwall, einer der Führer der London Corresponding Society: "I found him a decided Leveller – abusing the democrats for their hypocritical moderatism, in pretending to be willing to give the people equality of privileges and rank, while, at the same time, they would refuse them all that the others could be valuable for – equality of property – or rather abolition of all property." (Zit. nach: E. P. Thompson: The Romantics. S. 131.)
(7) William Wordsworth: The Prelude; or Growth of a Poet’s Mind. Buch XI. V. 138ff.; 113ff.
(8) George Gordon Byron: Don Juan. Dedication. I, 1-6; II, 5-8; IV; X, 5-8.
(9) Percy Bysshe Shelley: The Mask of Anarchy. XCI. In: Ders.: Ausgewählte Werke. S. 488.
(10) George Gordon Byron: Epigrams. In: The Works of Lord Byron. Bd. 7. S. 81.
(11) Man kann im Anschluss an E.P. Thompson allerdings sehr wohl die Ansicht vertreten, dass ihre Verwandlung in brave Biedermänner mit einem allmählichen Erlöschen ihrer Schöpferkraft einhergegangen sei. Ihre bedeutendsten Werke hatten sie jedenfalls zu einer Zeit geschaffen, als der Geist der Rebellion noch nicht völlig in ihnen abgestorben war. Eine zufällige Entwicklung war dies wohl kaum, und möglicherweise spürte Coleridge selbst den Grund dafür, als er die Zeilen niederschrieb: "Work without Hope draws nectar in a sieve,/ And Hope without an object cannot live". (In: The Complete Poetical Works of Samuel Taylor Coleridge. Bd. 1.  S. 447.)
(12)  „In Xanadu did Kubla Khan/ A stately pleasure-dome decree:/ Where Alph, the sacred river, ran/ Through caverns measureless to man/ Down to a sunless sea." (Kubla Khan. V. 1-5. In: The Complete Poetical Works of Samuel Taylor Coleridge. Bd. 1.  S. 297.)
(13) Eric Hobsbawm: Europäische Revolutionen 1789-1848. S. 510.
(14) Karl Marx & Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. S. 135f.
(15)  Zit. nach: Eric Hobsbawm: Europäische Revolutionen 1789-1848. S. 505.
(16) „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren/ Sind Schlüssel aller Kreaturen/ Wenn die, so singen oder küssen,/ Mehr als die Tiefgelehrten wissen,/  Wenn sich die Welt ins freie Leben/ Und in die Welt wird zurückbegeben,/ Wenn dann sich wieder Licht und Schatten/ Zu echter Klarheit wieder gatten,/ Und man in Märchen und Gedichten/ Erkennt die ew’gen Weltgeschichten,/ Dann fliegt vor einem geheimen Wort/ Das ganze verkehrte Wesen fort." (Novalis: Dichtungen. S. 62f.)
(17) Vgl.: Michael Moorcock: Wizardry & Wild Romance. S. 79f.
(18) E. P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary. S. 80.
(19) Percy Bysshe Shelley: Die Reform aus philosophischer Sicht. In: Ders: Dichtung und Prosa. S. 582f.
(20) Edmund Burke: Reflections on the French Revolution. S. 126.
(21) Edmund Burke: Scarcity. S. 22. Zit. nach: Linda C. Raeder: The Liberalism/Conservatism of Edmund Burke and F. A. Hayek: A Critical Comparison.

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