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Donnerstag, 19. April 2012

Die Geister der Klassengesellschaft

Gibt es eigentlich irgendeine kulturelle oder historische Erklärung dafür, dass gerade die Briten die Großmeister der traditionellen Spukgeschichte sind? Und das nicht nur auf literarischem Gebiet – Sheridan Le Fanu, Algernon Blackwood, Arthur Machen, Montague Rhodes James –, sondern auch in Fernsehadaptionen?
Ich will gar nicht erst versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu finden, sondern stattdessen lieber vier Beispiele für dieses eigentümliche Phänomen vorstellen, von denen wenigstens drei wirklich atemberaubend sind.

(1) Whistle And I’ll Come To You (1968)
(2) The Exorcism (1972)
(3) The Stone Tape (1972)
(4) The Crooked House (2008)

Es handelt sich dabei sämtlichst um Produktionen der BBC.

(1) Die Tradition des britischen Fernsehsenders, um Weihnachten herum Verfilmungen von Spukgeschichten auszustrahlen, besitzt ihren Ursprung in Jonathan Millers Adaption von MR James’ Kurzgeschichte Oh, Whistle And I’ll Come To You, My Lad, die 1968 witzigerweise nicht zur Julzeit, sondern im grünen Mai auf die Bildschirme gelangte. Noch kurioser erscheint der Umstand, dass sie im Rahmen von Omnibus – einer Reihe von Kunstdokumentationen – ausgestrahlt wurde. Aber der prominente Theaterregisseur Miller wollte sie nicht nur als eine Literaturverfilmung, sondern auch als eine Kritik an James verstanden wissen, in dem er den typischen snobistischen Oxbridge-Don sah. Ob dieses Urteil gerecht und seine Interpretation der literarischen Vorlage angemessen ist, sei dahingestellt. Für sich genommen ist der 42minütige Film jedoch ganz sicher eine der Sternstunden des psychologischen Horrors. Michael Hordern* spielt Professor James Parkin, der während eines Urlaubs an der Küste eine alte Flöte mit der Inschrift "Quis est iste qui venit" (‘Wer ist das, der kommt?’) findet und damit das Grauen herbeiruft, als eine zugleich unangenehme und bemitleidenswerte Gestalt. Der ständig vor sich hin murmelnde und summende Parker ist nicht der Typ des sympathischen ‘zerstreuten Gelehrten’. Er wirkt vielmehr arrogant, unfähig, echte menschliche Beziehungen einzugehen, und auf beunruhigende Weise infantil. Der Film legt es nahe, das Phantom als Ausdruck der verdrängten und unterdrückten Teile seiner Psyche und nicht als ein übernatürliches Wesen zu verstehen. Das macht die Ereignisse jedoch nicht weniger unheimlich. Parkers panische Angst vor dem, was er geweckt hat, seine Verzweifelung und sein finaler Zusammenbruch sind verstörend genug. Hinzu kommt die brillante Kameraführung, die sowohl Horderns großartiges Spiel als auch die Atmosphäre der Verlorenheit, die von der menschenleeren Küstenlandschaft Norfolks ausgeht, aufs intensivste zur Geltung bringt. Aus gutem Grund gilt Millers Film als echter Klassiker.

1972 war ein ausgesprochen gutes Jahr für britische Horrorfreunde. Neben der zweiten offiziellen Ghost Story for Christmas (der MR James - Adaption A Warning To The Curious) präsentierte die BBC ihrem Publikum noch mindestens zwei weitere Spukgeschichten von außergewöhnlicher Qualität.

(2) Don Taylors The Exorcism bildete den ersten Teil der kurzlebigen Serie Dead of Night und wird von vielen Liebhabern des Unheimlichen bis heute als "one of the most frightening pieces of TV drama ever shown" gefeiert. Hypnogorias eloquenter Mr. Jim Moon fügt leicht ironisch hinzu: "It may be one of the only Marxist ghost stories ever produced."
Der Inhalt ist schnell erzählt. Zwei befreundete Ehepaare – Edmund & Rachel, Dan & Margaret – wollen in einem frisch renovierten Cottage den Weihnachtsabend verbringen. Der Film beginnt damit, dass Edmund seinen Kumpel Dan herumführt, ihm stolz den ganzen Chic und Schnickschack zeigt, den er hat einbauen lassen, und dabei selbstzufrieden anmerkt, er habe das alte Bauernhaus quasi für ‘n Appel und ‘n Ei erworben. Nein, unsere Protagonisten sind keine sonderlich sympathischen Zeitgenossen. Sie sind typische Vertreter der aufsteigenden, akademisch gebildeten, ‘linken’ Mittelklasse der 70er Jahre, die sich selbst für wunder wie clever und aufgeklärt halten, in Worten immer noch mit dem’Sozialismus’ kokettieren, in der Praxis aber nur ein Ziel kennen – alle Annehmlichkeiten des Kapitalismus in vollen Zügen zu genießen. Edmund arbeitet in der Werbebranche, Dan schreibt ‘sozialkritische’ Artikelchen, die sich ausgezeichnet verkaufen, ihre Ehefrauen sind Ehefrauen. Ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse ist für sie bloß ein Argument mehr, den kleinbürgerlichen Lebensstil rückhaltlos zu umarmen. Sollte es nicht endlich an der Zeit sein, dass auch sie – die ‘Linken’ – die guten Seiten des Lebens auskosten dürfen, auch wenn die Generation der Väter sie dafür als halbe Verräter verurteilt? Ein wenig erinnern die vier an die Figuren aus Maxim Gorkis Sommergäste. Der soziale Typus des ehemals progressiven Intellektuellen, der sich mit dem Establishment aussöhnt und zu einem besonders raffgierigen Kleinbürger mutiert, hat sich über die Jahrzehnte nicht wirklich verändert. Unglücklicherweise (?) beherbergt das Cottage aber auch den Geist einer lang verstorbenen Pächterin, die ein grausames Exempel an den Schnöseln zu statuieren gedenkt.
Was die Größe von The Exorcism ausmacht ist, neben der für BBC-Produktionen dieser Zeit scheinbar fast selbstverständlichen Qualität der schauspielerischen Leistungen, der nahezu perfekte Spannungsaufbau. Von der unheimlichen Melodie, die Rachel plötzlich in den Sinn kommt, über den Rotwein, der sich in Blut verwandelt, bis hin zu der mumifizierten Kinderleiche, die auf einem der Betten auftaucht, wird mit großartigem Timing Schritt für Schritt eine unheimliche und zunehmend klaustrophobische Atmosphäre aufgebaut. Im letzten Viertel des Filmes bläut uns Taylor die politisch-moralische Botschaft dann freilich mit dem Holzhammer ein, was zu einem bedauerlichen Abfall der ansonsten superben Qualität führt. Bewunderungswürdig bleibt die schiere Kompromisslosigkeit der Erzählung. Hier wird niemand geläutert, sondern hier wird unbarmherzig Rache genommen. Der unverhüllte Ausdruck von Klassenhass, noch ungetrübt durch die bald darauf in Mode kommende ‘Ironie’, erscheint im Rückblick geradezu erfrischend.

(3) Mit dem abendfüllenden Film The Stone Tape konnten die englischen Fernsehzuschauer im selben Jahr 1972 einmal mehr das Talent von Nigel Kneale bewundern. In der britischen TV-Phantastik des letzten Jahrhunderts ist der Drehbuchautor Kneale eine der zentralen Figuren. Aus seiner Feder stammte nicht nur die Figur des Dr. Quatermass, auf ihn geht auch die erste Filmadaption von George Orwells Nineteen Eighty-Four aus dem Jahre 1954 zurück. Außerdem schuf er u.a. den (leider etwas in Vergessenheit geratenenen) dystopischen Klassiker The Year of the Sex Olympics (1968), die Serie Beasts und die Susan Hill - Adaption The Woman in Black (1989). Und verlässt man die Sphäre des Phantastischen, so gebührt ihm zudem die Ehre, die Fernsehversion von John Osbornes Look Back in Anger geschaffen zu haben. Dass er keine Lust hatte, ein Drehbuch auf der Grundlage von Ian Flemings James Bond - Dreck zu schreiben, macht ihn in meinen Augen nur sympathischer.
Die Story von The Stone Tape klingt wie ein typischer SciFi-Horror-Schlock aus der guten alten Zeit. Eine Gruppe von Wissenschaftlern quartiert sich in einem englischen Schloss ein und muss schon bald bemerken, dass es dort spukt. Sie interpretiert das Phänomen als eine Form von ‘Aufnahme’, und da ihre Mission darin besteht, für eine Elektronikfirma ein neues Medium zu entwickeln und damit die Japaner aus dem Feld zu schlagen, versuchen sie, die Erscheinung ‘wissenschaftlich’ zu untersuchen. Das hat vor allem für die Computerspezialistin Jill katastrophale Folgen. Eine von Nigel Kneales Stärken bestand darin, solchen Genreklischees einen intelligenten Dreh zu verleihen. Und so fragt man sich schon sehr bald, was oder wer hier eigentlich gruseliger ist, das Phantom im Keller oder Peter, der Leiter des Projektes. Dieser erweist sich als ein skrupelloser Egoist. Alles hat sich dem Erfolg des Unternehmens (und damit seiner eigenen Karriere) unterzuordnen. Mitarbeiter werden wie Lakaien behandelt. ‘Versager’ verdienen nichts als Verachtung. Er steigt mit seiner Sekretärin ins Bett und führt trotzdem regelmäßig widerlich süßliche Telefonate mit seiner Ehefrau. Am Ende macht er die ‘verrückte’ Jill für ihren eigenen Tod verantwortlich und lässt die Ergebnisse ihrer Arbeit vernichten.

Was die drei Filme miteinander verbindet ist große Schauspielkunst, ein intelligentes Drehbuch und ein scharfer Blick für gesellschaftliche Zusammenhänge.

(4) Die dreiteilige Miniserie The Crooked House aus dem Jahr 2008 beweist, dass diese Tradition jenseits des Kanals noch nicht vollkommen ausgestorben ist. Kreatives Hirn des Projektes war Mark Gatiss, bekannt von Dr. Who und Sherlock. Das Ganze ist als Episodenfilm angelegt, was an alte Amicus-Streifen wie Dr. Terror’s House of Horror (Die Todeskarten des Dr. Schreck) oder Tales from the Crypt erinnert.
Der neu hinzugezogene Lehrer Ben hat einen alten Türklopfer im Garten seines Hauses gefunden und bringt ihn zum Kurator des örtlichen Museums. Dieser erzählt ihm, der Klopfer habe zur Eingangstür von Geep Manor gehört, einem kürzlich abgerissenen Gebäude aus der Tudor-Ära, dem der Ruf des Unheimlichen anhing. Die ersten beiden Folgen beschäftigen sich mit Episoden aus der Geschichte des Hauses, die der leicht diabolisch wirkende Kurator dem neugierig gewordenen Ben erzählt. Die dritte führt die Rahmenerzählung fort, und wir erfahren, was geschieht, als Ben den Klopfer an seiner eigenen Haustür anbringt (nichts gutes, versteht sich). Die Komposition wirkt etwas unausgewogen, zumal die dritte Story die schwächste ist. Mir persönlich hat die erste Episode am besten gefallen.
Im ausgehenden 18. Jahrhundert erwirbt der reiche Spekulant Joseph Bloxham Geep Manor und lässt es renovieren. Bald schon treiben nächtliche Geräusche und auf unerklärliche Weise auftauchende Blutflecken den Mann an den Rand des Wahnsinns. Könnte es etwas damit zu tun haben, dass der ebenso geschäftstüchtige Zimmermann die Überreste eines Galgens für die neue Holzvertäfelung verwendet hat?
Was diese Episode für mich heraushebt ist, dass Gatiss hier eine Verbindung zwischen den gesellschaftlichen Realitäten und dem übernatürlichen Grauen herstellt, wie wir dies auch bei den Klassikern der 60er/70er Jahre gesehen haben. Bloxham ist ein Vertreter des reich gewordenen Bürgertums. Er versteht sich selbst als moderner, der Vernunft verbundener Mensch, als ein Kind der Aufklärung. Gleichzeitig legt er die ganze Skrupellosigkeit und heuchlerische Selbstgerechtigkeit des erfolgreichen Bourgeois an den Tag. Die windigen Spekulationen, die ihm seinen Reichtum eingebracht haben, betrachtet er als Beweis für seine Intelligenz und Geschäftstüchtigkeit. Dass sein ehemaliger Geschäftspartner durch dieselben ruiniert wurde, belastet sein Gewissen nicht sonderlich. Zumindest versucht er sich diesen Anschein zu geben. Als der im Schuldgefängnis gelandete Selbstmord begeht, ist das für Bloxham bloß ein Beweis moralischer Schwäche. Ein richtiger Mann hätte sich aufgerappelt und wieder hochgearbeitet! Parallel zu Bloxhams psychischem Zerfall aufgrund der Spukerscheinungen in Geep Manor bekommen wir den ökonomischen Zerfall der Familie des von ihm ruinierten und in den Selbstmord getriebenen Mannes zu sehen. Und auch das Motiv des Galgens fügt sich gut in diesen Kontext ein. Zu jener Zeit wurden in Großbritannien bereits Bagatelldelikte mit dem Tode bestraft. Der Galgen kann darum sehr wohl als ein Symbol für die grausame Herrschaft der Reichen über die Armen verstanden werden.
Ob es bloß ein Zufall ist, dass dieses gesellschaftliche Motiv immer mehr verschwindet, je näher die Episoden der Gegenwart kommen? Die handelnden Personen erscheinen immer weniger als Teil eines sozialen Kosmos, sondern als isolierte Individuen. Die zweite Episode etwa präsentiert uns zwar ein buntes Bild der 20er Jahre, aber die Ereignisse könnten beinah in jeder beliebigen Epoche spielen. In der dritten Folge schließlich ist alles aufs Persönliche reduziert. Das Umfeld ist zur bloßen Kulisse geworden.
Es fällt Künstlern heute offenbar sehr viel leichter, die Klassengesellschaft einer vergangenen Epoche darzustellen, als sich mit der Klassengesellschaft auseinanderzusetzen, in der sie selbst leben.

* Info für Fantasyfans: Hordern verlieh seine Stimme nicht nur dem Kaninchengott Frith in Martin Rosens Watership Down (1978), sondern auch Gandalf und Merlin in den BBC-Hörspielfassungen von Lord of the Rings (1981) und T. H. Whites The Sword in the Stone (1982).

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