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Freitag, 19. April 2013

William Hope Hodgson

Vor 95 Jahren – am 17. oder 19. April 1918 (1) – wird in der Nähe von Ypres ein vierzigjähriger britischer Soldat auf vorgerücktem Posten von einer deutschen Granate in Stücke gerissen. Er ist nur eines der unzähligen Opfer, die die jahrelangen Kämpfe um die belgische Stadt, der die Tommies nicht ohne Grund den Spitznamen "Wipers" gegeben haben, auf beiden Seiten kosten. Mit ihm stirbt einer der interessantesten Vertreter der Phantastik jener Zeit. Sein Name William Hope Hodgson.

Geboren am 15. November 1877 in Blackmoore End, Essex, als Sohn eines anglikanischen Priesters, läuft der dreizehnjährige William 1890 aus dem Internat fort, um zur See zu fahren. Zwar gelingt es, den Jungen wieder "einzufangen", doch geben die Eltern seinem Wunsch schließlich nach, und ein Jahr später beginnt er als Schiffsjunge eine vierjährige Lehrzeit bei der Handelsmarine, der ein zweijähriges Studium an einer Technischen Schule in Liverpool folgt, mit dem der junge Hodgson seine Ausbildung zum Dritten Maat beendet. Bis 1902 fährt er zur See und lässt sich anschließend in Blackburn nieder, wo er eine Schule für "körperliche Ertüchtigung" gründet. Entsprechende Techniken hatte er sich während seiner Zeit als Matrose beigebracht, um sich gegen die Misshandlungen durch andere Seeleute besser verteidigen zu können, die in dem eher kleingewachsenen jungen Mann mit den zarten Gesichtszügen offenbar ein ideales Opfer für ihre Brutalitäten erblickten. Obwohl er zu seinen Kunden u.a. Mitglieder der örtlichen Polizei zählen kann, ist die Schule auf Dauer kein finanzieller Erfolg, und so wendet  sich Hodgson 1904 schließlich der Schriftstellerei zu.

Seine Zeit zur See hat sehr deutliche Spuren im Werk des Autors hinterlassen. Er, der sich als kleiner Junge nichts sehnlicher gewünscht hatte, als Matrose zu werden, hatte das Meer über die Jahre regelrecht zu hassen gelernt. Einer der Gründe dafür bestand ohne Zweifel in den miserablen Verhältnissen, unter denen Lehrlinge und einfache Matrosen in der britischen Handelsmarine jener Zeit zu leiden hatten. Er selbst schrieb darüber später: "[B]ad treatment, poor food, poor wages ... a comfortless, weariful, and thankless life ... of hardness and sordidness ... [and] being a pawn with the sea for board and the shipowners for players." (2) Doch der Abscheu ging offenbar noch sehr viel tiefer. Alan Gulette schreibt in seiner biographischen Skizze William Hope Hodgson: Reporter from the Borderland: "[A]fter having sailed around the world three times, he realized (belatedly!) that he hated the sea –  and with such passion that in nearly all his writings the sea is regarded with a feeling of horror, almost as if it were evil."
Nun bin ich mit Hodgsons Oeuvre nicht wirklich umfassend vertraut und habe so gut wie keines seiner "maritimen" Werke gelesen, weder seine Romane The Boats of the "Glen Carrig" (1907) und The Ghost Pirates (1909), noch die Sargasso Sea - oder die Captain Gault - Geschichten. Deshalb kann ich zu diesem Thema auch keine eigene Meinung abgeben. Die einzige auf hoher See spielende Geschichte des Autors, die ich aus eigener Leseerfahrung kenne, ist The Voice in the Night (1907). Ob es sich bei ihr tatsächlich um seine "vielleicht beste Kurzgeschichte" handelt, wie Gulette behauptet, kann ich naturgemäß nicht sagen. Ein echter Klassiker ist sie auf jedenfall, hat hier doch zum wohl ersten Mal der befremdliche und beunruhigende Eindruck, den Pilze und Flechten auf uns machen können, seinen literarisch-phantastischen Ausdruck gefunden. Die Story diente als Grundlage sowohl für eine Episode von Alfred Hitchcocks TV-Serie Suspicion als auch für Ishiro Hondas Film Matango aus dem Jahr 1963. (3)

Hodgsons bekannteste Werke dürften jedoch die Romane The House on the Borderland (1908) und The Night Land (1912) sein. Über ersteren schrieb H.P. Lovecraft:
The wanderings of the Narrator's spirit through limitless light-years of cosmic space and Kalpas of eternity, and its witnessing of the solar system's final destruction, constitute something almost unique in standard literature. And everywhere there is manifest the author's power to suggest vague, ambushed horrors in natural scenery. But for a few touches of commonplace sentimentality this book would be a classic of the first water.
Dieses sehr positive Urteil aus der Feder des Gentlemans von Providence ist nur zu verständlich, darf The House on the Borderland doch mit einiger Berechtigung als eines der frühen großen Beispiele für den "kosmischen Schrecken" gelten. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Bram Stokers Dracula gerade einmal elf Jahre zuvor erschienen war, wird einem die Bedeutung des Bruchs mit den Konventionen der "gothic literature" erst richtig bewusst, die Hodgson mit seinen überlappenden Existenzebenen und kosmischen Dimensionen in diesem Roman vollzogen hat. In vielerlei Hinsicht stellt er eine Art Bindeglied zwischen der Horrorliteratur des 19. und des 20. Jahrhunderts dar. (4)
Eine genaue Einschätzung von The Night Land fällt schon sehr viel schwerer. Das Buch macht es einem aber auch wirklich nicht leicht. An die schwerfällige, bemüht altertümlich wirkende Sprache wird man sich (wenn überhaupt) nur sehr langsam gewöhnen können. Die Rahmenerzählung wirkt eher irritierend, und die Haupthandlung scheint mitunter nur im Schneckentempo voranzuschreiten. Dennoch handelt es sich um ein ungemein faszinierendes Werk, über das Clark Ashton Smith einmal geschrieben hat:
In all literature, there are few works so sheerly remarkable, so purely creative, as The Night Land. Whatever faults this book may possess, however inordinate its length may seem, it impresses the reader as being the ultimate saga of a perishing cosmos, the last epic of a world beleaguered by eternal night and by the unvisageable spawn of darkness. Only a great poet could have conceived and written this story.
Die Erzählung spielt in einer weit entfernten Zukunft. Die Sonne ist schon seit langem erloschen und die letzten Überreste der Menschheit haben sich in eine gewaltige, metallene Pyramide zurückgezogen, während draußen in der Ödnis monströse Kreaturen, Eindringlinge aus unirdischen Welten, ihr Unwesen treiben. Die gespenstische, bedrückende und fremdartige Atmosphäre, die Hodgson heraufbeschwört, indem er seinen Erzähler das Panorama des in ewige Nacht getauchten Landes schildern lässt, welches sich diesem von der Spitze der Pyramide aus darbietet, dürfte kaum ihresgleichen in der englischsprachigen Literatur der Zeit besitzen.

Sehr viel leichter zugänglich und als erster Einstieg in sein Werk vielleicht am besten geeignet, sind seine Geschichten um Thomas Carnacki, den "Ghost Finder". Hodgson war nicht der erste Autor, der die Abenteuer eines "Detektivs des Okkulten" geschildert hat. Als direkter Vorläufer (und Inspirationsquelle) muss dabei vor allem Algernon Blackwoods John Silence genannt werden. (5) Und natürlich wäre er ohne den gewaltigen Erfolg von Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes sicher nie auf die Idee gekommen, Detektiv- und Horrorgenre miteinander zu verschmelzen. (6)
Nichtsdestoweniger ist Hodgsons Carnacki eine sehr originelle und interessante Figur.  Der Detektiv geht mit einem wachen und kritischen Verstand an seine Fälle heran. Sein erster Schritt ist dabei stets, auf methodische Weise sicherzustellen, dass den vermeintlich übernatürlichen Phänomenen nicht ganz irdische Ursachen zugrundeliegen. Denn wie er selbst in The Thing Invisible erklärt:
"I am as big a skeptic concerning the truth of ghost tales as any man you are likely to meet; only I am what I might term an unprejudiced skeptic. I am not given to either believing or disbelieving things ‘on principle,’ as I have found many idiots prone to be, and what is more, some of them not ashamed to boast of the insane fact. I view all reported ‘hauntings’ as unproven until I have examined into them, and I am bound to admit that ninety-nine cases in a hundred turn out to be sheer bosh and fancy."
Und tatsächlich erweisen sich in einigen der Stories die Spukerscheinungen am Ende als alles andere als übernatürlich.
Carnacki ist ein Mann der Technik und der Wissenschaft, wobei letztere bei ihm freilich auch die okkulten  Lehren umfasst. Bei seinen Untersuchungen bedient er sich sowohl moderner Instrumente wie Fotoapparat und Mikrofon als auch uralter Rituale, die er dem mysteriösen Sigsand Manuscript entnimmt. Mitunter kombiniert er beide Methoden, wie im Fall des "Elektrischen Drudenfußes", dem er  mehr als einmal die Rettung von Leben und Seelenheil verdankt.
Das vielleicht Interessanteste an den Geschichten ist jedoch die detaillierte und packende Schilderung der Auswirkungen, die die Begegnung mit den Mächten "aus einer anderen Existenzebene" auf Carnackis Psyche hat. Der "Ghost Finder" ist kein Held, der sich schämen würde, von seiner Angst zu sprechen.
Sieben der Carnacki-Stories – The Thing Invisible, The Gateway of The Monster, The House Among The Laurels, The Whistling Room, The Searcher of the End House, The Horse of the Invisible und The Find – kann man sich übrigens von dem unvergleichlichen Mr. Jim Moon im Rahmen seines Podcasts Hypnobobs vortragen lassen.

Clark Ashton Smith beendete seinen kurzen Aufsatz über William Hope Hodgson mit folgender Bemerkung:
It is to be hoped that work of such unusual power will eventually win the attention and fame to which it is entitled. Beyond doubt, accident and fatality play a large part in such matters; and many meritorious books and works of art are still shadowed in obscurity. Hodgson, though little known, is in good company. How many, even among fantasy lovers, have heard of the great imaginative artist, John Martin, or the equally great and macabre imaginative poet, Thomas Lovell Beddoes?
Man kann in der Tat nur hoffen, dass das Werk dieses Klassikers der Phantastik auch heute noch genug Leserinnen & Leser findet, die sich von den fraglos vorhandenen stilistischen Schwierigkeiten nicht abschrecken lassen, und sein Name damit auch in Zukunft nicht in Vergessenheit geraten wird.
Zum Abschluss nun noch eine Komposition von Stephan Probst mit dem Titel The Quieting, die von einer Passage aus The Night Land inspiriert wurde




(1) Die Quellen scheinen sich da nicht einig zu sein. Ich wollte diesen Blogeintrag darum eigentlich am 18.4. veröffentlichen, was aus verschiedenen Gründen jedoch nicht möglich war.
(3) Wer sich näher für das Thema "Pilze und Horror" interessiert, sei auf das Interview der Weird Fiction Review mit Silvia Moreno-Garcia & Orrin Grey sowie auf die Website zu deren Anthologie Fungi verwiesen.
(4) Sam Gafford hat die These aufgestellt, William Hope Hodgson habe seine Romane nicht in der Reihenfolge ihres Erscheinens geschrieben, sondern in genau umgekehrter Ordnung. Sollte er damit recht haben, dann wäre The House on the Borderland bereits 1904 entstanden. Wie stichhaltig seine Argumentation tatsächlich ist, kann ich nicht beurteilen.
(5) Josh Reynolds hat vor geraumer Zeit auf Black Gate eine Artikelserie über "okkulte Detektive" und Kämpfer gegen das Böse (The Nightmare Men) gestartet, in der er neben Algernon Blackwoods John Silence und Hodgsons Carnacki bisher Sheridan Le Fanus Dr. Hesselius, Ella Scrymsours Shiela Crerar, Alice & Claude Askews Aylmer Vance, Manly Wade Wellmans Judge Pursuivant und John Thunstone, Lin Carters Anton Zarnak, Bram Stokers Abraham Van Helsing, H.P. Lovecrafts Inspector Legrasse, Brian Lumleys Titus Crow, Jim Beards Sgt. Roman Janus, Robert E. Howards John Kirowan und August Derleths Dr. Shrewsbury vorgestellt hat.
(6) In Alan Gulettes biographischem Artikel zu Hodgson findet sich in diesem Zusammenhang eine {ähem} etwas eigentümliche Passage: "At the same time, in real life, Sherlock Holmes's creator, Arthur Conan Doyle was investigating – and exposing – seances and other occult phenomenon in his search for proof of a psychic dimension. Similarly engaged was Harry Houdini, who incidentally had met Hodgson in 1902." In Wahrheit war Conan Doyle alles andere als ein Skeptiker. Seine Leichtgläubigkeit in Sachen "übernatürlicher" Phänomene war vielmehr so groß, das der Sunday Express das Erscheinen seines zweiten Buches über Spiritismus mit der recht unhöflichen Schlagzeile kommentierte: "Is Conan Doyle Mad?” Wer einen Eindruck davon bekommen will, wie naiv der Autor in solchen Fragen war, schaue sich z.B. einmal sein putziges Buch über die "Feenfotografien von Cottingley" an. Es war dieser durch keinerlei Argumente, Fakten oder Beweise zu erschütternde Glaube Conan Doyles an das Übernatürliche, der schließlich zum Bruch mit Harry Houdini führte. Der große Magier hatte es sich nämlich tatsächlich zum Ziel gesetzt, Medien und andere "esoterische" Scharlatane zu entlarven. (Vgl.: Houdini's Impossible Demonstration von Massimo Polidoro.)

2 Kommentare:

  1. Greg Bear hat vor einigen Jahren mit "City at the End of Time" eine Art Hommage an "The Night Land" geschrieben. Hodgson wird dort sogar (nicht namentlich) erwähnt.

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  2. Und wieder ein Buch mehr auf der ewig wachsenden Liste ... Trotzdem: Danke! :)

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