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Dienstag, 8. Mai 2012

Sigurd, Aragorn & die Pfade der Toten

'Wulfila' hat für die Bibliotheka Phantastika eine (wie stets) lesenswerte Rezension zu J.R.R. Tolkiens The Legend of Sigurd and Gudrún verfasst. Selbst hatte ich bisher leider noch nicht die Möglichkeit, des 'Professors' literarische Auseinandersetzung mit dem altnordischen Nibelungenstoff meiner Bibliothek einzuverleiben. Um so spannender fand ich es zu lesen, dass Tolkien der Figur des Drachentöters Sigurd in seinen Stabreimgedichten "eine sehr christlich geprägte Interpretation angedeihen lässt: Sigurd erscheint als prophezeite Erlösergestalt mit deutlichen Anklängen an Christus. So ist er nicht nur von göttlicher Abstammung, sondern wird auch als Überwinder der Schlange bzw. des Drachen apostrophiert (beide können in der christlichen Ikonographie für den Teufel stehen) und schafft durch seinen irdischen Tod die Voraussetzung zur Überwindung des Todes im Jenseits."

Verwunderlich finde ich das allerdings nicht. C. S. Lewis erzählt in einem Brief an seinen Schulfreund Arthur Greeves über jenen legendären Oxforder Nachtspaziergang vom Oktober 1931, der seine Bekehrung zum Christentum auslöste: "Now what Dyson and Tolkien showed me was this: that if I met the idea of sacrifice in a Pagan story I didn't mind it at all: again, that if I met the idea of a god sacrificing himself to himself ... I liked it very much and was mysteriously moved by it: again, that the idea of a dying and reviving god (Balder, Adonis, Bacchus) similarly moved me provided I met it anywhere except in the gospels. The reason was that in Pagan stories I was prepared to feel the myth as profound and suggestive of meanings beyond my grasp even though I could not say in cold prose 'what it meant'. Now the story of Christ is simply a true myth: a myth working on us in the same way as the others, but with this tremendous difference that it really happened" (1) Tolkien war der festen Überzeugung, dass die 'heidnischen' Mythen Brocken der christlichen 'Wahrheit' enthalten, was in seinen Augen ihre besondere Würde ausmachte. Und so finde ich es sehr gut nachvollziehbar, dass er eine Gestalt wie Sigurd in ähnlicher Weise als ‘Vorausdeutung’ auf Christus darstellte wie dies in der typologischen Sicht des Mittelalters etwa mit Orpheus möglich war. (2)

Ich glaube, dass etwas von dieser Sichtweise seinen Niederschlag auch im Herr der Ringe gefunden hat, und zwar in der Episode von den Pfaden der Toten. Sie bildet einen zentralen Bestandteil der 'Saga von Aragorn, Arathorns Sohn' und steckt voller  Anspielungen auf die germanische Mythen- und Sagenwelt.
Das Geschick von Elendils Erbe ist umgeben von uralten Prophezeiungen wie der – natürlich in Stabreime gefassten – des Sehers Malbeth:

Over the land there lies a long shadow,
westward reaching wings of darkness.
The Tower trembles; to the tombs of kings
doom approaches. The Dead awaken;
for the hour is come for the oathbreakers;
at the Stone of Erech they shall stand again
and hear there a horn in the hills ringing.
Whose shall the horn be? Who shall call them
from the prey twilight, the forgotten people?
The heir of him to whom the oath they swore.
From the North shall he come, need shall drive him:
He shall pass the Door to the Paths of the Dead.

Alles, was mit dem schaurigen Weg unter dem Dwimorberg (3) zu tun hat, atmet den archaischen Geist der Zeiten Wotans und Donars.
Baldors "unbesonnenes Gelübde", das er leistete, "als er das Horn leerte bei dem Fest, das [sein Vater] Brego gab, um das neu erbaute Meduseld (4) einzuweihen", ist ein typisches Beispiel ‘heroischer Hybris’, umgeben von der entsprechenden Tragik. Der Königssohn wusste, dass es nicht ihm bestimmt war, das Tor zum Reich der Toten zu durchschreiten, aber hätte es einen besseren Beweis für seinen Heldenmmut geben können, als das unmögliche zu versuchen? – Nie kehrte er aus Dimholt (5) zurück, "und niemals bestieg er den Herrschersitz, dessen Erbe er war."
Über die "Toten Menschen aus den Dunklen Jahren" erzählt Théoden: "[Z]uweilen sieht man sie, wenn sie wie Schatten aus dem Tor heraus und die steinerne Straße herabkommen. Dann versperren die Leute im Hargtal ihre Türe und verhängen die Fenster und fürchten sich. Doch die Toten kommen selten heraus und nur zu Zeiten, da große Unruhen und Tod bevorstehen." Ihre äußere Erscheinung wird beschrieben als "Gestalten von Männern und Pferden, und bleiche Banner wie Wolkenfetzen und Speere wie Winterdickichte in einer nebligen Nacht." Was anderes ist dies als das Wilde Heer, von dem man sich überall im germanischen Kulturraum erzählte? Einst hatte es Wode-Wotan persönlich angeführt, und noch in Heinrich Heines Atta Troll jagt es durch die nächtlichen Pyrenäen. In der Überlieferung tritt es oft als Vorbote von Krieg und Unglück auf. (6) Und auch die Vorstellung, die Toten hausten in einem Berg, aus dem sie von Zeit zu Zeit als Wütendes Heer hervorkommen, durch das Land streifen und anschließend in ihr unterirdisches Heim zurückkehren, ist uralter Bestandteil germanischen Volksglaubens, der sich z.T. bis weit ins Mittelalter erhielt. Der Dwimorberg besitzt seine Gegenstücke nicht nur im Island der Njálsaga und Landnáma, sondern selbst in der Umgebung von Worms, wo nach dem Bericht eines zeitgenössischen Chronisten im Jahr des Herrn 1223 die Geister gefallener Ritter aus einem Berg hervorgekommen sein sollen. (7)
In dieses archaische Umfeld gehört nun auch die Prophezeiung, die davon spricht, dass zur vorherbestimmten Stunde einer kommen und das Tor im Dimholt durchschreiten wird: Einst nämlich betraten Brego und Baldor das Tal und kamen zu dem Tor. "Auf der Schwelle saß ein Greis, so alt, daß man seine Jahre nicht schätzen konnte; hochgewachsen und königlich war er gewesen, doch nun verwittert wie ein alter Stein. Tatsächlich hielten sie ihn für einen Stein, denn er bewegte sich nicht und sprach kein Wort, bis sie versuchten, an ihm vorbei hineinzugehen. Und dann sprach er mit einer Stimme, die klang, als ob sie aus der Erde komme, und zu ihrer Verwunderung sagte er in der westlichen Sprache: Der Weg ist versperrt. Dann blieben sie stehen und schauten ihn an und sahen, daß er noch lebte; er aber blickte sie nicht an. Der Weg ist versperrt, wiederholte er. Er wurde angelegt von jenen, die tot sind, und die Toten halten ihn, bis die Zeit gekommen ist."
In Aragorn finden diese Prophezeiungen ihre Erfüllung. Der Bericht über das, was sich ereignet, nachdem er und seine Gefährten das Tor durchschritten haben, nimmt gerademal eine Handvoll Seiten in Anspruch, bildet jedoch den vielleicht wichtigsten Abschnitt in der Erzählung von der Rückkehr des Königs. Dies ist die eigentliche Prüfung, die Streicher bestehen muss, wenn er Anspruch auf die Krone erheben will. Nicht, weil Volk oder Adel Gondors ihn andernfalls nicht akzeptieren würden, sondern weil sich hier zeigt, ob er tatsächlich der von der Vorsehung auserwählte König ist. Eben darum drängen ihn sowohl Elrond als auch Galadriel, diesen Weg zu beschreiten, denn damit beweist er seine "hohe Bestimmung".

Die Stollen unter dem Dwimorberg lassen sich problemlos als eine Manifestation des Totenreiches interpretieren. So erklärt Halbarad, in Dimholt angekommen: "Das ist ein übles Tor [...,] und mein Tod liegt jenseits von ihm". Man könnte das für eine simple Fehleinschätzung halten, der düsteren Atmosphäre des Ortes geschuldet, stößt dem Dúnadan im Folgenden doch kein körperliches Leid zu. Vielleicht aber beweist er mit seiner Vorahnung auch besondere Einsicht. Zwar wird er nicht sterben, aber er und seine Gefährten werden auf dem Weg, der vor ihnen liegt, dem Tod auf eine Weise nahekommen, wie es lebenden Wesen eigentlich nicht geschehen sollte. Kein Wunder, dass Gimli bei diesem Marsch wahre Höllenqualen durchleidet, "bis er wie ein Tier auf dem Boden kroch und spürte, daß er es nicht mehr ertragen konnte: entweder mußte er ein Ende finden oder entfliehen oder in Wahnsinn verfallen". Legolas hingegen scheint von dem Grauen des Pfades unberührt, was auch verständlich ist. Als Unsterblicher ist dem Elben die elementare Furcht vor dem Tod unbekannt. Welche Schrecken sollte Hades oder Hel für ihn bergen?


Den Abstieg in das Reich der Toten kennen wir von einer ganzen Reihe klassischer Helden wie Gilgamesch, Odysseus oder Aeneas. Irgendwelche jungschen Archetypen sollten wir dennoch besser in der Schublade liegen lassen und uns stattdessen lieber weiter auf die germanische Mythologie konzentrieren, auch wenn sich Sigurd im Unterschied zu seinen mesopotamischen und mediterranen Kollegen keinen Abstecher in die Unterwelt gegönnt hat. Wohl nicht ganz zufällig trägt Bregos Sohn den Namen Baldor – die angelsächsische Entsprechung zum altnordischen Baldr. (8) In der Gylfaginning erzählt Snorri Sturluson, wie nach dem tragischen Tod des Gottes Baldr sein Bruder Hermodr zur Hel hinabreitet, um ihn zurückzuholen. Doch Hermodrs Bemühungen sind erfolglos. Erst nach dem ragnarök, wenn die Welt wiedergeboren wird und ein neues Goldenes Zeitalter anbricht, wird auch Baldr zurückkehren, wie es in der Völuspa prophezeit wird. Bei ihrer Wanderung auf den Pfaden der Toten stoßen die Gefährten auf Baldors unbegrabenen Leichnam, aber wie Aragorn deutlich erklärt: "[D]as ist nicht mein Auftrag." Allerdings lässt er wie nebenbei einen kurzen Hinweis auf den Jüngsten Tag fallen, mit dessen germanischer Variante das Schicksal Baldrs ja aufs engste verknüpft ist: "Hierher werden die Blüten der simbelmyne niemals kommen bis zum Ende der Welt [‘unto world’s end’]".

Man darf solche Anspielungen freilich nicht missverstehen. Aragorn ist weder ein neuer Baldr noch ein neuer Hermodr. Ebenso wie die christlichen formen die germanischen Motive im Herr der Ringe nicht die Handlung, sondern schwingen wie eine zweite Melodie im Hintergrund mit. Bei ihrer Interpretation ist man deshalb auf Spekulationen angewiesen.
Ausgehend von dem Totenreich- und Baldrmotiv ließe sich aus der Geschichte von Aragorns Reise auf den Pfaden der Toten ein leichter Anklang an Christi Descensus ad infer(n)um heraushören. (9)
Dem Menschen von heute – auch dem Christen oder der Christin – dürfte die Vorstellung von der Höllenfahrt Christi nicht mehr so geläufig sein, aber für das Mittelalter stellte sie einen integralen Bestandteil der Passions- und Ostergeschichte dar. Ausgehend vom Bericht des apokryphen Nikodemus-Evangeliums war der Descensus ad infer(n)um – im Englischen ‘Harrowing of Hell’ genannt – ein beliebtes Thema der christlichen Kunst und besaß z.B. einen festen Platz in den englischen Mysterienspielen des Spätmittelalters, den sogenannten Cycle-Plays (Chester, York, Towneley, N-Town). Demzufolge hat Jesus nach seinem Tod am Kreuz die Unterwelt aufgesucht, ihre Tore zerbochen, den Satan niedergerungen und in Ketten gelegt und die endlich erlösten Seelen der Gerechten hinauf ins Paradies geführt.
Auch Streicher trotzt den Mächten der Unterwelt und bringt verdammten Seelen Erlösung. Wenn man hierzu nun Tolkiens Mythosverständnis hinzunimmt, ergibt sich eine interessante Möglichkeit der Interpretation.
Die Pfade der Toten sind von einer unverkennbar heidnisch-archaischen Atmosphäre umgeben, und die Bestimmung des kommenden Königs ist es, diesen Schatten, der aus den Dunklen Jahren auf die Gegenwart fällt, zu vertreiben. In der Gründungszeit Gondors hatten die Bewohner des Gebirges Isildur Lehnstreue geschworen, aber als der Krieg des Letzten Bundes ausgebrochen war, hatten sie sich in ihren Tälern verkrochen und waren seinem Ruf zu den Waffen nicht gefolgt, "denn in den Dunklen Jahren hatten sie Sauron gehuldigt." Deswegen waren sie dazu verflucht worden, keinen Frieden finden zu können bis sie ihren Eid erfüllten, denn sie würden "noch einmal [...] gerufen werden, ehe das Ende kommt." Was Carroux hier mit ‘huldigen’ übersetzt, heisst bei Tolkien ‘worship’ – ein Wort mit sehr viel stärker religiöser Konnotation. Die Eidbrüchigen waren Heiden, Götzenanbeter gewesen. Die Finsternis, die über Dimholt liegt, ist also sowohl in motivischer Hinsicht wie in der Realität der Sekundärwelt die Finsternis des Heidentums. Diesen Spuk zu vertreiben, ist Aragorns Aufgabe. Das tut er aber nicht, indem er die Geister in die Hölle verbannt, wie dies die christlichen Helden aus den Legenden der Missionszeit gemacht hätten, sondern indem er ihnen die Möglichkeit eröffnet, ihren einstigen Fehler wiedergutzumachen und ihm im Kampf gegen ihren ehemaligen Abgott beizustehen. Aragorn führt das Wilde Heer der Heidenzeit gegen Mordors Truppen. Oder auf einer metaphorischen Ebene: Der Mythos wird in den Dienst Gottes gestellt. Was nur möglich ist, weil er schon immer etwas Wertvolles, ein Körnchen Wahrheit enthielt. Nachdem sie dies bewiesen haben, gelangen die Geister der Vergangenheit zur Ruhe, und die letzten Überbleibsel der Dunklen Jahre verschwinden aus dem Weißen Gebirge. Nie wieder wird die Wilde Jagd aus dem Dimholt hervorkommen, und der Dwimorberg wird seinen Namen nur noch in Erinnerung an die Schrecken einer überwundenen Zeit tragen.
Ich bin mir bewusst, auf wie unsicheren Boden ich mich damit begebe, aber es scheint mir nicht ganz unvorstellbar zu sein, dass diese Episode einen versteckten Kommentar zum  Verhältnis von Mythos und christlicher ‘Wahrheit’ enthält.
Aragorn jedenfalls erhält durch sie deutlich messianische Züge – er erscheint als eine Art Erlöser und auserwählter Herrscher über die Lebenden und die Toten. Mit seiner Durchquerung der Unterwelt hat er bewiesen, dass er würdig ist, die Krone zu beanspruchen. Am Schwarzen Stein von Erech lässt er zum ersten Mal das Königsbanner, das Arwen für ihn angefertigt hat, entfalten. Der Eindruck, den er auf seine Gefährten macht, hat sich stark gewandelt. Erstaunt stellt Legolas fest: "Selbst die Schatten der Menschen gehorchen seinem Willen. [...] In jener Stunde sah ich Aragorn an und dachte, ein wie großer und entsetzlicher Gebieter er mit seiner Willensstärke hätte werden können, wenn er den Ring für sich genommen hätte."



(1) Zit. nach: Walter Hooper: C. S. Lewis: A Companion and Guide. S. 582f.
(2) "Bei der Typologie kehrt ein Geschehen der Alten Zeit in einem Geschehen der Neuen Zeit wieder, und zwar in gesteigerter Spiegelung. Im neuen Gegenbild des alten Vorbilds müssen Gemeinsames und Unterscheidendes sich verbinden." (Friedrich Ohly: Halbbiblische und außerbiblische Typologie. In: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. S. 364.)
(3) ags. ‘dwimor’ [Geist] + ‘beorg’ [Berg]
(4) ags. ‘medu’ [Met] + ‘séld’ [Halle]; Tolkiens Vorbild war hier sicher König Hrothgars berühmtes ‘Methaus’ (‘medoærn’; V. 69) Heorot aus dem Beowulf; ‘meduseld’ taucht als allgemeine Bezeichnung für eine Methalle im zweiten Teil des Heldenliedes (V. 3065) auf.
(5) ags. ‘dimm’ [düster] + ‘hol(c)’ [Höhle, Öffnung]
(6) Während ich das schreibe, befinde ich mich gut sechzehn Kilometer (‘wie die Krähe fliegt’) von dem kleinen Odenwälder Dörfchen Fränkisch-Crumbach und der Burg Rodenstein entfernt, wo man noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs den Junker Hans mit der Wilden Jagd durch die nächtlichen Lüfte hat brausen hören wollen.
(7) Vgl.: Wolfgang Golther: Handbuch der germanischen Mythologie. S. 87ff; 283ff.
(8) Genaugenommen kennen die altenglischen Quellen ‘bealdor’ wohl nicht als Eigennamen, sondern nur als Hauptwort mit der Bedeutung ‘Herr’ oder ‘Fürst’. Die sprachgeschichtlichen Wurzeln sind aber dieselben.
(9) Dasselbe gilt nebenbei bemerkt auch für Gandalfs Sturz in den Abgrund von Khazad-dûm.

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