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Donnerstag, 31. Mai 2012

Advocatus Diaboli

Dass der amerikanische Literaturkritiker Edmund Wilson (1896-1972) unter Freunden und Freundinnen der Fantasy keinen guten Ruf besitzt, ist nicht verwunderlich, kennen sie ihn in den meisten Fällen doch nur als den Verfasser berüchtigter Verrisse von Tolkien (Oh Those Awful Orcs) und H.P. Lovecraft (Tales of the Marvellous and the Ridiculous).
Das in Fantasykreisen recht beliebte Wilson-Bashing, an dem sich nun leider auch 'Anubis' beteiligt, finde ich dennoch recht unerfreulich. Der Mann hatte eingestandermaßen kaum Verständnis für einen Gutteil der modernen Phantastik, was sich u.a. auch an seinen abfälligen Bemerkungen über Lord Dunsany, Arthur Machen oder M.R. James zeigt. Doch muss man aus ihm deshalb gleich die Karrikatur eines Feuilleton-Snobs machen? Ich kann nur von mir selbst sagen, dass mich die Lektüre von Büchern wie  Axel’s Castle, Classics and Commercials, To the Finland Station oder The Wound and the Bow stets mit neuen und interessanten Einsichten beschenkt hat.

Edmund Wilson gehörte zu jener Generation amerikanischer Intellektueller, die geprägt wurden durch den im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts einsetzenden gewaltigen kulturellen Umschwung in den USA. Die erstickende Atmosphäre des Provinzialismus, des sich als Patriziat aufspielenden vulgären Spießertums und der unverhüllten Herrschaft des Geldsacks, die die Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg geprägt hatte, schien der frischen und erregenden Luft eines neuen kulturellen und politischen Aufbruchs zu weichen. Dreißig Jahre später schrieb Wilson über den Geist jener Zeit:
"The shadow of Big Business that had oppressed American culture in our childhood seemed finally to be passing away. Woodrow Wilson, for all his shortcomings, had something of the qualities of the presidents of the earlier years of the Republic: he was a writer and thinker of a kind, and, though most of his reforms were aborted, he did succeed, on the plane of ideas at least, in dissociating the government of the United States from financial and industrial interests, and presided with some moral dignity over the entry of the United States out of its complacent provinciality on to the larger stage of the world. Later, a livid spark seemed to flash from the American labor movement in the direction of the Russian Revolution." (1)
Ironischerweise war einer der Hauptgründe für diese Entwicklung das Hervortreten der USA als imperialistischer Weltmacht um die Jahrhundertwende. Auf ganz handfeste, ökonomische, politische und militärische Weise war hier die "complacent provinciality" der USA aufgebrochen worden. Doch trotz dieses Hintergrundes war der fortschrittliche und belebende Charakter des darauf folgenden kulturellen Umschwungs nicht zu übersehen. Ein weltoffener und kritischer Geist begann sich auszubreiten. Neue Ideen wurden begierig aufgegriffen, diskutiert und weiterverarbeitet. Theodore Dreisers naturalistische Romane erkundeten die sozialen und psychologischen Abgründe, die sich hinter der Fassade des prosperierenden Kapitalismus verbargen. Ezra Pound und T. S. Eliot begannen, die amerikanische Lyrik zu revolutionieren – wenn auch von England aus. Einen anderen, weniger mit klassischem Bildungsgut befrachteten Weg beschritt William Carlos Williams, dessen erster bedeutender Gedichtband Al Que Quiere! 1917 erschien. "Irgendwo war eine Bresche geschlagen worden, wir strömten hindurch, jeder mit seinen eigenen Gedanken, mit seinen eigenen Plänen und Zielen beschäftigt" (2), schreibt der Dichter in seiner Autobiographie. Die Armory Show von 1913 machte ein breiteres Publikum in New York, Chicago und Boston erstmals mit der Malerei der europäischen Kubisten, Expressionisten, Fauvisten und Symbolisten bekannt. Besonderes Aufsehen erregte dabei Marcel Duchamps Akt, eine Treppe hinabsteigend. Im selben Jahr veröffentlichte der Historiker Charles Austin Beards seine berühmte Studie An Economic Interpretation of the Constitution, in der er die patriotische Heiligenlegende der Gründerväter in Frage stellte und die sozialen und wirtschaftlichen Interessen analysierte, die der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung zugrunde gelegen hatten. Gleichfalls 1913 begann Max Eastman seine Zeitschrift The Masses herauszugeben, in der er Kultur und Sozialismus miteinander verband, und die einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die New Yorker Intelligenzija ausübte, bis sie 1918 aufgrund ihrer klaren Haltung gegen den Krieg verboten wurde. Die Zeitschrift verbreitete nicht nur sozialistische Ideen, sie machte ihre Leser auch mit den Theorien Sigmund Freuds bekannt und förderte junge Schriftsteller wie Sherwood Anderson. Derweil attackierte die bekannte Anarchistin Emma Goldman auf den Seiten von Mother Earth in leidenschaftlichen Artikeln den Patriotismus, die puritanische Prüderie und andere ‘gute alte Traditionen’ Amerikas.

In dem 1933 erschienenen Essayband American Jitters ruft sich Wilson den Eid in Erinnerung, den er damals abgelegt hatte: "I swore to myself that when the War was over I should stand outside of society altogether, I should do without the comforts and amenities of the conventional world entirely, and I should devote myself to the great human interests which transcend standard of living and conventions: Literature, History, the Creation of Beauty, the Discovery of Truth." (3) Als Mitglied der Bohème von Greenwich wurde Wilson in den Roaring Twenties zu einem der eloquentesten Vorkämpfer des internationalen Modernismus und der aufblühenden amerikanischen Literatur: Gertrude Stein und James Joyce, Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald – um nur einige bekannte Namen zu nennen. Andras Gyorgy schreibt über den jungen Literaturkritiker jener Jahre: "In his early reviews, Edmund Wilson displayed a wonderful trust sorely lacking in contemporary criticism – trust in the intelligence and interest of his audience, and dislike of the literary pretensions and genteel ways of America’s patrician elite and the nouveau riches, ‘the boobocracy’ as Mencken aptly named them." Er verfügte ohne Zweifel über ein gewaltiges Selbstbewusstsein, doch ein elitärer Snob war er zu dieser Zeit ganz sicher nicht. "Wilson sat down with James Joyce for a chat in a cafe and rushed into print to explain Ulysses and Finnegan’s Wake to an audience growing in sophistication and self-confidence. He saw writers participating in a worldly activity as part of a community, and believed that modernist literature, even in its most extreme innovations of Joyce and Gertrude Stein, is not so much difficult to read, as that we have not learned to read it with care". Für ihn war die Kunst ein wichtiges Mittel des Kampfes für eine bessere, schönere, menschlichere Gesellschaft, indem sie uns immer neue Perspektiven auf die Welt und uns selbst eröffnet, uns innerlich bereichert und unseren Horizont erweitert.
Der Ausbruch der Großen Depression 1929 beendete das bei allem Rebellentum doch auch bequeme und etwas selbstzufriedene Dasein der Bohème. Wie viele andere amerikanische Intellektuelle radikalisierte sich auch Wilson, engagierte sich vermehrt in den politischen und sozialen Kämpfen der Zeit, z.B. dem ‘Harlan County War’ von 1931 und der Kampagne gegen den rassistischen ‘Scottsboro Boys’ - Prozess. Er näherte sich dem Marxismus an, ohne je zu einem tieferen Verständnis dieser Weltanschauung zu gelangen. In seiner Geschichte des Sozialismus To the Finland Station macht er sehr deutlich, dass er sowohl die dialektisch-materialistische Philosophie als auch die ökonomische Analyse von Marx ablehnte. Anfangs liebäugelte er mit der stalinistischen KPUSA, die sich zu Beginn der 30er Jahre ultraradikal gab, und nahm 1935 sogar eine Einladung nach Moskau an. Später sympathisierte er eine Zeit lang mit dem Trotzkismus, blieb jedoch im Kern stets ein ‘liberaler’ Radikaler und ein Pragmatist der Dewey-Schule.
Nach 1940 setzte bei ihm dann eine immer größere Desillusionierung ein. Wie so viele andere gelangte auch er nach ein paar Jahren des Kampfes zu der Überzeugung, dass der scheinbare Triumph Hitlers und Stalins bewiesen habe, dass seine einstigen Hoffnungen auf die Errichtung einer humaneren Gesellschaft verfehlt gewesen seien. Damit begann eine Entwicklung, die aus dem einstigen kosmopolitischen Rebellen schließlich tatsächlich einen exzentrischen, selbstverliebten und in kulturellen Fragen immer konservativeren Snob machte.

Das tragische Schauspiel, das Wilson mitunter in der letzten Phase seines Lebens bot, ändert jedoch nichts an dem beachtenswerten Beitrag, den er zur Kultur des 20. Jahrhunderts geleistet hat. ‘Anubis’ schreibt spöttisch: "Man könnte vielleicht sogar behaupten, dass Wilson, der zu seinen Lebzeiten einer der bedeutendsten Kritiker und Feuilletonisten der englischsprachigen Welt war, außerhalb literaturgeschichtlich interessierter Kreise überhaupt nur noch aufgrund seines Tolkien-Verrisses bekannt ist." Wenn dem tatsächlich so ist, dann fände ich das ausgesprochen bedauerlich. Wilsons demokratische Grundeinstellung, sein Nonkonformismus, seine weitgespannten Interessen – verbunden mit umfassender Bildung und stilistischer Könnerschaft – sollten auch heutigen Literaturkritikern und -kritikerinnen als Vorbild dienen. Aber da die Überzeugungen, denen er in seinen besten Jahren die Treue hielt, von vielen Intellektuellen heute mit Verachtung gestraft werden, kann ich mir gut vorstellen, dass ‘Anubis’ leider recht hat. Der Glaube an eine (wie auch immer geartete) revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft und an eine künftige bessere Welt? Die Überzeugung, dass die Kunst zu dieser Veränderung beitragen kann? Die Pflicht des Intellektuellen, an diesem Kampf teilzunehmen? Solche Glaubenssätze sind aktuell immer noch in erster Linie das Ziel von Spott oder Feindseligkeit. Ein Grund mehr, um alle kulturell Interessierten zu einer erneuten Beschäftigung mit dem Werk Wilsons aufzurufen!

Was seine verächtliche Einstellung zu Tolkien, Lovecraft und anderen Phantasten angeht, so würde ich zuerst einmal anmerken wollen, dass sich selbst in seinen borniertesten Verrissen immer noch einige korrekte Beobachtungen finden. Liegt er denn so falsch, wenn er in Oh Those Awful Orcs schreibt: "Frodo the good little English-man; Samwise, his dog-like servant, who talks lower-class and respectful, and never deserts his master"? (4) Und was Lovecraft betrifft, so halte ich diesen zwar für einen faszinierenden, jedoch nicht für einen wirklich ‘guten’ Schriftsteller, und sehe in Wilsons Bonmot "The only real horror in most of these fictions is the horror of bad taste and bad art" (5) ein willkommenes Gegengift zu der gänzlich übertriebenen Verehrung, die dem Gentleman von Providence heutzutage entgegengebracht wird. Davon einmal abgesehen vermittelt ‘Anubis’ meiner Meinung nach einen falschen Eindruck, wenn er über Wilson schreibt: "Er bekämpfte jegliche Literatur, die nicht seinen Auffassungen von Realismus entsprach". Viele Leserinnen und Leser werden das vermutlich so auffassen, als habe Wilson einem naturalistischen Realismus gehuldigt und jede Form von Phantastik strikt abgelehnt. Dies war jedoch keineswegs der Fall. Vielmehr war Wilson ein erklärter Bewunderer solcher Ikonen der Phantastik wie Edgar Allan Poe oder Franz Kafka. Auch beschäftigt sich eines seiner bekanntesten Werke, Axel’s Castle, ausschließlich mit dem wenig ‘realistischen’ Symbolismus, wobei er unter diesem Begriff so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie W.B. Yeats, Paul Valéry, T.S. Eliot, Marcel Proust, James Joyce, Gertrude Stein und Arthur Rimbaud zusammenfasste. Wilson war der Meinung, dass Literatur eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit sein sollte, aber das ist doch wohl kaum gleichbedeutend mit einer Ablehnung jeder Form von Phantastik. Andernfalls befände ich mich in arger Bedrängnis, teile ich doch Wilsons Ansichten in diesem Punkt voll und ganz.

Für vollkommen verfehlt halte ich es schließlich, Wilsons Realismusbegriff mit dem unserer Grimdark-Autoren in Verbindung zu bringen, was 'Anubis' leider Gottes tut. Letzteren geht es nicht wirklich um eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit (von der sie oft genug wenig verstehen), sie missbrauchen vielmehr den Begriff  'Realismus' als Verkleidung für ihre verrottete Sicht der Welt und der Menschheit. Damit repräsentieren sie das genaue Gegenteilt von dem, wofür Edmund Wilson in seiner besten Zeit einstand.


(1) Edmund Wilson: Thoughts on Being Bibliographed. In: Ders.: Classics and Commercials. S. 106.
(2) William Carlos Williams: Die Autobiographie. S. 189.
(3) Zit. nach: Andras Gygory: Edmund Wilsons literary essays and reviews from 1920 to 1950: Just in time.
(4) Edmund Wilsosn: Oh Those Awful Orcs. In: Ders.: The Bit Between My Teeth. S. 329.
(5) Edmund Wilson: Tales of the Marvellous and the Ridiculous. In: Ders.: Classics and Commercials. S. 288.

3 Kommentare:

  1. Hallo Raskolnik,

    danke erstmal für deine Auseinandersetzung mit meinem Blogpost, bzw. für die Darstellung von Wilsons Leben und Werk. Dazu gleich eine ganze Reihe von Anmerkungen:

    Bereits in der Diskussion zu meinem Post gesagt habe ich, dass ich Wilson oder seinen Realismusbegriff in keinster Weise mit den einschlägigen Grimdark-Autor_innen in Verbindung bringen wollte. Da hast du, glaube ich, fälschlicherweise etwas in meinen Text hineingelesen.

    Meine Absicht lag auch nicht darin, Wilson als »Karikatur eines Feuilleton-Snobs« darzustellen. Dafür gäbe es in der Gegenwart eine Menge ungleich geeigneterer Kandidat_innen. Ich bin mit Wilsons Werk nicht sonderlich vertraut, habe ihn aber stets als klassischen Linksliberalen gesehen, mit den damit einhergehenden Ansichten über die gesellschaftliche Verantwortung von Intellektuellen etc. Eine solche Haltung kann man politisch und ästhetisch unzulänglich finden, snobistisch ist sie aber nicht. Dein Bedauern darüber, dass sie heute »in erster Linie das Ziel von Spott oder Feindseligkeit« ist, teile ich. Der Fall Grass etwa zeigt in meinen Augen, wie sich die Ablehnung allzuoft nicht gegen das Verdrängen seiner Nazigeschichte (bzw. gegen die immer groteskere Wiederkehr des Verdrängten) richtet, sondern überhaupt gegen die Idee, dass Intellektuelle sich politisch äußern und Standpunkte beziehen. Ersteres ist berechtigt, letzteres der Ungeist der Zeit. Insofern war meine Aussage, dass Wilson heute fast vergessen ist, nicht wertend gemeint, sondern rein deskriptiv. Triumph darüber, dass Wilson nur noch als Tolkiens unterlegener Gegner bekannt ist, wollte ich damit nicht zum Ausdruck bringen.

    Das Problem mit vielen linksliberalen Autorinnen und Kritikern (im deutschen Kontext fällt mir da z.B. Peter Härtling ein) sehe ich eher in einer sehr schematischen Auffassung darüber, welche Art von Literatur gesellschaftlich relevant ist bzw. »etwas zu sagen hat«. Ich bin der Ansicht, dass jede Art von Literatur etwas über die gesellschaftlichen Bedingungen mitteilt, unter denen sie entstanden ist, weshalb gerade auch die sogenannte Trivialliteratur ein Feld politischer Intervention sein kann (und ich wünschte, es gäbe mehr Autor_innen, die diese Möglichkeit wahrnehmen würden). Die typische Haltung scheint mir aber leider eher zu sein, dass innerhalb der Literaturproduktion bestimmte Felder zu Inseln der gesellschaftlichen Relevanz erklärt werden, während der Rest als irgendwie unpolitisch abgetan wird. Das kann in manchen Kontexten eine progressive Haltung sein — oft dient es aber auch nur dazu, sich selbst auf die Schulter zu klopfen, etwa wenn über das Fehlen von sozialkritisch-naturalistischer Jugendliteratur und den Erfolg von eskapistischem Schund gejammert wird. Eine solche Haltung ist nicht nur zwangsläufig ideologisch (was an sich nicht schlimm wäre), sie verunmöglicht Ideologiekritik.

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  2. So ist es in meinen Augen auch, wenn Realismus als angeblich einziger Modus, politisch Relevantes auszudrücken, gefordert wird. Es ist die implizite Gleichsetzung Realismus = gesellschaftliche Relevanz, die ich ablehne. Ebenso verkürzt wäre es aber, Realismus als Gegenbegriff zum Phantastischen zu sehen. Die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts ist voller phantastischer Elemente; die gesamte Phantastikdefinitionsdebatte im Anschluss an Todorov ist nur vor dem Hintergrund der realistischen Tradition zu verstehen. Das in Fantasykreisen beliebte Realismus-Bashing ist daher nur die andere Seite der Medaille. Mit realistischer Literatur an sich habe ich kein Problem, nur mit der Art und Weise, wie einigen literarischen Stilen unhinterfragt die intrinsische Eigenschaft zugesprochen wird, zur »Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit« beizutragen, während andere Stile als ihrem Wesen nach wirklichkeitsfremd gelten. Solche Grabenkämpfe können aber entlang ganz unterschiedlicher und beliebiger Linien entstehen, und sie können auch von Leuten geführt werden, die nicht gerade als Vertreter_innen realistischer Literaturtraditionen gelten. Ich denke da etwa an Anthony Burgess, der ziemlich ausdauernd über die mangelnde Aussagekraft und den fehlenden Wirklichkeitsbezug von Fantasy lamentieren konnte.

    Übrigens (deinen Hinweis auf Wilsons Vorliebe für Poe betreffend) scheint es mir ein nicht seltenes Phänomen zu sein, dass ausreichend gealterte und mit literaturgeschichtlichen Weihen versehene Phantastik von Kritiker_innen ausdrücklich gewürdigt wird, um gegenwärtige Phantastik/Fantasy nur um so heftiger abzulehnen. Auch hier muss ich wieder an Härtling denken, der sich intensiv mit der Literatur der Romantik befasst und Wolf von Niebelschütz lobt, aber in aktueller Fantasy für Kinder und Jugendliche reichlich pauschal »ein Angebot, der Realität zu entfliehen« sieht.

    P.S.: Sorry für den Doppelkommentar. Ich habe mich wohl nicht kurz fassen können und das Kommentarformular damit überfordert.

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  3. Hallo Anubis!

    Vielen Dank erst einmal für Deinen ausführlichen Kommentar.

    Du hast natürlich völlig recht, wenn Du erklärst, dass in Deinem Post der Realismusbegriff Wilsons keineswegs in die Nähe unserer Grimdark-Freunde gerückt wird, wie ich fälschlicherweise behauptet habe. Der Eindruck war bei mir vermutlich deshalb entstanden, weil in den Kommentaren sowohl über das eine wie über das andere geredet wird – quasi unter dem Überbegriff ‘Tolkienkritik’.

    Mein Post war nicht in erster Linie als Kritik an Dir gedacht. Das hätte ich vielleicht etwas deutlicher herausarbeiten müssen. Dein Post diente mir hauptsächlich als Anlass dafür, die meiner Meinung nach sehr unfaire Behandlung, die Wilson in Fantasykreisen oft erfährt (ich denke da z.B. an den guten Frank Weinreich), zu thematisieren und ihr die tatsächlichen Leistungen dieses Kritikers und Essayisten entgegenzustellen.

    Allerdings hat Dein Post bei mir schon den Eindruck hinterlassen, als sei es Dir darum gegangen, ein möglichst negatives Bild von Wilson zu zeichnen. Wozu sonst sollte z.B. die Bemerkung über sein unmögliches Macho-Gehabe gegenüber Anaïs Nin dienen?

    In der Frage von Realismus und Phantastik sind wir denke ich einer Meinung.

    Auch mir ist selbstverständlich bewusst, dass es sehr viele Kritiker gibt, die die Phantastik in Bausch und Bogen als infantile Weltflucht verdammen und sich dabei wunder wie progressiv vorkommen. (Was Härtling angeht, muss ich mich in dieser Hinsicht allerdings als Unwissender outen). Ihre entsprechenden Ergüsse zeichnen sich in den meisten Fällen durch eine wenig anziehende Mischung aus Überheblichkeit und Ignoranz aus. Und der wirkliche Witz dabei ist ja vor allem, dass die meisten dieser ‘linksliberalen’ Intellektuellen selbst nicht mehr an die gesellschaftliche Relevanz von Kunst glauben, was ihrer Argumentation von vornherein den Boden entzieht.

    Was mich allerdings beinahe ebensosehr aufregt ist ein Trend, den ich bei nicht wenigen Freunden & Freundinnen der Phantastik zu erkennen glaube. Sie ärgern sich völlig zurecht über die herablassende Behandlung, die ihr geliebtes Genre durch die ‘offizielle’ Literaturkritik erfährt. Doch in Reaktion darauf verwerfen sie nun alles, wofür diese Feuilleton-Snobs zu stehen scheinen (die ‘hohe Literatur’ usw.) als langweilig und elitär. Sie igeln sich im Ghetto ihres Lieblingsgenres ein. Sollen doch die anderen Thomas Mann lesen. Ich finde diese Haltung sehr bedauerlich. Zum einen, weil es zwar eine Unmasse großartiger phantastischer Bücher gibt, die Welt der Literatur aber so unendlich vielgestaltiger ist. Zum anderen, weil ich den Eindruck nicht loswerde, dass das im Grunde Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes ist. Sie wünschen sich, dass ‘ihr’ Genre von den offiziellen Autoritäten der Literaturwelt als gleichwertig anerkannt wird. Warum? Unsere aktuelle Feuilletonistenriege ist nicht dergestalt, dass man um ihre Anerkennung buhlen müsste.

    Besonders schlimm aber finde ich es, wenn Fans sich hinstellen und die Phantastik ganz offensiv als eine Form der Weltflucht verteidigen. ‘Molo’ hat da ja vor einiger Zeit im Zusammenhang mit Michael Szameits SF-Kritik und der von ihr ausgelösten Reaktion ähnliche Gedanken geäußert.
    --> http://molochronik.antville.org/stories/2118702/
    (Wenn ich doch bloß diese Links hinkriegen würde!)

    Na ja, ich werde zu diesem Themenkomplex wohl noch einmal einen etwas längeren und besser durchdachten Post schreiben müssen.


    PS: Was die Beurteilung von Günther Grass betrifft, werden wir uns wohl kaum einigen können, aber auf eine letztlich fruchtlose und eher unangenehme gegenseitige Polemik habe ich jetzt echt keine Lust.

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