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Freitag, 25. Mai 2012

Zur Verteidigung von Joy Chant

Brian Murphy hat auf Black Gate gestern einen ziemlich vernichtenden Artikel über Joy Chants 1970 erschienenen Roman Red Moon and Black Mountain veröffentlicht. Er charakterisiert ihn darin als eine simple Kopie des Lord of the Rings, kombiniert mit der Rahmenhandlung von The Lion, the Witch, and the Wardrobe. Das ist alles in allem zwar nicht so falsch, dennoch halte ich den Artikel für etwas unfair.
Zuersteinmal verrät Murphy recht ungenaue Kenntnisse über die Entwicklungsgeschichte der Fantasyliteratur, wenn er schreibt: "In the 1960s Frodo lived and the reading public was hungry for more, and derivative works like The Sword of Shannara met that demand. This pattern continued into the 1980s with the publication of works like Dennis McKiernan’s Iron Tower trilogy." Tatsächlich erschien Terry Brooks' Shannara nicht in den 60er Jahren, sondern 1977, und erst sein Erfolg leitete die Ära der tolkienesken High Fantasy ein, die sich nicht etwa 'bis in die 1980er fortsetzte', sondern in diesem Jahrzehnt überhaupt erst ihre große Blüte erlebte. Zuvor beherrschten die Clonans den Markt. Das mag jetzt etwas besserwisserisch wirken, aber nur so wird einem bewusst, dass Joy Chant mit ihrem Erstlingswerk nicht Teil einer Modeströmung war, sondern diese um beinahe ein Jahrzehnt vorwegnahm. Als die Flut der Tolkienklone über Faërie hereinzubrechen begann, hatte die Autorin diese Frühphase ihres Schaffens längst hinter sich gelassen.*
In Inhalt wie Aufbau weist Red Moon and Black Mountain zweifellos eine ganze Reihe von Schwächen auf, aber da, wo sich Chant von dem tolkienesken Schema etwas löst, zeigen sich doch auch schon ihre Stärken, die in den beiden späteren Bänden der House of Kendreth - Reihe, deren Existenz Murphy mit keinem Wort erwähnt,  zur vollen Entfaltung gelangen. Dies gilt vor allem für die Szenen, die unter dem Reitervolk der Khentorei spielen.

Die Autorin hat einmal erklärt: "Was mich am meisten fasziniert, ist, mir neue Lebensformen vorzustellen und zu untersuchen, wie Menschen darin arbeiten und leben."** Es ist die Verwirklichung dieses Ansatzes, die in meinen Augen die besondere Qualität von The Grey Mane of Morning (1977; dt.: Der Mond der Brennenden Bäume) und When Voiha Wakes (1983) ausmacht. Im Unterschied zu nicht wenigen Fantasyautoren ist sich Joy Chant bewusst, dass es die Lebensumstände eines Volkes sind, die dessen Weltsicht, Wertvorstellungen und Moral, sowie die Empfindungen seiner Mitglieder formen. Auf besonders gelungene Weise zeigt sich dies in The Grey Mane of Morning, in dem die Autorin zu den Khentorei zurückkehrt und uns dieses Volk von Jägern und Hirtennomaden an einem entscheidenden Wendepunkt seiner Geschichte zeigt. Wir sehen, wie unterschiedlich Menschen auf eine gesellschaftliche Krise und die damit verbundene Erschütterung uralter 'Wahrheiten' reagieren. Wir erleben aber auch,  wie Personen, die einer extrem traditionsbewussten Gesellschaft entstammen, geheiligte Regeln brechen, ihren Horizont erweitern und eine Welt zu erkunden beginnen, die ihnen bisher unerreichbar schien. Der Roman erzählt von der Begegnung unterschiedlicher Kulturen, von der Rebellion gegen eine uralte Tyrannei und vom Verhältnis zwischen ‘Schicksal’ und persönlichem Willen. Sein schwächstes Element ist interessanterweise zugleich sein phantastischstes: Der Auftritt eines leibhaftigen Gottes. When Voiha Wakes erscheint auf den ersten Blick wie ein typischer Vertreter der 'feministischen' Fantasy der 80er Jahre, ist die Handlung doch in einer matriarchalischen Gesellschaft angesiedelt. Aber auch wenn Genderfragen eine nicht unwichtige Rolle in der Erzählung spielen, geht es im Kern doch einmal mehr um das Durchbrechen gesellschaftlicher Normen, und außerdem um die Geburt der Kunst als eines Ausdrucks der eigenen Individualität.

Brian Murphy schreibt, Red Moon and Black Mountain sei heute weitgehend vergessen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich fände es traurig, wenn Joy Chants Werk tatsächlich im Orkus der untergegangenen Bücher verschwinden würde. Allerdings wünschte ich mir, dass man ihren Namen in Zukunft weniger mit dem tolkinesken Kinderbuch, mit dem sie einst bekannt wurde, als vielmehr mit ihren sehr viel reiferen Werken in Verbindung bringen würde. Sie sind eine Wiederentdeckung allemal wert.


* Dass Murphy Merry mit Pippin verwechselt und den Took statt den Brandybock an Éowyns Seite gegen den Hexenkönig antreten lässt, ist dann allerdings wirklich peinlich. Jedenfalls, wenn man sich über Tolkiens Einfluss auf die Fantasyliteratur auslässt.
** Findet sich am Anfang meiner Goldmann-Ausgabe (Juli 1984) von Der Mond der Brennenden Bäume.

4 Kommentare:

  1. Die Fantasy, die in der Zeit nach der Veröffentlichung des LotR, aber vor der durch Terry Brooks losgetretenen Welle der epischen Fantasies geschrieben wurde, wird oft unterschätzt bzw. zu Unrecht ignoriert, finde ich. Ein Buch wie Alan Garners Weirdstone of Brisingamen z.B. ist stilistisch und erzählerisch brillant, stark von Tolkien beeinflusst und dennoch alles andere als epigonal. Mit den späteren LotR-Klonen hat Garner wenig gemein, und ähnliches gilt m.E. für Lloyd Alexander, Peter S. Beagle, Joy Chant und andere Autor_innen, die in den Sechzigern und Siebzigern bekannt wurden.

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  2. Was Alexander, Beagle und Chant betrifft, kann ich Dir da nur voll und ganz Recht geben. Alan Garner kenne ich leider nicht, aber ich bin neugierig: Was habe ich mir unter dem 'Weirdstone' denn so vorzustellen?

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  3. Das Faszinierendste an Weirdstone ist für mich, dass es in einer realen Landschaft spielt, mit der Garner sehr vertraut war: Alderley Edge in Cheshire. Garner ist dort aufgewachsen und lässt in diesem übersichtlichen, ländlichen Szenario eine High-Fantasy-Geschichte spielen, und zwar mit dem kompletten Programm: Queste, böser dunkler Herrscher, magisches Artefakt, Zwerge und Monster, Rettung der Welt.

    Hm, was soll ich sonst sagen? Garner geht virtuos mit Sprache um wie sonst nur Tolkien. Seine Bücher werden von Leuten wie Susan Cooper, Neil Gaiman und Philip Pullman bewundert. Man merkt seiner Schreibe an, dass er aus der (englischen, ländlichen) Arbeiterklasse stammt. Er studierte in Oxford und gehörte C.S. Lewis’ College an, dem er folgendermaßen begegnete: »I practised abseiling from my room one dark night, and put my bare toes on the bald head of C.S. Lewis, who was leaning against the wall for reasons of his own. He yelped and ran.«

    Aber ich merke, ich bin Fan und kann deshalb weiter gar nichts Brauchbares zu Garner sagen ...

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  4. Klingt auf jedenfall interessant. Ein Kandidat mehr für den ewig wachsenden Berg der 'Musst Du mal lesen' - Bücher.

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