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Sonntag, 27. Januar 2013

Lovecraft und die Décadence

Clark Ashton Smith lässt sich aus guten Gründen in vielerlei Hinsicht als ein später Nachkomme der Décadence bezeichnen. In seiner Sensibilität für die musikalischen Qualitäten der Sprache; in seinem überbordenden, rauschhaft-wuchernden Stil; in der das Exotische, Morbide und manchmal Erotische verknüpfenden Motivik vieler seiner Gedichte und Geschichten. Nicht zufällig fertigte er Nachdichtungen der meisten Poeme aus Baudelaires Fleurs du Mal an  Und hatte nicht auch sein Mentor George Sterling manch prachtvolles Beispiel für Fin de Siècle - Lyrik verfasst wie etwa A Wine of Wizardry oder The Gardens of the Sea? (1)

Nun besteht kein Zweifel an der tiefen Bewunderung, die Clark Ashton Smith und H.P. Lovecraft einander entgegenbrachten. Doch bedeutet das keineswegs, dass sie sich in ihrem literarischen Schaffen an denselben ästhetischen Idealen orientiert hätten. Ersterer beschreibt die tiefen Unterschiede in der Herangehensweise an das Phantastische und dem daraus resultiernden Stil in einem Brief an seinen Freund sehr treffend wie folgt:    
My own conscious ideal has been to delude the reader in accepting an impossibility, or series of impossibilities, by means of a sort of verbal black magic, in the achievement of which I make use of prose-rhythm, metaphor, simile, tone-color, counter-point, and other stylistic resources, like a sort of incantation. You attain a black magic, perhaps unconsciously, in your pursuit of corroborative detail and verisimilitude. (2)
Lovecrafts berüchtigte Adjektivhäufungen ("eldritch", "blasphemous", "abominable" usw.) könnte man zwar als ein "dekadentes" Stilmittel bezeichnen, doch sein detailgenauer "Realismus", der dem Einbruch des Übernatürlichen in unsere scheinbar so geordnete und überschaubare Welt eine zusätzliche Schockwirkung verleihen soll, verweist ihn auf eine grundsätzlich andere ästhetische Position. Dennoch kann man zu einigen recht interessanten Beobachtungen gelangen, wenn man sich die Frage nach der Beziehung Lovecrafts zur Décadence stellt.

In weltanschaulicher Hinsicht stand der Gentleman von Providence den "Boston Decadents" in vielen Punkten recht nahe. Beeinflusst von John Ruskin und den Präraffaeliten, William Morris, Walter Pater und Oscar Wilde hatte dieser Kreis von Künstlern, zu dem u.a. der neogotische Architekt Ralph Adams Cram, die Dichterin Louise Imogen Guiney und der Fotograf Fred Holland Day gehörten, in den 1890er Jahren in Publikationen wie The Mahogany Tree und The Knight Errant zur Gründung eines "neuen Rittertums" und zu einem Kreuzzug gegen den Ungeist der Moderne, gegen Kommerzialismus und Philistertum aufgerufen. Anders als viele ihrer englischen Vorbilder und die Mitglieder der zur selben Zeit florierenden Arts & Crafts - Bewegung führte sie ihr Abscheu vor der bürgerlichen Gesellschaft jedoch nicht in die Nähe des Sozialismus. Vielmehr vertraten sie radikal konservative Ideen, träumten von einer Rückkehr zu Monarchie, Katholizismus und Ständegesellschaft.
Lovecrafts eigener extremer Konservatismus, der zum Teil recht bizarre Formen annahm – so wenn er in seinen Schriften Stil und Orthographie des 18. Jahrhunderts imitierte oder in einem Essay von 1918 für eine Wiederbelebung der Pastorale (Schäferlyrik) nach dem Vorbild Spensers und Popes eintrat – speiste sich aus ähnlichen Quellen. Wie die Boston Decadents hasste auch er die bürgerliche Ordnung vor allem deshalb, weil sie das Kunstwerk zu einer bloßen Ware herabgewürdigt hatte und über keine anderen Werte verfügte als Erfolg, Reichtum, Cleverness und Luxus. Wie er es einmal in einem seiner Briefe beschrieben hat:

Bourgeois capitalism gave artistic excellence & sincerity a death-blow by enthroning cheap amusement-value at the expense of that intrinsic excellence which only cultivated, non-acquisitive persons of assured position can enjoy. The determinant market for written, pictorial, musical, dramatic, decorative, architectural, & other heretofore aesthetic material ceased to be a small circle of truly educated persons, but became a substantially larger (even with a vast proportion of society starved & crushed into a sodden, inarticulate helplessness through commercial & commercial-satellitic greed & callousness) circle of mixed origin numerically dominated by crude, half-educated clods whose systematically perverted ideals (worship of low cunning, material acquisition, cheap comfort & smoothness, worldly success, ostentation, speed, intrinsic magnitude, surface glitter, &c.) prevented them from ever achieving the tastes and perspectives of the gentlefolk whose dress & speech & external manners they so assiduously mimicked. This herd of acquisitive boors brought up from the shop & the counting-house a complete set of artificial attitudes, oversimplifications, & mawkish sentimentalities which no sincere art or literature could gratify – & they so outnumbered the remaining educated gentlefolk that most of the purveying agencies became at once reoriented to them. Literature & art lost most of their market; & writing, painting, drama, &c. became engulfed more & more in the domain of amusement enterprises. (3)
Was ihn allerdings sehr deutlich von den Boston Decadents unterschied war, dass er sein Ideal nicht im Mittelalter, sondern im 18. Jahrhundert, in der Ära von Klassizismus und Aufklärung erblickte. Auch hatte er als überzeugter Atheist und Materialist für jede Form von Mystizismus oder Spiritualismus nichts als Spott und Verachtung übrig. In dieser Hinsicht war er ganz ein Mensch der Moderne. Seine "love of abstract truth and scientific logick" (4) machte es ihm unmöglich, sich wie so viele seiner konservativen Gesinnungsgenossen in die schützenden Arme der Religion zu flüchten. Seine Achtung vor der menschlichen Vernunft war zu groß, als dass er von einer Wiedergeburt des Katholizismus hätte träumen können. Er selbst drückte es 1929 so aus: "Thus I am an ultra-conservative socially, artistically, and politically, though an extreme modernist despite my 39 years in all matters of pure science and philosophy." (5)

Wie nah Lovecraft in seiner Einstellung zur Welt und zur Kunst den Neoromantikern und Décadents tatsächlich stand, zeigt vielleicht am besten seine 1926 verfasste Geschichte The Silver Key.
Held der Erzählung ist der Schriftsteller Randolph Carter, der im Alter von dreißig Jahren "the key of the gate of dreams" verliert und daraufhin unerfüllt durch die Gesellschaft der Gegenwart irrt. Alle Welt versucht ihm einzureden, die Wirklichkeit sei viel bedeutender als seine poetischen Visionen, doch ihn widert die Realität bloß an. Er muss Interesse für seine Mitmenschen heucheln, dabei weiß er doch, "how shallow, fickle, and meaningless all human aspirations are, and how emptily our real impulses contrast with those pompous ideals we profess to hold". Besonders unerträglich ist es ihm, dass die meisten Menschen scheinbar immer noch glauben, ihre Existenz habe irgendeine Bedeutung, und dass "the common events and emotions of earthy minds were more important than the fantasies of rare and delicate souls". Dieser Irrglaube führe zu "crude notion of ethics and obligations beyond those of beauty" und zu "illusions of justice, freedom, and consistency". Seine Bekannten drängen Carter dazu, "the animal pain of a stuck pig or dyspeptic ploughman in real life" für etwas Großartigeres zu halten als "the peerless beauty of Narath with its hundred carven gates and domes of chalcedony, which he dimly remembered from his dreams". Ja, dem armen Ästheten wird zu allem Überfluss auch noch zugemutet, er solle Mitgefühl für diese erbärmlichen Erdenwürmer empfinden! Am schlimmsten jedoch ist, dass die meisten Menschen  selbst die gebildeten, kultivierten Vertreter der Elite den überkommenen Ordnungs- und Wertvorstellungen Ade gesagt haben:

They did not know that beauty lies in harmony, and that loveliness of life has no standard amidst an aimless cosmos save only its harmony with the dreams and the feelings which have gone before and blindly moulded our little spheres out of the rest of chaos. They did not see that good and evil and beauty and ugliness are only ornamental fruits of perspective, whose sole value lies in their linkage to what chance made our fathers think and feel, and whose finer details are different for every race and culture. Instead, they either denied these things altogether or transferred them to the crude, vague instincts which they shared with the beasts and peasants; so that their lives were dragged malodorously out in pain, ugliness, and disproportion, yet filled with a ludicrous pride at having escaped from something no more unsound than that which still held them. They had traded the false gods of fear and blind piety for those of license and anarchy.
The Silver Key ist vor allem eine Kampfansage gegen die naturalistische und sozialrealistische Literatur, die im Amerika jener Tage gerade zu ihrer höchsten Blüte gelangte mit Autoren wie Theodore Dreiser, Sherwood Anderson, F. Scott Fitzgerald, John Dos Passos und Ernest Hemingway. Für Lovecraft bestand die Aufgabe der Kunst nicht in der Auseinandersetzung mit dem realen menschlichen Leben. Sie sollte vielmehr einen Ausweg aus diesem eröffnen, das Tor aufstoßen zu Dimensionen jenseits der menschlichen Erfahrung. Schönheit war für ihn nur im radikalen Gegensatz zur Wirklichkeit denkbar: "Calm, lasting beauty comes only in a dream, and this solace the world had thrown away when in its worship of the real it threw away the secrets of childhood and innocence."

Interessanter vielleicht noch als diese innere Verwandtschaft ist die Art, in der Lovecraft die Décadence als Motiv in seinen eigenen Geschichten verwendet hat.
Betrachten wir uns zuerst einmal ein Beispiel dafür, wie dies trotz einer scheinbaren Anknüpfung an die dekadente Tradition nicht geschieht. Die 1923 entstandene Kurzgeschichte The Rats in the Walls wird nicht selten mit The Fall of the House of Usher verglichen. Da es sich bei dem Namen des Erzählers und Protagonisten De La Poer um eine recht offensichtliche Anspielung auf Edgar Allan Poe handelt, und in beiden Erzählungen vom Untergang eines aristokratischen Geschlechtes berichtet wird, scheint es auf den ersten Blick einleuchtend, eine solche Verbindung herzustellen. Tatsächlich jedoch stehen die beiden Erzählungen in ihrer Thematik in diametralem Gegensatz zueinander. In Rats in the Walls geht es um Atavismus und Degeneration, um die Furcht davor, dass  der dünne Firniss der Zivilisation jederzeit abbröckeln und die Bestie im Menschen freilegen kann. De la Poers Abstieg in die Gewölbe unter seinem Familiensitz ist zugleich ein Abstieg in die Vergangenheit der Menschheit und in sein eigenes Unterbewusstsein, in dem nach wie vor der kannibalistische Barbar der Urzeit lebt. Roderick Usher hingegen leidet an einem Übermaß von Kultiviertheit und Verfeinerung. In seiner krankhaften Melancholie und Sensibilität ist er in der Tat das Urbild des Décadent. Doch gerade dieses Motiv übernimmt Lovecraft nicht in seine Geschichte. Was im Grunde leicht verständlich ist, fürchtete er doch vor allem den Zusammenbruch der überkommenen, von der Tradition geheiligten Ordnung, weshalb Fäulnis, Verfall und das drohende Hereinbrechen des Chaos die zentralen Themen seines literarischen Werkes sind.

Gavin Callaghan allerdings vertritt die These, Lovecraft habe auch das Motiv der Décadence "in the form of ‘languid’ sculptors like Henry Wilcox in ‘The Call of Cthulhu’, and degenerate painters like Richard Pickman in ‘Pickman's Model’, as symbols within a larger Spenglerian polemic criticizing Western societal and racial decay" benutzt. Gibt es bei Lovecraft neben den Bildern von Fäulnis und Auflösung also tatsächlich noch ein zweites symbolisches Repertoire zur Illustrierung des Niedergangs der westlichen Zivilisation?
Mehr oder weniger dekadente Künstler und Intellektuelle tauchen tatsächlich immer wieder in seinen Erzählungen auf, aber Figuren wie der hypersensible, leicht neurotische Wilcox oder der dem Morbiden verfallene Pickman machen auf mich einen eher zwiespältigen, keinen eindeutig negativen Eindruck. Sie als Symbole des gesellschaftlichen Verfalls zu interpretieren, scheint mir nicht gerechtfertigt zu sein. Vielmehr spiegelt sich in ihnen Lovecrafts eigenes ambivalentes Verhältnis zur Décadence wider.
Sein alter ego in The Silver Key Randolph Carter ist z.B. gleichfalls ein klassischer Décadent:
He decided to live on a rarer plane, and furnished his Boston home to suit his changing moods; one room for each, hung in appropriate colours, furnished with befitting books and objects, and provided with sources of the proper sensations of light, heat, sound, taste, and odour.
Die Beschreibung erinnert wohl nicht zufällig an Joris-Karl Huysmans berühmten Roman À rebours  (Gegen den Strich) und das ästhetizistische Refugium seines Helden Des Esseintes.
Das genaue Gegenbild dazu finden wir in der Kurzgeschichte The Hound. Auch ihre Protagonisten haben sich, nachdem die literarischen Welten Baudelaires und Huysmans ihren Reiz für sie verloren haben, eine Art Eremitage geschaffen, deren Charakter allerdings ein völlig anderer ist:
Our museum was a blasphemous, unthinkable place, where with the satanic taste of neurotic virtuosi we had assembled an universe of terror and a secret room, far, far, underground; where huge winged daemons carven of basalt and onyx vomited from wide grinning mouths weird green and orange light, and hidden pneumatic pipes ruffled into kaleidoscopic dances of death the line of red charnel things hand in hand woven in voluminous black hangings. Through these pipes came at will the odors our moods most craved; sometimes the scent of pale funeral lilies; sometimes the narcotic incense of imagined Eastern shrines of the kingly dead, and sometimes - how I shudder to recall it! - the frightful, soul-upheaving stenches of the uncovered-grave.
Around the walls of this repellent chamber were cases of antique mummies alternating with comely, lifelike bodies perfectly stuffed and cured by the taxidermist's art, and with headstones snatched from the oldest churchyards of the world. Niches here and there contained skulls of all shapes, and heads preserved in various stages of dissolution. There one might find the rotting, bald pates of famous noblemen, and the flesh and radiantly golden heads of new-buried children.
Statues and painting there were, all of fiendish subjects and some executed by St John and myself. A locked portfolio, bound in tanned human skin, held certain unknown and unnameable drawings which it was rumored Goya had perpetrated but dared not acknowledge. There were nauseous musical instruments, stringed, brass, wood-wind, on which St John and I sometimes produced dissonances of exquisite morbidity and cacodaemoniacal ghastliness; whilst in a multitude of inlaid ebony cabinets reposed the most incredible and unimaginable variety of tomb-loot ever assembled by human madness and perversity.


Die Schilderung des Schatzgewölbes der beiden Ästheten und passionierten Grabräuber ist eine Karrikatur der morbiden Phantasien der Décadence. Ob wir St.John und seinen Freund deshalb als Argumente in Lovecrafts "Spenglerian polemic" betrachten dürfen, scheint mir jedoch eher fragwürdig. In seiner Übertriebenheit macht dieses Panorama auserlesener Scheußlichkeiten eher den Eindruck einer schwarzhumorigen Parodie.
Der These Callaghans entspricht am ehesten die Figur des Edward Derby aus The Thing on the Doorstep. Ein frühreifes Wunderkind schreibt er schon im Alter von sieben Jahren Gedichte "of a sombre, fantastic, almost morbid cast". Willensschwach, verzärtelt, unselbstständig und einzelgängerisch gelingt es ihm nicht, seinen Platz im Leben zu finden. Er lässt sich treiben, veröffentlicht mit achtzehn Jahren eine Sammlung seiner "nightmare-lyrics" unter dem Titel Azathoth and Other Horrors und besucht die Miskatonic-Universität, "looking enviously at the 'daring' or 'Bohemian' set – whose superficially 'smart' language and meaningless ironic pose he aped, and whose dubious conduct he wished he dared adopt." Nach dem Tod seiner Mutter, von der er sich nie zu lösen vermochte, stürzt er sich als Mittdreißiger endgültig in das perverse Leben der Décadents:
He began to mingle in the more "advanced" college set despite his middle age, and was present at some extremely wild doings – on one occasion paying heavy blackmail (which he borrowed of me) to keep his presence at a certain affair from his father's notice. Some of the whispered rumors about the wild Miskatonic set were extremely singular. There was even talk of black magic and of happenings utterly beyond credibility.
Schon immer fasziniert von allem Düsteren und Abnormen wendet Derby sich dem Okkultismus zu, studiert das Necronomicon und andere "verbotene Bücher", betätigt sich aber auch weiterhin als Künstler.

He was a close correspondent of the notorious Baudelairean poet Justin Geoffrey, who wrote The People of the Monolith and died screaming in a madhouse in 1926 after a visit to a sinister, ill-regarded village in Hungary.

Thomas Ligotti – sicher einer der anerkanntesten literarischen Erben Lovecrafts – zieht in seinem Essay Thoughts Concerning A Decadent Universe eine Parallele zwischen den Werken der Décadence und den "verbotenen Büchern" der Horrorliteratur. Beide stellten den paradoxen Versuch dar, das Unaussprechliche auszusprechen:
H. P. Lovecraft [...] invented a fascinating instance of the decadent poetry collection as a forbidden book in the form of The People of the Monolith, by the ‘notorious Baudelairean poet’ Justin Geoffrey, which figures incidentally in 'The Thing on the Doorstep' and was perhaps inspired by David Park Barnitz's [‘Book of Jade’]
Lovecraft hatte Park Barnitz’ Werk  – das wohl morbideste Beispiel amerikanischer Décadence-Lyrik – durch seinen Bekannten Donald Wandrei kennengelernt. Justin Geoffrey dürfte allerdings kaum nach seinem Vorbild geschaffen worden sein, handelt es sich bei dem Dichter doch um eine Erfindung Robert E. Howards. (6) Trotzdem ist Ligotti auf der richtigen Fährte, wenn er eine Verbindung zwischen der dekadenten Poesie und dem verbotenen Wissen des Necronomicon postuliert. Nur sieht diese Verbindung meiner Meinung nach etwas anders als, als er es in seinem Essay formuliert. Sie besteht nicht in dem vermeintlich "Unaussprechlichen", sondern gerade in dem deutlich auszumachenden Inhalt dieser Dichtungen, in der kompromisslosen Entwertung aller Werte durch die Décadents. Park Barnitz ist dafür ein besonders extremes Beispiel, so etwa in den Schlusszeilen seines Gedichtes Fragments:

Ah not in nothingness is any peace,
Nor in peace any peace, nor in the whole,
Nor in the vine nor in the vision, nor
In being nor non-being, nor in all
That man hath dream'd of and hath anguisht for.
Nay not in joy nor the vine jovial,
Nor in the perfume of the lov'd one's breath,
Nay nor in anything anywhere at all;
Nor in illusion; nor what sundereth
Illusion; in the sundering of that chain
There is no joy; and not alas in death
Find I that thing whereof my soul is fain.
All these things also are all vanity
No less than sun and stars that wax and wane
Forever in the everlasting sky.
Nun war Lovecrafts eigene Weltsicht nicht weit entfernt von diesem absoluten Nihilismus, und wenn er sich in seinen Briefen über das "nasty, cynical Book of Jade" äußerte, diesen "remarkable volume of decadent verse", so geschah dies nie in einem negativen Tonfall. (7) Dennoch witterte er offensichtlich eine Gefahr in dieser Art Literatur. Für Park Barnitz war die radikale Verneinung die unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung einer Kunst der Zukunft, deren Geburt er herbeisehnte, ohne sich freilich eine genauere Vorstellung von ihrer Gestalt machen zu können. Das Alte muss in seiner Bedeutungslosigkeit entlarvt und zerstört werden, bevor das Neue sich entwickeln kann. Eine solche Perspektive war Lovecraft notwendigerweise fremd. Bei aller Sympathie musste er in der Décadence letztenendes einen gefährlichen Angriff auf all jene traditionellen Werte sehen, die das einzige Bollwerk gegen die stets drohenden Mächte des Chaos bilden. Als aufgeklärte Menschen wissen wir zwar, dass diese Werte jeder "göttlichen" oder "natürlichen" Grundlage entbehren, doch im Interesse der gesellschaftlichen Ordnung dürfen wir ihre Gültigkeit dennoch nicht in Frage stellen. Tun wir es doch, so öffnen wir damit jenen Kräften Tür und Tor, die unter der Oberfläche der Zivilisation lauern und diese zu vernichten streben. Lovecraft war ein Nihilist, der den Nihilismus fürchtete.
So betrachtet besitzt Edward Derbys Werdegang in The Thing on the Doorstep exemplarischen Charakter. Als Spross einer angesehenen und wohlhabenden Arkhamer Familie gehört er zur traditionellen Elite, doch seine Willensschwäche und seine kränkelnde Gesundheit legen Zeugnis ab von deren psychischem wie biologischem Niedergang. Seine Neigung zur Décadence ist nicht nur ein weiteres Symptom dieses Zerfalls, sie verstärkt und beschleunigt auch den Degenerationsprozess. Die Verse Baudelaires und Justin Geoffreys führen Derby schließlich zum Necronomicon und zum Buch von Eibon. Sie zersetzen sozusagen die geistige Widerstandskraft des jungen Mannes und öffnen ihn für den Einfluss der Großen Alten.
Der Feind tritt auf in Gestalt Asenath Waites, der Tochter des als Hexenmeister verschrieenen Ephraim aus Innsmouth. Die heruntergekommene Hafenstadt ist die wohl eindrücklichste Verkörperung von gesellschaftlichem und oralischem Zerfall in Lovecrafts Werk. Dass Asenaths Mutter, "who always went veiled", offenbar zu den hybriden Nachfahren der Tiefen Wesen ("Deep Ones") gehörte, unterstreicht noch einmal, mit welchen Kräften wir es hier zu tun haben. Derby lernt die junge Frau in den Kreisen der dekadenten "Intelligenzija" kennen und verfällt ihr in kürzester Zeit. Was ihn an ihr fasziniert ist nicht nur ihr umfassendes Wissen in okkulten Angelegenheiten, sondern auch ihre Erscheinung. Daniel Upton, der Erzähler der Geschichte, beschreibt sie so: "She was dark, smallish, and very good-looking except for overprotuberant eyes; but something in her expression alienated extremely sensitive people". Derby aber fühlt sich auch körperlich zu Asenath hingezogen. Diese sinnliche Dimension ist deshalb von Bedeutung, weil Sexualität in Lovecrafts Erzählungen stets und immer ein Zeichen von Degeneration ist. Wichtiger ist jedoch, dass die "natürlichen Instinkte" des Arkhamer Décadents offenbar in ihr Gegenteil verkehrt worden sind. Er fühlt sich von dem angezogen, was ihn eigentlich abstoßen müsste. Verweisen Asenaths Augen mehr als deutlich auf ihre nichtmenschlichen Vorfahren, so erweckt ihre übrige Erscheinung doch zumindest den Eindruck des exotischen, fremdländischen, nicht-angelsächsischen. Und diese Person erklärt Derby zu seiner Göttin. Denn er verliebt sich nicht einfach in sie. Er unterwirft sich vollständig ihrem Willen. Upton erklärt dies mit der andauernden Unselbstständigkeit seines Freundes: "The perennial child had transferred his dependence from the parental image to a new and stronger image, and nothing could be done about it." Fassen wir Derby als den exemplarischen Vertreter der alten Elite, so bedeutet das aber auch, dass eine schwach gewordene Aristokratie von einem an sich minderwertigen, aber willensstarken, zielstrebigen und machthungrigen Gegner überwältigt zu werden droht. Wir haben es mit einem beinah nietzscheschen Gedankengang zu tun: Décadence bedeutet Schwächung des Willens zum Leben, also Schwächung des Willens zur Macht. Und dann kommen die Innsmouth-Kreaturen aus ihren Löchern gekrochen und greifen nach der Herrschaft.



Dass der arme Derby es in Wirklichkeit überhaupt nicht mit Asenath, sondern mit dem alten Ephraim zu tun hat, dessen Geist vom Körper seiner Tochter Besitz ergriffen hat, ist dabei gar nicht so wichtig. Entscheidend ist vielmehr, dass schon bald ein verzweifeltes Ringen um Selbstbehauptung einsetzt. Denn was Derby droht ist nicht so sehr der Tod, als vielmehr die Zerstörung seiner Persönlichkeit. Asenath-Ephraim macht sich daran, ihn aus seinem Körper zu verdrängen. Zu Anfang findet dieser "Seelentausch" – eine perverse Karrikatur des alten Liebesmotivs der getauschten Herzen – noch freiwillig statt, doch schließlich beginnt Derby, sich zu wehren. Er versucht, zu "gaining his identity", wie er selbst es nennt. Doch wie sollte der charakterschwache Décadent diesen Kampf gewinnen können? Wohin ihn der Weg führen wird, von dem es nun kein Zurück mehr gibt, erfährt er, als er eines nachts unbeabsichtigterweise in seinen eigenen Körper zurückversetzt wird, während dieser sich gerade in einem geheimen Tempel in den Wäldern von Maine befindet. Dem Wahnsinn nahe berichtet er seinem Freund Upton:

Dan, for God's sake! The pit of the shoggoths! Down the six thousand steps... the abomination of abominations... I never would let her take me, and then I found myself there - Ia! Shub-Niggurath! - The shape rose up from the altar, and there were five hundred that howled - The Hooded Thing bleated 'Kamog! Kamog!' - that was old Ephraim's secret name in the coven - I was there, where she promised she wouldn't take me - A minute before I was locked in the library, and then I was there where she had gone with my body - in the place of utter blasphemy, the unholy pit where the black realm begins and the watcher guards the gate - I saw a shoggoth - it changed shape - I can't stand it

Über die Shoggothen und ihre Bedeutung in Lovecrafts Mythologie gäbe es noch einiges zu sagen. Doch muss dies auf ein andermal verschoben werden, da es mit dem Thema Décadence nichts zu tun hat. Im Moment mag es genügen, wenn wir in ihnen die Verkörperung der tiefsten Ängste Lovecrafts sehen – die grausigsten Vertreter der animalischen Urkräfte, denen der von der Décadence untergrabene Willen nichts mehr entgegenzusetzen vermag.
 


à à Wer noch ein wenig länger in den Gefilden der Décadence verweilen will, der gieße sich ein Gläschen Absinth ein, mache es sich im Lehnstuhl bequem und lausche Jim Moons taufrischer Hypnobobs - Episode Leg of Toad & Eye of Gorgon.  In der Bibliothek der Träume wird eine nachträgliche Geburtstagsfeier für den "Imperator der Träume" Clark Ashton Smith zelebriert. ß ß




(1) Siehe meinen alten Blogeintrag Rausch der Poesie.
(2) Brief an H.P. Lovecraft [c. 24.Oktober 1930]. In: Selected Letters of Clark Ashton Smith. S. 126.
(3) H. P. Lovecraft: Selected Letters. Bd. V. S. 397/398. Zit.. nach: S.T. Joshi: H. P. Lovecraft.
(4) H. P. Lovecraft: Selected Letters. Bd. I. S. 110. Zit. nach: S.T. Joshi: H. P. Lovecraft.
(6) Ligotti schreibt: "As usual with bibliographic impostors of this type, the actual substance of The People of the Monolith is, as they say, left to the reader's imagination, which in this case (and possibly all others) is a completely false conception, since the whole allure of these works is that they are quite impossible to imagine in a conventional sense. One does not mentally compose a single imaginary phrase that might belong to this slim or massive text" Unglücklicherweise beginnt Howards Geschichte The Black Stone ausgerechnet mit einem "Zitat" aus The People of the Monolith. Dort erfahren wir auch näheres über Geoffreys Besuch in dem ominösen ungarischen Dorf.
(7) Brief an Maurice W. Moe [18.9.1932] / Brief an James F. Morton [21.9.1932]. In: H. P. Lovecraft: Selected Letters. Bd. IV. S. 66/68. Zit. nach: Words of Praise for "The Book of Jade".

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