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Mittwoch, 10. April 2013

Herland

Utopische Erzählungen sind selten eine besonders spannende Lektüre. Ihr eigentlicher Inhalt besteht in der Beschreibung einer Gesellschaftsordnung, und die Rahmenhandlung dient für gewöhnlich als bloßes Vehikel hierfür. Auf intellektueller und historischer Ebene finde ich diese Bücher dennoch nicht selten recht faszinierend.
Die meisten Klassiker des Genres – von Thomas Morus' Utopia bis zu William Morris' News from Nowhere – habe ich bereits vor Jahren gelesen, doch ein recht prominenter Vertreter war mir bisher eigentlich nur dem Namen nach bekannt gewesen: Charlotte Perkins Gilmans erstmals 1909 veröffentlichter Roman Herland. Natürlich wusste ich, dass es sich dabei um die erste große feministische Utopie handelt, die eine ausschließlich aus Frauen bestehende Gesellschaft beschreibt. Doch das war auch schon alles. Die Autorin war mir vor allem als Verfasserin der phantastischen Erzählung The Yellow Wallpaper ein Begriff. Eine Wissenslücke, die es endlich einmal zu schließen galt.

Das Ergebnis? Herland besitzt seine Stärken, aber sie liegen nicht in der gesellschaftsutopischen Dimension, sondern in der Art, in der Gilman gängige sexistische Sichtweisen und  Wertvorstellungen ihrer Zeit karrikiert und bloßstellt.

Bereits die literarische Form, in die die Autorin ihre Utopie gekleidet hat, scheint mir in dieser Hinsicht geschickt gewählt, orientiert sich die Rahmenerzählung doch am Vorbild der damals sehr beliebten "Lost World" - Geschichten, wie wir sie etwa von Arthur Conan Doyle, H. Rider Haggard oder Edgar Rice Burroughs kennen. Und sind diese nicht Ausdruck eines betont "männlichen" Entdeckerethos? Hinzu kommt, dass die drei Protagonisten in gewisser Weise Verkörperungen von drei unterschiedlichen Spielarten des männlichen Chauvinismus sind. Terry ist die mit Abstand widerlichste Gestalt. Für ihn sind Frauen eindeutig minderwertige Geschöpfe, deren Hauptdaseinszweck darin besteht, Sexualobjekte zu sein, die es zu erobern und zu unterwerfen gilt. Jeff als der klassische Südstaaten-Gentleman erscheint da schon sehr viel sympathischer, aber seine "Ritterlichkeit", die es ihm zur Pflicht macht, alle Frauen zu "ehren" und zu "beschützen", ist im Grunde natürlich auch Ausdruck eines männlichen Überlegenheitsgefühls. Der Erzähler Van schließlich hegt zu Beginn der Geschichte als Soziologe zwar viele der damals üblichen "wissenschaftlich" verbrämten Vorurteile über "natürliche Geschlechterrollen" und ähnliches, ist jedoch am ehesten bereit, diese zu revidieren, sobald ihm deren Unhaltbarkeit anschaulich vor Augen geführt wird.
Diese drei Männern nun entdecken während einer Expedition zum Oberlauf des Amazonas ein nur von Frauen bewohntes Reich, das sich von der Außenwelt völlig abgeschottet in einem Ausläufer der Anden entwickelt hat. Seine Bewohnerinnen pflanzen sich bereits seit Jahrhunderten mittels Parthenogenese (Jungfrauengeburt) fort. Schon bald nach ihrem Eindringen werden die drei "gefangengenommen" und lernen in der Folge von ihren Wächterinnen nach und nach alles Wissenswerte über die Gesellschaft von "Herland". Dabei sehen sich nicht nur gezwungen, viele ihrer sexistischen Vorurteile {Frauen sind zu Kooperation & Organisation nicht fähig} neu zu überdenken, die Fragen ihrer wissbegierigen Hüterinnen/Lehrerinnen decken auch immer wieder unbeabsichtigterweise den frauenfeindlichen und von Heuchelei und Doppelmoral geprägten Inhalt westlicher Moralvorstellungen auf. Und als es schließlich soweit kommt, dass die "Entdecker" drei einheimische Mädchen heiraten {eine zugegebenermaßen recht unglaubwürdige Entwicklung}, ist dies ein willkommener Anlass, die patriarchalischen Vorstellungen von "Eheleben" und "häuslichem Glück" auseinanderzunehmen.

So weit ist das alles recht clever gemacht und enthält berechtigte und intelligente Attacken gegen den klassischen Sexismus. Problematisch wird es, sobald Gilman beginnt, ihre "ideale" Gesellschaft zu beschreiben. Und die biologisch absurde Vorstellung menschlicher Parthenogenese ist dabei nicht einmal das eigentliche Problem.
Wie jedes ordentliche Utopia ist auch "Herland" frei von Krankheit, Armut und Elend, und seine in größter Soldidarität zusamenlebenden Bewohnerinnen zeichnen sich ausnahmslos durch ein geradezu erschreckendes Maß an Stärke, Geschicklichkeit, Schönheit, geistiger Ausgeglichenheit und Intelligenz aus.
Nun finde ich es einerseits sehr begrüßenswert, dass Charlotte Perkins Gilman ihren Feminismus überhaupt mit einem sehr viel weiter gefassten Ideal einer besseren Gesellschaft verknüpfte. Schaut man sich heute um, so ist das ja nur noch eher selten der Fall. Viele Feminstinnen scheinen vielmehr bloß noch das Ziel zu verfolgen, Frauen die gleichen "Aufstiegschancen" innerhalb der bürgerlichen Ordnung zu erkämpfen. Mit anderen Worten: Ihr Ideal besteht darin, den weiblichen Anteil an der herrschenden Elite auf ein "gerechtes" Maß zu vergrößern. Die auf sozialer Ungleichheit und Ausbeutung basierende Gesamtstruktur des Kapitalismus hingegen stellen sie nicht in Frage. {Phyllida Lloyd und Abi Morgan haben es in ihrem Film The Iron Lady (2012) ja sogar so weit getrieben, Margaret Thatcher zu einer feministischen Ikone zu machen!}
In dieser Hinsicht steht Gilman weit über vielen ihrer heutigen Gesinnungsgenossinnen. Allerdings kommt man nicht umhin, sich zu fragen, worin die Grundlage für "Herlands" ideale Gesellschaft bestehen soll. Und soweit der Text hierauf überhaupt eine Antwort gibt, ist diese wenig zufriedenstellend.
Das Frauenreich trägt ohne Zweifel sozialistische Züge, so etwa wenn es von der hochentwickelten Landwirtschaft "Herlands" heißt:
To them the country was a unit – it was theirs. They themselves were a unit, a conscious group; they thought in terms of the community. As such, their time-sense was not limited to the hopes and ambitions of an individual life. Therefore, they habitually considered and carried out plans for improvement which might cover centuries.

Am deutlichsten zeigt sich die Nähe zum Sozialismus aber im Erziehungssystem, bei dem kollektive Verantwortung die Hauptrolle übernommen hat, ohne deshalb die natürliche Mutter-Kind-Beziehung zu zerstören. Seine Beschreibung bildet das vielleicht interessanteste Kapitel des Romans.
Zeigt sich hierin einerseits, dass eine höhere Gesellschaftsordnung gar nicht anders als auf sozialistischer Grundlage denkbar ist, so ist andererseits doch sehr auffällig, dass Gilman es bewusst vermeidet, auf die Fragen von Eigentum und wirtschaftlicher Organisation genauer einzugehen. Sie selbst war zumindest zu Beginn ihrer Karriere eine Anhängerin des "Nationalismus", jener eigentümlichen politischen Strömung im Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die ihre Inspiration aus Edward Bellamys Schilderung einer kollektivistischen Gesellschaftsordnung in seinem Roman Looking Backward bezog. Darf man Wikipedia glauben, so entwarf sie in Moving the Mountain – dem Vorläufer zu Herland – das Bild eines Wirtschaftssystems "described as being 'beyond Socialism', a strain of nationalism that answered all the questions posed by socialism without actually being socialist, renovating its society and culture". Etwas ähnliches müssen wir uns vermutlich auch unter "Herlands" Ordnung vorstellen, wobei der Verzicht auf jede nähere Charakterisierung allerdings nur um so stärker verdeutlicht, dass dieser "nichtsozialistische Übersozialismus" eine bloße Chimäre darstellt.
Im Falle von Herland hat dies jedoch noch weitergehende Folgen. Da uns Informationen über die ökonomische Grundlage der dargestellten Gesellschaft vorenthalten werden, drängt sich der Eindruck auf, ihr idealer Charakter wurzele letztlich in dem Umstand, dass sie nur aus Frauen besteht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass die kapitalistischen Werte von "Kampf" und "Wettbewerb" als typisch "männlich" dargestellt werden. {In einer besonders bizarren Passage werden sogar für die angeblichen Übel der Hundehaltung die bösen Männer verantwortlich gemacht!} Damit bewegt sich der Roman gefährlich nahe an die dümmliche Vorstellung heran, Frauen seien von Natur aus die besseren Menschen, und alle Probleme der modernen Gesellschaft seien letztlich darauf zurückzuführen, dass Männer in ihr das Sagen haben. Dabei dürfte zumindest für uns heute kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Frauen in Politik und Wirtschaft ebenso egoistisch und rücksichtslos sein können wie Männer.
Was die Darstellung in meinen Augen noch problematischer macht, ist, dass diese "bessere Natur" der Frau ihre Basis offenbar in der Mutterschaft besitzen soll. "Herland" ist ein Reich von Müttern. Ein Kind zu gebären, gilt für die Bewohnerinnen des Landes als der abolute Höhepunkt ihres Lebens, ein Ereignis von geradezu religiöser Bedeutung. Zugleich bilden die Mutterinstinkte, vom eigenen Kind auf die gesamte nächste Generation ausgeweitet, die psychologische Grundlage für die harmonische, rationale und planmäßige Gestaltung der Gesellschaft. In letzterem mag sich der Kern einer ganz interessanten Idee verbergen, im Ganzen gesehen jedoch empfinde ich es als ziemlich irritierend, wenn die Mutterrolle einen so absoluten Stellenwert zugeschrieben bekommt. Bedeutet dies nicht im Umkehrschluss, dass eine Frau, die sich entschließt, nicht Mutter zu werden, eine Art Verrat an ihrer "natürlichen" Bestimmung begeht? Und ist dies nicht genau das, was die Konservativen seit eh und je gepredigt haben? Gilman bedient sich im Unterschied zu diesen zwar keiner religiösen, sondern biologischer (und damit vermeintlich "wissenschaftlicher") Argumente, doch das Ergebnis bleibt dasselbe.
Ihr "Biologismus" führt sie zudem auch noch in die wenig erfreulichen Gefilde der Eugenik. Die Gesellschaft von "Herland" ist das Ergebnis eines von langer Hand geplanten "Zuchtprogramms". Unerwünschte Charakterzüge hat man über die Jahrhunderte ausgemerzt, indem man ihren Trägerinnen ganz einfach das Recht auf Fortpflanzung verweigerte. Der Fairness halber sollte man allerdings darauf hinweisen, dass eugenische Ideen zu Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs nur in reaktionären oder protofaschistischen Kreisen verbreitet waren. Wie der berühmte Biologe Stephen Jay Gould in einem seiner Essays geschrieben hat:
[D]ie Eugenikbewegung lässt sich nicht so einfach in eine einzige, eindeutige politische Schubalde stecken [...]. Die Anhänger der Eugenik waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine vielgestaltige, mächtige Bewegung. Kaum eine andere Gruppe, die einen einzigen Namen trug, war in jeder anderen Hinsicht so buntscheckig. [...] Die Bewegung umfasste die ganze Palette von starrköpfigen Anhängern der Vererbung, die Behinderte, Kranke und sogar Arme sterilisieren wollten, bis zu den Idealisten der Fabian Society, die kluge, freundliche Menschen dazu veranlassen wollten, mehr Kinder zu bekommen.*
Für den heutigen Leser oder die heutige Leserin werden die entsprechenden Passagen von Herland, in denen Verbrechen auf Erbanlagen zurückgeführt werden, denke ich dennoch einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen.

Derselbe "Biologismus" liegt auch dem Zug des Romans zugrunde, der mich am stärksten abgestoßen hat: Dem Umgang mit Sex und Erotik. "Herland" ist eine vollkommen enterotisierte Gesellschaft. Angesichts der Tatsache, dass es in ihr seit Jahrhunderten nur noch ein Geschlecht gegeben hat, erscheint das vielleicht nicht als gar so unwahrscheinlich. {Die Möglichkeit homosexueller Beziehungen auch nur anzudeuten, ohne sie gleichzeitig zu dämonisieren oder verächtlich zu machen, wäre in einem Roman jener Zeit so gut wie unmöglich gewesen.} Doch die Geschichte bleibt nicht an diesem Punkt stehen. Im Kontext der sich entwickelnden Beziehung zwischen dem Erzähler Van und einer der Frauen von "Herland" zeigt sich vielmehr recht deutlich, dass Gilman tatsächlich der Meinung war, dass die Vorstellung, Sex könne unabhängig vom Produzieren von Nachkommen auch noch einen anderen Wert besitzen {gemeinsamen Spaß vielleicht?}, für einen Ausdruck des bösen Patriarchats hielt. Auf die Verwandtschaft zwischen dem Puritanismus und einigen Spielarten des Feminismus will ich jetzt gar nicht näher eingehen, aber hier wiederholt die Autorin im Grunde doch ganz offensichtlich bloß einige uralte christliche Vorurteile. Wikipedia zufolge war dies Ausdruck eines bizarren "Reform-Darwinismus": "Charlotte believed very seriously that Charles Darwin accidentally subjugated women by installing male sex selection, which requires constant sexual contact as opposed to a more periodic sexuality, thus leading to the oppression of women through rape and violence." Wir sollten unsere sexuelle Akivität also lieber auf saisonale "Paarungszeiten" beschränken, weil es sonst automatisch zu Vergewaltigungen kommen wird? Sorry, aber das ist nicht nur biologisch und  psychologisch gesehen absoluter Blödsinn, es enthält außerdem eine ordentliche Portion Bigotterie. Und in diesem Punkt ist meine Toleranz wirklich sehr beschränkt. In meinen Augen gehört gerade die Tatsache, dass wir Menschen das Ausleben unseres Sexualtriebs von seiner ursprünglichen biologischen Funktion losgelöst haben, zu den schönsten Belegen dafür, dass wir mehr sind als bloße Tiere. Wer die Erotik verteufelt, ganz gleich ob er dies im religiösen oder im feministischen Gewand tut, kann deshalb nicht auf meine Sympathie rechnen.


* Stephen Jay Gould: Wie kann das denkende Schilf von der kernlosen Pflaume lernen? In: Ders.: Ein Dinosaurier im Heuhaufen. Streifzüge durch die Naturgeschichte. S. 373f.

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