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Samstag, 31. März 2012

Auf nach Craggen Rock!

Bereits vor einiger Zeit habe ich auf FerretBrain Arthur B.'s Berichte über seine Wiederbegegnung 
mit den Fighting Fantasy - Büchern von Steve Jackson und Ian Livingstone gelesen, und jetzt fängt auch noch Saladin Ahmed an, bei SF Squeecast über diese Freuden seiner Kindheit zu schwärmen, und tauscht sich in diesem Zusammenhang mit Paul Cornell über die Eigenheiten der britischen Fantasy der 80er Jahre aus.

Der Wunsch, selbst einmal wieder die FantasyAbenteuerSpielBücher (so hießen sie hierzulande) hervorzukramen und mich auf eine nostalgische Reise in die Vergangenheit zu begeben, wurde immer stärker. Ich besaß und spielte zwar nur die ersten beiden Bände der Serie Der Hexenmeister vom Flammenden Berg [The Warlock of Firetop Mountain] & Die Zitadelle des Zauberers [The Citadel of Chaos], aber wenn ich so zurückdenke, dann hat Die Zitadelle bei mir einen ähnlich bleibenden Eindruck hinterlassen wie die aus heutiger Sicht frühen DSA-Soloabenteuer Das Geheimnis der Zyklopen und Die Sümpfe des Lebens. Und das will eine ganze Menge heißen, denn ich stand wie Saladin damals vor dem Problem, dass ich Fantasyrollenspiele zwar einfach toll fand, jedoch selten genug gleichgesinnte Freunde besaß, um sie auch wirklich spielen zu können. Soloabenteuer besaßen für mich deshalb eine sehr viel größere Bedeutung als wohl für die meisten frühen Rollenspieler, und für einige Jahre schrieben mein bester Freund und ich regelmäßig selbst Solos, die im Grunde nur für den jeweils anderen bestimmt waren, was wirklich ein Riesenspaß war.

Steve Jackson und Ian Livingstone waren keine Pioniere im eigentlichen Sinn. Als sie 1980/81 The Warlock of Firetop Mountain schrieben, existierten bereits eine Reihe von Soloabenteuern für das Pen & Paper - Rollenspiel Tunnels & Trolls. Und im selben Jahr 1984, in dem die Zitadelle des Zauberers in Deutschland erschien, brachte auch DSA sein erster Solo auf den Markt – die auf ihre Weise wohl inzwischen legendäre Nedime von Ulrich Kiesow (der nebenbei bemerkt für die Übersetzung von Tunnels & Trolls als Schwerter & Dämonen verantwortlich gewesen war). Aber der Erfolg der Fighting Fantasy - Bücher in den 80er Jahren war ohne Zweifel einmalig und zog das Erscheinen anderer Fantasy-Spielbücher nach sich, von denen die bekanntesten hierzulande wohl jene um den Einsamen Wolf waren.*

Wenn ich heute wieder von den Fighting Fantasy - Büchern höre, besteht die Faszination für mich nicht nur in dem damit verbundene Zeitsprung, sondern auch in den verlockenden Andeutungen über eine spezifisch britische Fantasy, die hier angeblich eine ihrer frühen Verkörperungen in der Welt der Spiele gefunden haben soll. Tatsächlich gründeten Jackson und Livingstone ja Games Workshop, aus dessen Ideenschmiede u.a. Warhammer in all seinen Variationen hervorgegangen ist. Sollte ich etwas davon spüren können, wenn ich mich noch einmal in die Festung des bösen Halbzauberers Balthus Dire begeben würde? Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden. Ich schnappte mir Würfel, Stift und Papier, verwandelte mich in den "Meisterschüler des Großen Zauberers von Yore" und machte mich auf zur Zitadelle von Craggen Rock (wobei ich versuchte, nicht an ‘Fraggle Rock’ zu denken), um das nichtswürdige Leben des Tyrannen zu beenden, bevor dessen monströse Horden über das friedliche Tal der Weiden herfallen können.

Der Spielspaß stellte sich sofort wieder ein, aber ebenso schnell wurde mir klar, dass es unmöglich ist, die Vergangenheit wiederzubeleben. Die Intensität des Erlebnisses, das Heraustreten aus dem Alltag und das Eintauchen in eine lebendige phantastistische Welt, lässt sich nicht zurückholen. Das Vergnügen ist ein distanzierteres, ironisches geworden. Die Ganjees z.B. sind zwar immer noch mörderische Bastarde, aber eine unheimliche Atmosphäre können die herumflatternden Fratzen nicht mehr heraufbeschwören. Dafür konnte ich mich dieses Mal erst so richtig an der Skurrilität der Kreaturen delektieren, die einem auf der Killermission nach Craggen Rock begegnen. Und in diesem Charakteristikum dürfte wohl auch das besonders Britische des Buches zu sehen sein.

Schon die beiden Torwächter, die mir eins ums andere Mal in Abschnitt 1 entgegentraten, erinnerten mich an irgendwelche Monster aus Michael Moorcocks Elric- oder Corum-Stories: "Als du dich näherst hörst du ein dumpfes Grunzen und erkennst zwei mißgestaltete Kreaturen, die dich aufmerksam betrachten. Zur Linken steht eine abstoßende Bestie, auf deren Gorillakörper ein Wolfskopf sitzt, und deren mächtige Arme fast bis auf den Boden reichen. Der Wächter auf der anderen Seite ist in jeder Beziehung sein Gegenstück: er hat Gesicht und Kopf eines Affen und den Körper eines gewaltigen Hundes. Auf allen Vieren kommt er auf dich zu. Ein paar Meter vor dir bleibt er stehen, erhebt sich auf die Hinterbeine und spricht dich an."
Und das ist ja nur der Anfang. Im Verlauf meines Abenteuers begegneten mir u.a. ein Rhinozeros-Mensch, eine Spinne mit dem Gesicht eines alten Mannes, ein doppelköpfiger Echsenmensch mit einem Hang zu Selbstgesprächen, eine Gruppe von Monsterkindern, die mit Monsterpuppen spielen, eine in einem kleinen Wirbelwind herumsausende, übelgelaunte Geisterlady und die grotesken Rundlinge: "Das Fußgetrappel, das du gehört hast – eigentlich müßte man es als 'Handgetrappel' bezeichnen –, gehört zu drei Rundlingen, die den Gang entlang auf dich zurollen und dich zur Tür zurückdrängen. Es sind recht sonderbare Wesen, die an ihren scheibenförmigen Körpern anstelle der Beine zwei weitere Hände haben. Sie bewegen sich radschlagend mit ganz erstaunlicher Geschwindigkeit vorwärts. Ihre Köpfe – oder zumindest die Gesichter – sitzen mitten auf der Brust."
Auch würde wohl nur ein britischer Dark Lord einen Butler besitzen!
Ein bisschen geärgert hat mich allerdings, dass ich gezwungen war, einen Kobold zu ermorden, der kurz zuvor noch mit seiner Freundin am Lagerfeuer „rumgeknuddelt" hatte. Ich weiß, ich weiß, ich bin halt schrecklich weichherzig ...
Jedenfalls heißt diese Festung aus gutem Grund im Original ‘Zitadelle des Chaos’. In der Bibliothek lese ich über ihre Geschichte: „[D]er Schwarze Turm wurde von Balthus Dires Großvater erbaut. Als er im Laufe der Zeit zur Zufluchtsstätte für dunkle und böse Mächte wurde und sich die verschiedenen Monster immer höhere Machtpositionen erkämpften, mußten Gesetz und Ordnung allmählich dem Chaos weichen. So blieb Dires Großvater schließlich nichts anderes übrig, als sich vor seiner speichelleckerischen Dienerschaft dadurch zu schützen, daß er zwischen ihnen und seiner eigenen Behausung Hindernisse und Fallen einbaute." Genauso wirkt die Zitadelle auf mich – ein Tummelplatz für alle möglichen grotesken Gestalten, die nichts miteinander verbindet außer ihrer Bösartigkeit. Und auch wenn das nicht so ganz zu der Idee von Balthus Dire als dem Oberkommandierenden einer disziplinierten Armee passen will, die unmittelbar vor ihrem Abmarsch ins Tal der Weiden steht, macht es doch den besonderen Reiz von Craggen Rock aus. Dieser Schwarze Turm ist nicht Barad-dûr, sondern etwas sehr viel verrückteres.

Arthur B. macht die interessante Anmerkung, dass die Fighting Fantasy - Bücher in gewisser Hinsicht bereits zum Zeitpunkt ihres Erscheinens etwas anachronistisches an sich hatten:
"[C]oming as they did from the gaming scene, Jackson and Livingstone must have been aware of the growing tendency towards complex systems and detailed plots and stories in RPG circles (in 1982 Rolemaster, with its masses of tables, was the hot new entry on the scene, and TSR was starting the development of Dragonlance, a series of products which would emphasise linear storytelling in Dungeons & Dragons like never before), and yet they appear to have deliberately chosen to make a product that harks back to the simpler days of the mid-1970s."
Tatsächlich sind zumindest den frühen Bänden der Serie die epischen Handlungsbögen und ausufernden Weltentwürfe fremd, die sich parallel zum Siegeszug der fetten, tolkienesken Fantasy in den 80er Jahren auch im Rollenspiel durchzusetzen begannen. Sie knüpfen eher an das Dungeoncrawling und den Sword & Sorcery - Touch der frühen Tage von D&D an. Auf mich wirkt diese Schlichtheit allerdings recht charmant, vor allem, wenn ich mir anschaue wohin die 'epische' Entwicklung bei einem Spiel wie DSA geführt hat, das heute auf mich den Eindruck eines esoterischen Monstrums macht.

Das bedeutet nicht, dass mein Spielspaß ungetrübt gewesen wäre. Der chaotische Charakter der Zitadelle macht sich leider auch in der Spielführung bemerkbar. Die Handlung ist einerseits extrem geradlinig angelegt und zugleich äußerst willkürlich. Eher früher als später landet man in einer Art Speisesaal, und von da an ist eigentlich schon alles gelaufen. Wenn man zu diesem Zeitpunkt nicht alle notwendigen Artefakte gesammelt hat, die man zur Überwindung der nun unausweichlich auftretenden Monster braucht, kann man gleich einpacken. Bevor man überhaupt die Zitadelle betreten hat, kann man sich bereits mit einer einzigen falschen Entscheidung auf dem Burghof jede Chance auf Erfolg verbaut haben! Die Verknüpfung zwischen den Ungeheuern und den benötigten Gegenständen ist zudem völlig undurchschaubar. Die Ganjees sind offenbar körperlose Kreaturen – wie zum Henker soll ich wissen, dass sie eine Vorliebe für Heilsalben haben?! Und warum besänftigt ein goldenes Vlies eine Hydra? Weil beide aus der griechischen Mythologie stammen?!

Auch wenn dies spätestens beim vierten Durchgang massive Frustration bei mir hervorgerufen hat, habe ich zugleich doch etwas dabei gelernt. Ziel eines Spielbuchs/Soloabenteuers muss es nicht notwendigerweise sein, eine Geschichte zu erzählen. Wenn der Spieler sich wirklich mit der von ihm geführten Figur identifiziert ist das eher unklug, denn Sterben ist zuerst einmal unausweichlich und darum auch weiter nicht schlimm. Der Reiz des Ganzen besteht darin, in mehreren Anläufen nach und nach herauszufinden, welche Entscheidungen man wie fällen und welche Artefakte man wo sammeln muss. Es geht eher darum, eine Art Rätsel zu lösen, als eine Geschichte erzählt zu bekommen. Freilich wäre es angenehm, wenn dieses Rätsel nicht gar so chaotisch wäre, wie in der Zitadelle.

Ob ich jemandem, den keinerlei nostalgische Bande an die frühen Fighting Fantasy - Bücher binden, die Zitadelle des Zauberers empfehlen würde, weiß ich darum nicht so recht. Aber gibt es jenseits der Nostalgiker und Nostalgikerinnen überhaupt ein Publikum für Spielbücher? Wie mir Wikipedia mitteilt, gibt es seit 2005 eine auf Markus Heitz' Bestsellern basierende Reihe, doch wie gut sie sich verkauft, geht aus dem Artikel nicht hervor. Die Tatsache, dass sie bereits sechs Bände hervorgebracht hat, sagt mir allerdings, dass offenbar auch in unserer Ära der Videospiele der Reiz des Blätterns und Würfelns noch nicht ganz verschwunden zu sein scheint.

* Ein Hinweis für alle, die noch einmal in die Rolle des letzten Kai-Lords schlüpfen wollen: Die meisten Einsamer Wolf - Bücher sind in englischer Sprache als kostenlose Downloads über das Project Aon erhältlich.

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