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Donnerstag, 7. Juni 2012

"Die Mühle! Nun mahlt sie wieder!"

Es kommt nicht häufig vor, dass man die Rezension eines deutschen Buches in englischer Übersetzung zu lesen bekommt, schon gar nicht im phantastischen Genre. Und so hat Erin Horákovás Besprechung von Otfried Preußlers Krabat auf Strange Horizons ein ganz eigentümliches Gefühl bei mir hinterlassen. Ein Bisschen so wie der Bericht von Amanda White, einer Studentin und angehenden Schriftstellerin aus Nashville/Tennessee, über ihre Reise auf der Deutschen Märchenstraße, deren erster Teil in Nr. 15 von Scheherezade’s Bequest, dem Online-Magazin von Cabinet des Fées, erschienen ist.* Auf einmal befindet man sich selbst in der Rolle des ‘Exoten’ und bekommt einen Eindruck davon, wie anders – um nicht zu sagen verzerrt – der Blick des ‘Fremden’ oft ist. Ich wohne derzeit im Herzen des Odenwaldes, aber ich käme nie auf die Idee, so über Deutschland zu schreiben: "Germany is the home to rolling hills, winding rivers, and forests so densely wooded they’ve been termed black – in all, the perfect setting for fairy tales to be woven into folklore." Das ist beinahe so etwas wie innerwestlicher Exotismus, was ich in diesem Fall allerdings eher charmant finde. Um ehrlich zu sein, enthält Horákovás Artikel nichts wirklich vergleichbares, die Ähnlichkeit besteht lediglich im ‘Blick von außen’. Wie dem auch sei, auf jedenfall hat ihre Rezension mich dazu animiert, ein paar meiner eigenen Gedanken über die Geschichte vom Waisenjungen, der auf der Mühle im Koselbruch zum Schüler der Schwarzen Kunst wird, auszuformulieren.

Horáková schreibt: "The book is a beloved classic in its homeland, but didn't fare so well in translation." Eine mögliche Erklärung dafür sieht sie in der engen Verbindung der Erzählung zu einem spezifischen geographischen und kulturellen Raum, der dem englischsprachigen Publikum weitgehend unbekannt sein dürfte. Ich wäre mir da nicht so sicher. Eine der großen Stärken von Krabat besteht zweifelsohne in der klaren Verortung in der Landschaft und Folklore der Oberlausitz. Aber ob ein deutscher Leser in dieser Hinsicht wirklich über ein größeres Hintergrundwissen verfügt? Er mag gehört haben, dass die Handlung auf einer alten Volkssage vom Ende des 18. Jahrhunderts basiert, aber wenn er nicht bereits zuvor ein Interesse an sorbischer Folklore besessen hat, wird er diese selbst kaum kennen. Die Tradition der Sternensinger ist ihm vielleicht nicht fremd, aber weiß er, dass die Hahnenfeder ein altes Attribut des Teufels ist, kennt er sorbische Osterbräuche oder ist ihm die wendische Sagengestalt des Pumphutt vertraut? Auch auf ihn wird hier vieles fremdartig wirken, zumal Krabat genaugenommen ja gar keine ‘deutsche’, sondern eine sorbische Erzählung ist.
In der englischen Übersetzung, die Erin Horáková vorgelegen hat, scheint man sich bemüht zu haben, diese Fremdartigkeit abzumildern, indem etwa der Name Pumphutt als ‘Big Hat’, der sorbische Begriff Kantorka als ‘The Singer’ wiedergeben wurde. Keine sehr glückliche Entscheidung, wie ich denke. Ob etwa auch der Koselbruch ins Englische übersetzt wurde? Schließlich ließe sich der Name des Ortes als 'sorb. Kosel = Zauber' + 'Bruch = Auwald' aufschlüsseln. Was Sekundärwelt-Fantasy angeht gehöre ich zu den Befürwortern der Übersetzung von Eigennamen, doch bei einer phantastischen Geschichte, die in einem klar erkennbaren Sprach- und Kulturraum angesiedelt ist, finde ich diese Herangehensweise ausgesprochen ungeschickt. Auf diese Weise wird automatisch ein Teil des Zaubers zerstört, der eine solche Erzählung umgibt.


Es fällt mir nicht leicht, die besondere Faszination, die für mich von Krabat ausgeht, richtig zu fassen und zu beschreiben. Aber ein Teil davon hat ganz sicher damit zu tun, dass Preußlers Buch den echten Geist alter Märchen und Volkssagen atmet. In den Szenen auf dem Viehmarkt kommt außerdem noch ein wenig Schwankerzählung in der Tradition von Der Pfaffe Amis, Dyl Ulenspiegel und dem Rollenwagenbüchlein hinzu. Auch ohne großes Hintergrundwissen spürt man einfach, dass die Geschichte einer authentischen Kultur und Tradition entwachsen ist, etwas, was auch das geschicktetste Worldbuilding eines modernen Fantasyautors nicht wirklich nachzuahmen vermag. Neben die geographische und kulturelle tritt als drittes die historische Verwurzelung. Zum einen hat sich Preußler eingehend mit dem Leben und Arbeiten auf einer Mühle des 17. Jahrhunderts beschäftigt, mit den Arbeitsabläufen, dem Jahresrhytmus, den Regeln und Gepflogenheiten der Müllerszunft, was seinen Schilderungen ein hohes Maß an Authentizität verleiht. Zum anderen ist der geschichtliche Kontext, in dem die Geschichte spielt, nicht bloßer Hintergrund, sondern prägt ganz entscheidend Figuren und Handlung, auch wenn dies an keiner Stille explizit ausgeführt wird. 
In diesem Punkt ist Erin Horáková ein merkwürdiger Fehler unterlaufen. Sie beginnt ihren Artikel wie folgt: "In the late 17th century, after the end of the world, a fourteen year old orphan boy named Krabat walks from town to town begging with a troupe of friends. Krabat isn't bitter about his lot. The conflict that will eventually be called the Thirty Years War (though it pushed at either side of that perimeter) has been going on for over a generation. This is the only life he can conceive of. What is there to be bitter about?" Dabei bildet der Dreißigjährige Krieg ganz eindeutig nicht den Hintergrund der Erzählung, sondern vielmehr der Nordische Krieg. Der Meister seinerseits hat im Großen Türkenkrieg gekämpft. Ich halte das für ein nicht unwichtiges ‘Detail’. Die Welt, in der Krabat lebt, ist geprägt von Krieg, Armut und Unterdrückung, aber sie ist nicht jene Höllenlandschaft, in der sich Simplicius Simplicissimus oder Mutter Courage bewegen.

Auch wenn Krabat der Hauch des echten Alten umgibt, ist die Erzählung andererseits wieder sehr modern. So haben die Figuren absolut nichts schablonenhaftes. Keine von ihnen ist ein bloßer Archetyp, sie alle sind lebendige, indidviduell gezeichnete Persönlichkeiten. Das gilt nicht nur für die Lehrlinge, sondern auch für den Meister, der keineswegs bloß dämonische, sondern auch sehr menschliche Züge trägt. Wenn er sich mitunter sinnlos betrinkt, die Lehrlinge ob ihrer Jugend beneidet oder davon erzählt, wie er im Krieg gezwungen war, seinen besten Freund zu töten, wird der einäugige Hexenmeister fast zu einer tragischen Gestalt. Und obwohl wir nie ihren Namen erfahren, ist auch die Kantorka keine bloße Verkörperung ‘weiblicher Reinheit’, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein mutiges, willensstarkes und kluges Mädchen.

Hinzu kommt, dass es Otfried Preußler gelungen ist, eine Volkssage aus dem 18. Jahrhundert in einer Weise neu zu erzählen, die eine Verbindung zu Themen des 20. Jahrhunderts eröffnet. Und dass nicht etwa, indem er den Stoff zu einer Allegorie auf Ereignisse der Gegenwart umgeformt hätte. Die Beziehungen sind sehr viel subtiler und zerstören oder verzerren nicht die alte Geschichte.
Der Autor selbst hat einmal geschrieben: "Mein Krabat ist [...] die Geschichte meiner Generation, und es ist die Geschichte aller jungen Leute,die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken." Preußler gehörte zu jenen deutschen Künstlern, die geprägt wurden durch ihre Erfahrungen im Dritten Reich und im 2. Weltkrieg. Geboren und aufgewachsen in der nordböhmischen Stadt Reichenberg/Liberec wurde er als 19jähriger direkt nach dem Abitur an die Ostfront geschickt, geriet 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft und verbrachte die nächsten fünf Jahre in unterschiedlichen Gefangenenlagern. In Krabat findet sich ohne Zweifel viel, was auf die Erfahrungen jener Jahre zurückgeht.
Krabat ist zu Beginn der Geschichte arm und heimatlos. Mehr oder weniger ziellos wandert er durch eine Welt, die geprägt ist von der Willkür der Mächtigen, die alle paar Jahre die jungen Männer in die Uniform prügeln, damit sie auf fernen Schlachtfeldern töten und sterben. Als der Meister ihn zu sich ruft und ihm eine Stelle als Lehrling anbietet, zögert er nicht lange, obwohl ihm der Einäugige unheimlich ist. Doch was hat die Welt ihm schon groß anderes zu bieten? Ohne es zu wissen, wird er damit Teil einer teuflischen Maschinerie, aus der er sich mit eigener Kraft nicht mehr befreien kann. Erin Horáková weist sehr scharfsichtig darauf hin, wie unverständlich und scheinbar sinnlos das Treiben auf der Mühle im Koselbruch eigentlich ist.  Die Lehrlinge müssen schwer schuften, aber man erfährt weder, woher das Getreide kommt, noch, was anschließend mit dem Mehl geschieht. Ebensowenig sind die Lektionen in der Schwarzen Schule auf irgendein Ziel ausgerichtet. Jeder muss zwar am Unterricht teilnehmen, doch welchen Teil des Lehrstoffs er sich wirklich aneignet, bleibt ihm selbst überlassen. Und was hat es mit dem Toten Gang und mit den Säcken auf sich, deren Inhalt in jeder Neumondnacht für den Gevatter mit der Hahnenfeder (den Teufel also) gemahlen werden muss? Scheinbar handelt es sich um Menschenknochen, doch davon abgesehen erfahren wir nichts über den Zweck dieser Arbeit. Ebenso willkürlich wirkt das alljährliche Menschenopfer. Sicher, der Meister würde selbst sterben müssen, wenn er nicht einen seiner Lehrlinge opferte, aber warum ist dem so?
Die Lehrlinge sind bloße Rädchen in einem bösen, mörderischen Getriebe, dessen Sinn und Funktion sie selbst nicht durchschauen. Wie Krabat dürften auch sie das Angebot des Meisters angenommen haben, weil das Leben auf der Mühle ihnen immer noch besser erschien als jenes auf der Straße. Letztlich sind es die Umstände, die sie zu Mittätern gemacht haben, was sie keineswegs von aller Verantwortung freispricht. Eine freie Entscheidung ist immer noch eine freie Entscheidung. Aber keiner von ihnen ist 'böse' in dem Sinne, wie man es von Schülern der Schwarzen Kunst vielleicht erwarten sollte. Selbst der Spitzel Lyschko ist bloß ein ordinärer Arschkriecher. Die meisten versuchen sich einfach so gut es geht mit den Verhältnissen zu arrangieren. Man geht seiner Arbeit nach und redet nicht von den Ermordeten. Vieles spricht dafür, dass auch der Meister selbst letztlich nur ein Gefangener dieses Mechanismus ist. Am Ende versucht er ihm ja sogar zu entfliehen, indem er Krabat vorschlägt, sein Nachfolger zu werden.
Die Mühle ist keine Allegorie auf den Nazismus, aber sie ruft doch Assoziationen hervor, die wir ganz ähnlich auch mit totalitären Regimen verbinden.

Am Ende rettet Krabat nicht Macht und nicht Schlauheit, sondern schlichte menschliche Anständigkeit. Seine Versuche, den Meister zu überlisten, scheitern kläglich. Seine magischen Fähigkeiten nützen ihm nichts. Es ist allein seine Angst um die Kantorka, welche dieser verrät, welchen der Lehrlinge sie zu wählen hat. Das mag nicht die allerprofundeste Botschaft sein, aber sie enthält ein gut Stück Wahrheit.

* Alle weiteren Teile werden (hoffentlich) nach und nach auf Enchanted Conversation erscheinen.

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