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Samstag, 22. Dezember 2012

"Weil man sonst kein Mensch ist"

Wenn ich aus dem Fenster des Zimmers schaue, in dem ich mich gerade befinde, so fällt mein Blick meist auf die beiden weißen Pferde, die auf dem Nachbargrundstück herumstehen. Um ehrlich zu sein, handelt es sich bei ihnen um etwas traurig anmutende Kreaturen. Der eine war einst ein stolzer (und verflucht teurer) Edelhengst aus irgendeinem berühmten, zentralasiatischen Gestüt, doch schon seit einer halben Ewigkeit hat die zwei niemand mehr ausgeritten, und so verbringen sie ihre Tage damit, herumzustehen, sich im Sommer aufdringlicher Fliegenschwärme zu erwehren und beinahe unablässig Gras zu rupfen. Vielleicht täusche ich mich ja, und einem in die Jahre gekommenen Ross erscheint solch ein Dasein paradiesisch, auf mich jedenfalls wirkt es reichlich öde.
Obwohl die beiden also einen eher melancholischen Eindruck machen, erinnern sich mich doch zugleich jedesmal an Astrid Lindgrens Die Brüder Löwenherz. Warum kann ich mir nicht recht erklären, sind Grim und Fjalar im Buch doch keine Schimmel, und auch in Olle Hellboms Verfilmung ist nur Jonathans Pferd weiß. Das Gehirn funktioniert eben manchmal auf etwas wunderliche Weise.

Nun, wie dem auch sei, jedenfalls haben mich die nachbarlichen Zossen schließlich dazu gebracht, nach langer Zeit einmal wieder Lindgrens berühmtes Werk hervorzuholen. Es gehört zu einer Handvoll Büchern, die in mir als Kind die Liebe zum Phantastischen weckten. {Auch wenn die Grundlage dazu sicher bereits durch Märchen und kindgerechte Nacherzählungen germanischer Heldensagen gelegt worden war}. Auf manche von ihnen hat sich mein Blick über die Jahre & Jahrzehnte hin stark gewandelt, wie wohl nicht anders zu erwarten war. So habe ich inzwischen eine eher ablehnende Haltung zu Michael Endes Unendlicher Geschichte, und jede erneute Beschäftigung mit Tolkiens Herr der Ringe macht mein Bild von ihm komplexer {und wohl auch widersprüchlicher}. Mit Lindgrens Brüder Löwenherz und Ronja Räubertochter verhält es sich anders. Als Erwachsener habe ich sie Jahrzehnte lang nicht noch einmal gelesen, und so blieben sie stets umgeben vom warmen, nostalgischen Schein alter Kindheitserinnerungen. Erst in diesem, nun zu Ende gehenden Jahr habe ich sie endlich einmal wieder zur Hand genommen.
Das erste und vielleicht wichtigste Ergebnis dieser neuerlichen Begegnung war, dass meine alte Liebe zu ihnen in keiner Weise darunter gelitten hat. Der Unterschied zwischen den beiden besteht allerdings darin, dass ich im Falle Ronjas hauptäschlich meine alten Eindrücke bestätigt gefunden habe {auch wenn ich zu ihrer Beschreibung heute natürlich "erwachsenere" Begriffe benutzen würde}, während sich mir bei der Lektüre der Brüder Löwenherz eine Reihe von Dimensionen eröffneten, die ich als kindlicher Leser überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Meine Bewunderung für das Buch und vor allem für Astrid Lindgren als einer Autorin, die es auf brillante Weise verstand, gewichtige Themen in einer kindgerechten Erzählung mit großer Ernsthaftigkeit und erstaunlicher Differenziertheit zu behandeln, ist dadurch noch einmal immens gewachsen.

Eines der zentralen Themen des Buches ist bekanntlich der Tod. Lindgren selbst hat darüber einmal erzählt:
Die Brüder Löwenherz sind auf verschiedene Weise entstanden. Erstens bin ich immer viel auf Friedhöfen herumgewandert. Und auf dem Friedhof von Vimmerby las ich einmal die Inschrift auf einem Grabstein: "Hier ruhen die Brüder Fahlén, gestorben im zarten Alter 1860 ..." Da wusste ich plötzlich, dass mein nächstes Buch vom Tod und von diesen beiden kleinen Brüdern handeln sollte. Und dann fing ich an, darüber nachzudenken, was nun mit diesen Brüdern war, die dort lagen, was sie in ihrem Leben erlebt hatten. Aber das war erst der Anfang ...
Die Geschichte beginnt damit, dass Jonathan Löwe seinem kleinen, todkranken Bruder Karl  – genannt "Krümel" ("Skorpan") – von dem wunderbaren Reich Nangijala erzählt, in das die Menschen nach ihrem Tod kommen, um ihm damit die Angst vor dem Sterben zu nehmen. Allerdings ist es Joanthan selbst, der zuerst stirbt, als er "Krümel" aus dem brennenden Mietshaus rettet, in dem die beiden zusammen mit ihrer Mutter leben. Wenig später erliegt Karl seiner Krankheit. In Nangijala finden sich die beiden als Brüder Löwenherz wiedervereinigt, und dort spielt auch die eigentliche Handlung. An ihrem Ende bittet der schwerverletzte, durch Drachenfeuer zu völliger Lähmung verdammte Jonathan seinen Bruder, nun seinerseits ihm beim Sterben zu helfen. Der gemeinsame Freitod der beiden bildet den Schluss des Buches.

Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens 1973 lösten Die Brüder Löwenherz heftige Kontroversen in Schweden aus, nicht nur wegen der positiven Darstellung eines Selbstmords, sondern auch, weil viele Kritiker der Meinung waren, dass solche Themen für ein Kinderbuch nicht angemessen seien.
Vor allem Letzteres ist natürlich Unsinn. Gute Kinderliteratur sollte nicht vor der Beschäftigung mit den schwierigeren und leidvollen Erfahrungen des menschlichen Lebens zurückschrecken. Es kommt ausschließlich darauf an, wie dies geschieht, und Astrid Lindgren verstand es, über solche Themen in einer einfühlsamen, zugänglichen und ihre kindlichen Leser & Leserinnen ernst nehmenden Weise zu schreiben. Als Atheist, der nicht an eine Weiterexistenz nach dem Tode glaubt, erscheint mir ihre Antwort auf die Frage des Sterbens freilich zu einfach. Und hierin vor allem besteht für mich auch die Problematik der Freitodszene. Statt sich mit der grausamen Realität des Verlustes eines geliebten Menschen auseinandersetzen zu müssen, eröffnet sich Karl durch den gemeinsamen Sprung von der Klippe die Möglichkeit, mit seinem Bruder vereint zu bleiben. In der Wirklichkeit haben wir diese Chance nicht.

Andererseits glaube ich, dass gerade diese Szene sehr deutlich zeigt, dass der Tod ein zwar bedeutendes, aber keineswegs das wichtigste Thema der Brüder Löwenherz ist. Wenn der gemeinsame Selbstmord auch keine adäquate Antwort auf das Problem von Tod und Verlust darstellt, so ist er doch der ultimative Beweis der Liebe zwischen den beiden Brüdern. Und diese unverbrüchliche Bruderliebe steht denke ich in Wirklichkeit im Zentrums der Erzählung.
Zu Beginn verhält sich der ältere Jonathan wie eine Art Ersatzvater, der den kleinen "Krümel" vor allem Übel und allem Leid zu behüten versucht. Doch im Laufe der Erzählung lernt er, ihn als eine gleichberechtigte Persönlichkeit zu respektieren.  Als Jonathan in das von dem finsteren Tengil beherrschte Heckenrosental aufbricht, lässt er Karl im Kirschtal zurück, weil er ihn dort sicher weiß. Später jedoch ist er ohne Protest bereit, ihn nach Karmanjaka – das Land des Tyrannen – mitzunehmen. Karl will ihn auf diese gefährliche Reise begleiten und er respektiert diese Entscheidung:
"Nicht ohne mich", rief ich. "Noch einmal darfst du mich nicht allein lassen! Wo du hingehst, da gehe ich auch hin."
Er sah mich lange an, und dann lächelte er.
"Ja, wenn du wirklich willst, dann will ich es auch", sagte er. (S. 137)
Jemanden zu lieben, bedeutet eben nicht, ihn auf Dauer von allem Unangenehmen abzuschirmen.
Wie an dem Zitat zu sehen, ist es "Krümel", der die Geschichte erzählt. Das sollte man sich immer dann ins Bewusstsein zurückrufen, wenn einem Jonathan als eine gar zu makellose Heldenfigur erscheint. Wir sehen ihn durch die liebenden und bewundernden Augen eines Kindes. Es ist darum nur zu verständlich, dass jede seiner Entscheidungen und Handlungen als hundertprozentig richtig beschrieben wird. Dabei zeigt gerade die Wandlung im Verhalten Jonathans gegenüber Karl, dass auch der ältere Bruder dazulernt und eine Entwicklung durchmacht. Als Leser & Leserinnen können wir es uns deshalb durchaus erlauben, eine etwas kritischere Haltung gegenüber ihm einzunehmen als dies dem Erzähler möglich ist.  Wir werden darauf noch zurückkommen.

Neben Tod und Bruderliebe bilden Märchen & Abenteuer das dritte Hauptthema der Erzählung.
Einerseits sind Die Brüder Löwenherz selbst ein Märchen, auch wenn der Bezug zu den Konventionen des Genres nicht ganz so deutlich ausfällt wie etwa in Mio, mein Mio. Zur Beurteilung der Erzählung ist dies dennoch sehr wichtig. So mag es auf den ersten Blick billig und unrealistisch erscheinen, wenn die Brüder entgegen aller Wahrscheinlichkeit den geheimen Zugang zur Katlahöhle mit Hilfe eines Fuchses entdecken. Im Rahmen eines Märchens aber ist diese Wendung völlig in Ordnung, worauf Karl in gewisser Weise auch hindeutet, wenn er erzählt:
Vielleicht war alles schon vorherbestimmt, seit der Urzeit der Märchen und Sagen? Vielleicht wurde Jonathan schon damals um des Heckenrosentals willen zu Orwars Retter bestimmt? Vielleicht gab es unsichtbareMärchenwesen, die, ohne dass wir es ahnten, unsere Schritte lenkten? Wie sonst hätte Jonathan gerade dort, wo wir unsere Pferde abgestellt hatten, einen Zugang zur Katlahöhle finden können? Es war rätselhaft, genauso rätselhaft, wie es gewesen war, dass ich bei all den vielen Häusern im Heckenrosental gerade auf dem Matthishof gelandet war und nicht woanders.(S. 179f.)
Zugleich aber sind Die Brüder Löwenherz eine Geschichte über Märchen. Als Jonathan seinem Bruder zum ersten Mal von Nangijala erzählt, beschreibt er es als ein Land, in dem "noch die Zeit der Lagerfeuer und der Sagen" sei, von dort "stammten alle Märchen und Sagen, [...] denn gerade dort passiere ja all so was. Wenn man dort hinkomme, erlebe man von früh bis spät und sogar nachts Abenteuer" (S. 7).  Was könnte sich ein Kind Großartigeres wünschen? Und erst recht ein Kind, das ans Bett gefesselt ist, wie der kranke Karl? In Nangijala angekommen zeigt sich allerdings sehr schnell, dass Abenteuer nicht nur aus Schwimmen, Reiten und Lagefeuer machen bestehen. Jedes Märchen setzt die Existenz von Gewalt, Schmerz, Tod und Verlust voraus. Und es bedeutet ganz etwas anderes, ob man eine solche Geschichte selbst erlebt oder sie erzählt bekommt. Kein Wunder, dass "Krümel" am Ende des Buches die Aussicht, dass im nächsten Jenseitsreich Nangilima gleichfalls die "Zeit der Lagerfeuer und Sagen" herrschen soll, alles andere als erfreulich findet. Jonathan versichert ihm jedoch sofort, dort seien "böse und grausame Sagen" keine Wirklichkeit mehr, sondern lebten nur in den Erzählungen fort.
Indem wir Karls Erfahrungen unmittelbar teilen und auf diese Weise sehr eindringlich vor Augen geführt bekommen, was es bedeuten würde, Teil eines Märchens zu sein, eröffnet sich uns ein neuer Zugang zu dieser Art Erzählungen. Nicht, dass Astrid Lindgren dem Märchen damit seinen magischen Reiz nehmen wollte. Sei zeigt uns vielmehr, dass es dabei um sehr viel mehr geht als bloß um farbenfrohe und spannende Geschichten. Es geht um die ganze Bandbreite der menschlichen Erfahrung, und dazu gehören eben auch Schmerz, Gewalt und Tod. Gleichzeitig weist sie auf das Zwiespältige der Sehnsucht nach dem Abenteuer hin.

Und damit kommen wir zum vierten großen Thema der Brüder Löwenherz: Revolution.
Keine Angst, ich werde jetzt nicht versuchen, aus einem vielgeliebten Kinderbuch ein kommunistisches Pamphlet zu machen. Das ist Astrid Lindgrens Erzählung nicht, und in meinen Augen ist das auch verdammt gut so.
Eher zufällig habe ich ungefähr zur selben Zeit wie die Brüder Löwenherz auch einmal wieder Geoffrey Treases Die Verschwörung gegen den Hunger (Comrades for the Charter) aus dem Jahre 1934 gelesen – gleichfalls ein Kinderbuch, das sich mit dem Thema Revolution beschäftigt. Doch welch himmelweiter Unterschied besteht zwischen diesen beiden Werken! Nun ist Treases Erzählung nicht phantastisch, sondern historisch-realistisch  – sie spielt vor dem Hintergrund der englischen Chartisten-Bewegung der 1840er Jahre*  –, und deshalb mag ein Vergleich nicht ganz fair erscheinen.  Aber so sehr ich es auch begrüße, wenn ein Autor versucht, seiner kindlichen Leserschaft historisches Wissen zu vermitteln, dieses Buch schmeckt mir einfach zu sehr nach Agitprop – und Agitprop kann ich nur dann leiden, wenn er sich entweder mit dem Grotesken verbindet, wie in Wladimir Majakowskis Mysterium Buffo, oder wenn er so harsch und ehrlich daherkommt, wie in einigen von Ernst Busch gesungenen Liedern.
Von so etwas sind Die Brüder Löwenherz dankenswerterweise meilenweit entfernt. Und doch – die eigentliche Geschichte dreht sich um einen revolutionären Kampf, und ich denke, es ist kein Zufall, dass das Buch Anfang der 70er Jahre geschrieben wurde, zu einer Zeit also, als weltweit revolutionäre Kämpfe tobten. Und Astrid Lindgren, die seit den 30er Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Schwedens war, stand schon immer auf der Linken.
Wie auch immer die bewussten Intentionen der Autorin ausgesehen haben mögen, auf jedenfall behandelt sie das Thema Revolution auf bewundernswert differenzierte Weise.
Nangijala besteht aus zwei Tälern. Im Kirschtal herrschen Friede und Gemeinschaftsgeist: "[H]ier [...] ist alles umsonst. Wir geben und helfen einander, wann und wo es nötig ist" (S. 38). Das Heckenrosental aber ist von dem Tyrannen Tengil und seinen Gefolgsleuten erobert worden, die seine Bewohner versklavt haben. Den Kampf gegen ihn führen Sophia und Orvar. Jonathan hat sich ihnen angeschlossen. Als er auszieht, um den in der Katlahöhle gefangen gesetzten Orvar zu befreien, kann Karl zuerst nicht verstehen, warum sein Bruder sich ins Lebensgefahr begibt, um einen Mann zu retten, den er noch nie gesehen hat:
Ich fragte Jonathan, warum er sich in eine solche Gefahr begeben müsse. Ebenso gut könnte er doch zu Hause am Feuer sitzen und es sich gut gehen lassen. Aber da antwortete mir Jonathan, es gebe Dinge, die man tun müsse, selbst wenn es gefährlich sei.
"Aber warum bloß?", fragte ich.
"Weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck", erwiederte er. (S. 59)
Es gibt Situationen, in denen man Stellung beziehen und sich engagieren muss, wenn man seine eigene Menschenwürde behalten will. Im Laufe der Erzählung lernt auch Karl, dies zu verstehen. Die Geschichte läuft jedoch nicht auf eine simple, romantische Verherrlichung des Freiheitskampfes hinaus. Astrid Lindgren lässt keinen Zweifel daran, dass auch der Kampf der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker hart und grausam ist. Als "Krümel" seinen Bruder fragt, ob es stets "böse Sagen" wie die von Tengil geben müsse, antwortet dieser:
"Nein, [...] wenn der Kampf einmal vorüber ist, wird Nangijala wohl wieder ein Land, wo Sagen und Märchen schön sind und das Leben leicht und einfach ist wie früher. [...] Aber dieser letzte Kampf, Krümel, kann nur ein böses Märchen sein, eine Sage vom Tod und nichts als dem Tod. Und deshalb muss Orwar diesen Kampf leiten, nicht ich. Denn ich tauge nicht dazu, einen Menschen zu töten." (S. 166)
Orvar erscheint als ein harter, leidenschaftlicher Mann, dessen ganzer Wille auf den kommenden Aufstand ausgerichtet ist, und der keinerlei Bedenken hat, im Namen der Freiheit Menschenleben zu opfern. Karls Haltung wirkt nicht ohne Grund  stets etwas distanziert, wenn er von ihm erzählt. Was  jedoch nicht bedeuten soll, dass Orvar der altbekannten Karrikatur des 'fanatischen Revolutionärs' entsprechen würde, hinter dessen Freiheitspathos sich bereits der kommende neue Diktator ankündigt. Er besitzt ganz einfach all die Eigenschaften, die man braucht, um der Führer eines bewaffneten Aufstands zu sein. Und Lindgren lässt keinen Zweifel daran, dass zum Sturz einer Despotie Gewalt notwendig und legitim ist.  Die Verantwortung für das Blutvergießen liegt eindeutig auf Seiten der Unterdrücker, was die folgende Szene auf eindrucksvolle und beinahe unheimliche Weise deutlich macht:
Wir kamen an einem von Apfelbäumen umgebenen Häuschen vorbei, und Matthias sagte:
"Da wohnt der, den sie vorhin erschlagen haben."
Auf der Türschwelle saß eine Frau. Ich erkannte sie vom Marktplatz her wieder, ihr Schreien, als Tengil auf ihren Mann wies, klang mir noch in den Ohren. Jetzt hatte sie eine Schere in der Hand und war dabei, ihr langes blondes Haar abzuschneiden.
"Was tust du, Antonia?", fragte Matthias. "Was machst du mit deinem Haar?"
"Bogensehnen", sagte Antonia.
Mehr sagte sie nicht. Doch nie werde ich den Ausdruck ihrer Augen vergessen, als sie dies sagte." (S. 134)
Doch damit ist die Problematik der revolutionären Gewalt nicht gelöst. Sie bleibt Gewalt. Wir wissen, das Tengils Soldaten keine 'abscheulichen Orks' und keine gesichtslosen 'Stormtroopers' sind, sondern Menschen. Kader, Veder und Dodik sind sicher keine besonders sympathischen Zeitgenossen, aber sie sind dennoch Menschen.
Jonathans Weigerung, mit der Waffe in der Hand am Aufstand teilzunehmen, wirkt darum erst einmal verständlich und fast bewundernswert. Dennoch ist Orvars Argument nicht so leicht von der Hand zu weisen: "Wenn alle wären wie du, dann würde das Böse ja bis in alle Ewigkeit herrschen!" (S. 213). Und hatte Jonathan nicht selber gesagt: "Eines Tages schlägt auch für Tengil die Stunde." Und als "Krümel" ihn gefragt hatte, was genau er damit meine, hatte da er nicht geantwortet: "Dass es ihm genauso geht, wie es allen Tyrannen früher oder später ergeht [...] Dass er wie eine Laus zerquetscht wird und für immer verschwindet." (S. 57)
Und tatsächlich ist am Ende er es, der Tengils Tod herbeiführt, indem er ihm die Kriegslure entwindet und die fürchterliche Katla seinem eigenen Willen unterwirft. Nach allem, was wir über das Verhältnis des Drachenweibchens zu der Lure und ihrem Träger wissen, muss Jonathan ihr eigentlich befohlen haben, den Tyrannen zu töten, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt wird. Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass Katlas Hass auf ihren ehemaligen Herrn so groß ist, dass sie sich – kaum von ihm befreit – sofort auf ihn stürzt, unabhängig von den Befehlen ihres neuen Meisters. Doch auch dann bliebe zumindest die Tatsache bestehen, dass Jonathan nichts versucht, um dies zu verhindern. So oder so – er trägt die Verantwortung für den Tod des Despoten.
Ziel dieser Schilderung ist es sicher nicht, Jonathans Ideal der Gewaltlosigkeit als verlogen darzustellen. Vielmehr wird uns damit deutlich gemacht, dass es für moralische Konflikte wie diesen keine einfachen Lösungen gibt.
Angesichts dieser differenzierten Auseinandersetzung mit dem Problem der revolutionären Gewalt fühlte ich mich bei meiner erneuten Lektüre von  Die Brüder Löwenherz mehr als einmal an die Zeilen aus Bert Brechts Gedicht An die Nachgeborenen erinnert:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir,
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit,
Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es so weit sein wird,
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist,
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.
**
Zum Abschluss noch ein paar Worte über die Verfilmung aus dem Jahre 1977.


Astrid Lindgren hatte das große Glück, an vielen der frühen – und heute klassischen – Filmadaptionen ihrer Werke unmittelbar mitwirken zu können und dabei auf einen kongenialen, und ihr bald schon in tiefer Freundschaft verbundenen Regisseur zu treffen: Olle Hellbom. Produkt ihrer berühmteste Zusammenarbeit sind sicher die Pippi Langstrumpf - Filme mit Inger Nilsson, doch daneben zeichnete Hellbom u.a. für Ferien auf Saltkrokan, eine Reihe von Episoden von Michel aus Lönneberga und eben Die Brüder Löwenherz verantwortlich. Ursprünglich sollte er auch bei Ronja Räubertochter die Regie führen, doch erlag er anderthalb Jahre vor Drehbeginn einem Krebsleiden, woraufhin Tage Danielsson die Aufgabe übernahm.
Ich weiß nicht so recht, was ich über Hellboms Brüder Löwenherz anderes sagen soll, als dass es sich um eine Adaption des Buches handelt, die diesem voll und ganz gerecht wird, ohne dabei zu vergessen, dass der Film eigene Stilmittel besitzt, um eine Geschichte zu erzählen. Keine bloß buchstabengetreue Umsetzung also, sondern eine sehr gelungene cineastische Anverwandlung des Stoffes. An einigen Stellen (Katla; die Schlacht) spürt man zwar die durch das Budget gesetzten Grenzen, doch davon einmal abgesehen, handelt es sich meiner Meinung nach um einen der wirklich großen phantastischen Kinderfilme, und wer ihn noch nicht gesehen hat, sollte dies schleunigst nachholen.*** Für seine überragende Qualität verantwortlich sind neben dem Regisseur Hellbom und der Drehbuchautorin Lindgren vor allem der Chefkameramann Rune Ericson, der denselben Job auch in Danielssons Ronja übernehmen sollte, sowie ein Team ausgezeichneter Schauspieler & Schauspielerinnen. Neben Lars Söderdahl als Karl und Staffan Götestam als Jonathan seien genannt: der Theaterexzentriker Allan Edwall als Matthias; die zu ihrer Zeit sehr berühmte Bühnendarstellerin Gunn Wållgren als Sophia (sie sollte 1982 die Großmutter in Ingmar Bergmans Fanny und Alexander spielen); sowie der v.a. durch seine Titelrolle in der Knut Hamsun - Adaption Hunger (1966) bekannte Per Oscarsson als Orvar (er sollte 1984 als Borka in das Lindgren-Universum zurückkehren). 

 

* Allen Fantasyfreunden & -freundinnen, die nicht wissen, wer die Chartisten waren, empfehle ich wärmstens Freedom and Necessity von Emma Bull & Steven Brust. Und dem Rest auch.
** Bertolt Brecht: Werke. Bd. 12: Gedichte 2. S. 87.
*** Auf Youtube findet sich das schwedische Original mit englischen Untertiteln.

4 Kommentare:

  1. »Und Astrid Lindgren, die seit den 30er Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Schwedens war, stand schon immer auf der Linken.«

    Na ja, zumindest bis zu ihrem »Anti-Steuer-Märchen«, mit dem sie zur Abwahl ihrer eigenen Partei aufrief, und das noch heute kindliche Begeisterung auslöst in jenen Kreisen, in denen man sich von den »Versuchungen des Wohlfahrtsstaates« bedroht sieht.

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    1. Es wäre vielleicht wirklich klüger gewesen, wenn ich den Satz über Lindgrens Parteizugehörigkeit weggelassen hätte, zumal ihre politischen Sympathien für die Beurteilung des Buches in meinen Augen eher unwichtig sind.
      Was das "Steuer-Märchen" und ihren Austritt aus der Sozialdemokratie betrifft, halte ich es allerdings für etwas zu simpel, wollte man darin eine Art Übertritt zur neoliberalen Rechten sehen. Dass sie deren Vertretern damit eine Steilvorlage geliefert hat, steht außer Frage, aber wenn Lindgren das Gefühl hatte, dass die jahrzehntelange faktische Alleinherrschaft der Sozialdemokraten auch ihre negativen Seiten besaß, war das ja nicht völlig falsch. Insgesamt habe ich aber ohnehin das Gefühl, dass sie eine eher unpolitische Person war und ihre lange Parteizugehörigkeit mehr Ausdruck ihres Humanismus als einer durchdachten politischen Weltanschauung war.

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    2. Ich will mich auch nicht zum Verteidiger der Sozialdemokratie aufschwingen. ;)

      Guten Rutsch!

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    3. Wollte ich Dir auch überhaupt nicht unterstellen. :) Online-Kommunikation ist oft so missverständlich ...

      Auch Dir alles Gute fürs neue Jahr!

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