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Montag, 13. Februar 2012

Teutonen-Steampunk (I)

(Anmerkungen eines Ignoranten)


Es ist nun bald ein Jahr her, da las ich folgende Ausschreibung auf der Website des Verlags p.machinery:

STORY CENTER 2011 wird sich immer noch um »Steampunk« drehen, aber diesmal gibt es einen Plotbackground. Der sieht aus wie folgt:
»Europa, irgendein Jahrhundert, irgendein Jahr. Das technologische Setting ist Steampunk (Dieselpunk und andere Steampunk-Abarten sind allerdings auch erlaubt!). Der Vatikan ist die letzte kulturelle Hochburg Europas, das letzte Bollwerk von Demokratie, Menschenrechten und funktionierendem Gemeinwesen, umgeben von Dekadenz, Verfall, Verbrechen und Sünde. Irgendwo auf der Welt mag es noch Enklaven geben, die dem entsprechen, was der Vatikan in Europa repräsentiert – aber von ihnen erfährt man nur auf Umwegen, nur in Form vager Informationen und Nachrichten, fast ausnahmslos in Form von Gerüchten.«
Das könnte man als einleitende Sätze zum Plot verwenden, vielleicht wird es auch der Klappentext – das hängt von dem ab, was die Autoren aus dem Stoff machen. Der Vatikan ist in diesem Hintergrundplot nicht ausschließlich und zwangsläufig der Sitz des Oberhaupts der katholischen Kirche; es sind Geschichten denkbar, in denen der Papst als Institution so nicht mehr existiert. Aber der Vatikan, der sich gegenüber dem, was wir heute kennen, verändert darstellt, ist eben das, was er wohl in der wirklichen Welt auch immer sein wollte: das Zentrum der Menschheit, der Menschlichkeit, des Menschseins. Und der Vatikan ist das, was an europäischer Kultur noch übrig ist.
»Und dann geschieht ein Verbrechen …«

Zuerst hielt ich das Ganze für einen Witz. Das konnte doch unmöglich ernst gemeint sein, oder?! Aber leider war nirgends das Wörtchen Satire zu entdecken.
Bis heute ist es mir unmöglich, mich in die Gedankengänge hineinzuversetzen, die diesem Szenariumsentwurf zugrunde gelegen haben müssen. Wie soll ich mir ausgerechnet den Vatikan, die einzige noch existierende absolutistische Monarchie auf europäischem Boden, als ‘letztes Bollwerk von Demokratie & Menschenrechten’ vorstellen? Ich weiß, wir reden hier von phantastischer Literatur, aber das ist mir denn doch etwas zu fantastisch. Gezwungen, den Inhalt dieser Ausschreibung ernstzunehmen, frage ich mich, welche Weltsicht sich hinter einer solchen Idee wohl verbergen mag. Bei genauerem Nachdenken möchte ich das vielleicht aber doch gar nicht so genau wissen, zumal bei p.machinery auch Ben Rykers Reihe C.T.O. erscheint, die von den Abenteuern eines Antiterror-Agenten erzählt. (Schauder!) Dennoch spiele ich ernsthaft mit dem Gedanken, mir Story Center 11 zu besorgen, sobald es erschienen ist. Ich hab halt so meine perversen Neigungen, und neugierig bin ich ja schon, was man aus einer derartigen Vorgabe machen kann.



I

Was Steampunk angeht bin ich ein ziemlicher Ignorant, und alles, was ich im folgenden von mir geben werde, ist demnach von einer Position weit weit außerhalb der Community geschrieben. Über offensichtliche Fehleinschätzungen lasse ich mich gerne aufklären.
So weit ich es beurteilen kann, scheint Steampunk (als Literatur – alle anderen Erscheinungsformen sollen im Moment nicht interessieren) ein zweischneidiges Schwert zu sein. Das Subgenre könnte ganz ausgezeichnet der kritischen Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der modernen Science Fiction (Jules Verne, H.G. Wells) und deren Beziehung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts dienen – ungefähr so, wie dies Michael Moorcock in The Warlord of the Air getan hat (lange bevor es das Wort Steampunk überhaupt gab). Oder es könnten Parallelen zwischen dem viktorianischen Zeitalter und der Gegenwart gezogen werden, wie sie Brendan Byrne in K.W. Jeters Subgenre-Klassiker Infernal Devices zu erkennen glaubt:Jeter, along with Powers and Blaylock, were all Americans, writing stories of rampant gadget obsession in the decline of a great, vicious empire. Victorian England, reimagined by Jeter, is nothing more than twentieth century America. What we see in Infernal Devices is not just the presager of what steampunk is, but what it could have been, a marvelously self-aware and inventive attack on the obsessions and degradations of the present."
Wenn Jeff VanderMeer eine Steampunk Bible herausgegeben hat, muss schließlich irgendwas dran seín an dem Subgenre. Und tatsächlich ist der Steampunk im englischsprachigen Raum inzwischen eine sehr vielgestaltige Strömung. Sie reicht von Cherie Priests Clockwork Century - Abenteuer-geschichten bis zu JoSelle Vanderhoofts Anthologien SteamPowered: Lesbian Steampunk Stories, die  Kurzgeschichten von so wunderbaren Autorinnen wie Amal El-Mohtar, Shweta Narayan, C.S.E. Cooney und Nisi Shawl enthalten.
Aber leider scheint der Steampunk nach wie vor eben doch sehr oft in jener nostalgischen Verklärung des Viktorianismus zu verharren, die Charles Stross in seinem Essay The Hard Edge of Empire so scharf kritisiert hat. (1) Und ich fürchte, auf die deutsche Community trifft dies in besonders hohem Maße zu.

Deutscher Steampunk würde ein gewaltiges Potential besitzen, wenn er denn mehr sein will als bloß Steampunk in deutscher Sprache. Statt mit der Zeit Queen Victorias hätte er sich mit der Wilhelms II. zu beschäftigen. Als Ergebnis würde ich mir im Idealfall eine Mischung aus Heinrich Manns Der Untertan und Vernes Die 500 Millionen der Begum vorstellen. Oder wie wäre es, wenn die Linie gezogen würde vom völkermörderischen Herero-Feldzug und der ‘Hunnen’-Rede des Kaisers zum ‘humanitären’ Bundeswehreinsatz in Afghanistan? Graf Zeppelin über dem Hindukusch? (2) Ich würde so was mit Vergnügen lesen, wenn’s denn intelligent gemacht und gut geschrieben wäre. Sehr schön fände ich es z.B., wenn dabei die Klischees der damaligen Kolonialliteratur – à la Gustav Frenssens Peter Moors Fahrt nach Südwest (3)  – mit der aktuellen Antiterror- und ‘Menschenrechts’-Rhetorik (dieser Neuauflage von Kiplings ‘white man’s burden') vermischt würden. Und natürlich gäbe es auch die eher positiven Seiten jener Zeit, mit denen man sich auseinandersetzen könnte: Die Sozialdemokratie in ihrer revolutionären Phase – Bebel, Kautsky, Clara Zetkin. Dieses Erbe für die heutige Zeit fruchtbar zu machen, wäre außerordentlich wünschenswert. Naturgemäß könnte willhelminischer Steampunk nie so ‘charmant’ sein wie sein viktorianisches Vorbild. Pickelhauben und preußische Militärmärsche sind halt nicht cool (und es wäre schon sehr unheimlich, wenn das jemand anders empfinden sollte) (4). Aber das könnte auch ein Vorteil sein.

Wenn ich freilich lese, was Alex Jahnke / ‘Serenus Zeitbloom’ (5) – der Mann hinter Clockworker – unter Steampunk versteht, klingt das weniger erbaulich:

Steampunk ist das wohlerzogene Kind, das gegen seine punkigen Eltern mit Bildung, Benehmen und Kunst rebelliert. In einer Zeit, in der der Individualismus das höchste Gut ist, setzt Steampunk klassische Werte, Visionen in Kombination mit wilder Rebellion dagegen. Geboren aus einer literarischen Idee, vergessen und durch den Erfindergeist von Hackern in ihren Kellern zum Leben erweckt, erfindet sich Steampunk immer wieder neu, inspiriert die Literatur, die ihrerseits wieder die Subkultur inspiriert. Dabei entzieht sich das Genre immer wieder einer genauen Definition, fügt ständig neue Facetten hinzu und vergisst dafür andere Themen, die gestern noch aktuell waren. Dabei sind die Werte der viktorianischen Zeit Wissenschaft, Neugier und Forschergeist, die Ideen, die im 21. Jahrhundert von den Fabriken wieder in die Hand der Steampunker kehren. Love the machine – Hate the factory.

Ich muss zugeben, dass ich manches hiervon überhaupt nicht verstehe. Was haben die ‘Hacker in ihren Kellern’ mit Steampunk zu tun (bei dem Bild denke ich doch eher an Cyberpunk), und inwiefern ist der ‘Forschergeist’ ‘von den Fabriken in die Hand der Steampunker’ zurückgekehrt? Steampunk beschäftigt sich doch nicht mit der realen Entwicklung innovativer Technologien oder den atemberaubenden Forschungsprojekten der heutigen Naturwissenschaften, oder? Sitzen denn Steampunker im CERN oder arbeiten an der Verwirklichung des Quantencomputers? Aber vielleicht zeigt sich da ja auch bloß meine Unwissenheit, ich weiß nicht. Einige andere Punkte scheinen mir hingegen etwas klarer zu sein.
Jahnke sieht im Steampunk offenbar eine Bewegung, ja eine ‘wilde Rebellion’, gegen die ‘punkige’ Elterngeneration und gegen den ungebremsten Individualismus unserer Zeit. Was letzteres betrifft, so ist Steampunk natürlich selbst durch und durch individualistisch, und eben das macht ja seinen Charme aus. (6) Jede andere programmatische Erklärung aus der Steampunk-Community, die mir bekannt ist, betont genau diesen Aspekt. Und die ‘punkigen Eltern’? Lasst es mich mal so formulieren: Wenn ich die Wahl hätte zwischen God Save the Queen von den Sex Pistols und einer Ballade auf die Heldentaten eines Offizieres Ihrer Majestät, fiele mir die Entscheidung nicht schwer – auch wenn der Offizier in einem Zeppelin oder Ætherschiff durch die Gegend fliegt.
Steampunk als ‘wohlerzogenes Kind’, das mit ‘Benehmen’ gegen seine Revoluzzereltern aufbegehrt? Hmm ... habe ich ihn am Ende gar als Teil der auch nicht mehr so neuen ‘Zurück zu Knigge’ - Bewegung zu sehen? Persönlich habe ich überhaupt nichts gegen zivilisierte Umgangsformen, noch viel weniger gegen ‘Bildung’ und ‘Kunst’, aber erstens frage ich mich, ob so eine Revolte nicht ein paar Jahrzehnte zu spät käme, und zweitens würde ich gerne wissen, von welcher Position aus sie gestartet wird. Welche ‘Visionen’ hat der Steampunk denn anzubieten, und was genau habe ich mir unter ‘klassischen Werten’ vorzustellen?
Das einzig Positive, was Jahnke anführt, sind die angeblich ‘viktorianischen’ Werte von Wissenschaft, Neugier und Forschergeist. Lassen wir es für den Moment dahingestellt sein, ob die literarischen Hervorbringungen der Bewegung tatsächlich von ihnen erfüllt sind. Gegen die Werte selbst habe ich nicht das geringste einzuwenden. Angesichts der nach wie vor virulenten antiwissenschaftlichen Stimmung in unserer Gesellschaft würde ich ihre positive Darstellung in populärer literarischer Form vielmehr sehr begrüßen. Ihre Verknüpfung mit dem Viktorianismus (7) jedoch gibt mir zu denken.
Das England des 19. Jahrhunderts war mitnichten eine aufgeklärte, dem Fortschritt und der Wissenschaft verschriebene Gesellschaft. George Orwell schreibt über die Bedeutung von H.G. Wells:

When Wells was young, the antithesis between science and reaction was not false. Society was ruled by narrow-minded, profoundly incurious people, predatory businessmen, dull squires, bishops, politicians who could quote Horace but had never heard of algebra. Science was faintly disreputable and religious belief obligatory. Traditionalism, stupidity, snobbishness, patriotism, superstition and love of war seemed to be all on the same side; there was need of someone who could state the opposite point of view. Back in the nineteen-hundreds it was a wonderful experience for a boy to discover H.G. Wells. There you were, in a world of pedants, clergymen and golfers, with your future employers exhorting you to ‘get on or get out’, your parents systematically warping your sexual life, and your dull-witted schoolmasters sniggering over their Latin tags; and here was this wonderful man who could tell you about the inhabitants of the planets and the bottom of the sea, and who knew that the future was not going to be what respectable people imagined. (Wells, Hitler and the World State

Es ist zutiefst ironisch, dass sich die Steampunker zum Viktorianismus hingezogen fühlen und sich zugleich sehr häufig auf H.G. Wells berufenen – einen seiner erbittertsten Gegner. Wells’ beste Romane – The Time Machine, The War of the Worlds und The Island of Dr. Moreau – sind allesamt scharfe Attacken gegen die viktorianische Gesellschaft. Ich habe das Gefühl, die meisten Steampunker sehen in ihm nur den technischen Visionär, nicht den Gesellschaftskritiker. (8) Seine Identifikation mit dem Viktorianismus jedenfalls birgt in meinen Augen die Gefahr, dass man seine besten Seiten über Bord wirft.
Ohne Zweifel begeisterte sich die viktorianische Gesellschaft am technischen Fortschritt (was nicht ganz dasselbe ist wie Liebe zur Wissenschaft), doch sah sie diesen hauptsächlich unter einem ökonomischen Blickwinkel. Die großen Weltausstellungen, wie die berühmte Londoner von 1851 mit ihrem Crystal Palace, waren ja in erster Linie Wirtschaftsshows, stets verbunden mit einer ordentlichen Dosis patriotischer Propaganda. Die Technik stand ganz im Dienste von Industrie und Handel, und deshalb kann dieser Aspekt des Viktorianismus auch nicht vom Manchesterkapitalismus und dem Elend der Arbeiterklasse – Männer, Frauen, Kinder – getrennt werden.
Der ‘Forschergeist’ schließlich, der ohne Zweifel zum Viktorianismus gehörte, war unauflöslich verbunden mit dem Kolonialismus. So gut wie jede Expedition nach Afrika oder Asien hatte zumindest auch zum Ziel, neue Kolonien, Handelsrouten oder lukrative Märkte zu erschließen. Dass die Forscher selbst dabei fast immer als die hochmütigen Vertreter einer angeblich überlegenen weißen, christlichen Zivilisation auftraten, versteht sich von selbst. Die entsprechende Literatur der Zeit spiegelt das sehr deutlich wider. Man schaue sich nur die Romane von H. Rider Haggard (King Solomon’s Mines oder She) an. Ähnliches gilt für Arthur Conan Doyle, sei es in seinen Sherlock Holmes - Stories (z.B. The Crooked Man & The Sign of Four) oder in seinem phantastischen Abenteuerroman Lost World. Und natürlich ist auch Jules Verne nicht frei davon. Allerdings hat letzterer immerhin Figuren wie Kapitän Nemo oder den Kaw-djer geschaffen, die einen etwas kritischeren Blick auf den westlichen Imperialismus erkennen lassen, als Allan Quatermain oder Ex-Kolonialmilitärarzt Watson. (9)

Natürlich ist Alex Jahnke nicht der deutsche Steampunk-Papst und was er sagt, muss nicht unbedingt den Ansichten seiner Kameraden und Kameradinnen entsprechen. Wenn jedoch zumindest die Website Clockworker einigermaßen repräsentativ für die Szene ist, dann habe ich nicht den Eindruck, als wäre dort ein kritischer Umgang mit der eigenen Subkultur oder dem Viktorianismus sonderlich verbreitet. Zwar verfasste ‘Miss Tickerlein’ / Johanna Sievers einen Neujahrsgruß, in dem sie sich wenig begeistert über die Zustände in der deutschen Szene zeigt:

Man poliert und perfektioniert, trifft sich zum Tee, beklatscht höflich das schönste Outfit und prämiert wohlwollend die besten ‘Erfindungen’. Nicht, dass daran an sich etwas auszusetzen wäre, es sei denn dies würde zur Ausschließlichkeit. Wo bitte bleibt das Abenteuer? Der Schmutz, der Dreck, die Lebenslust? Wo bleibt die Anarchie, wo die Politik, die Revolution? Was wurde aus dem Punk im Steam? Wo sind die Freakshows, das Groteske, das Böse und das wirklich Interessante?

Aber von ganz wenigen Ausnahmen wie ‘Alter Dampflok’ einmal abgesehen, scheint man in der Community an Dingen wie Revolte und Anarchie wenig interessiert zu sein. Wen wundert es da, dass die Suchmaschine von Clockworker auf das Stichwort ‘Kolonialismus’ grade mal drei Antworten ausspuckt, von denen zwei Zitate sind (eins aus einem Fernsehprogramm, eins von Bruce Sterling) und eine von einem Grafiker (Gunnar Lippoldt) stammt, der sich selbst nicht einmal als Steampunker versteht. Auch die Diskussion im Rauchersalon über mehr deutsche Motive im Steampunk geht ganz und gar nicht in die Richtung, die ich oben skizziert habe, sondern fällt in erster Linie durch ein erschreckendes Ausmaß an Adels- und Kaiserromantik auf. Die Idee, eine Steampunkgeschichte über Ludwig II. zu schreiben, finde ich freilich nicht nur äußerst charmant, sie könnte sogar subversives Potential enthalten.

Schauen wir uns einmal versuchsweise anderswo um. Oliver Hoffmann vom Verlag Feder und Schwert definiert Steampunk so:

Unter Steampunk verstehe ich zuallererst und in erster Linie ein Lebensgefühl. Es geht um Wertlegung auf Neugier und Bildung, um Eleganz und Stil (wenn auch auf eine gebrochene, individualistische Weise – hier kommt der Punk in den Steam), um Aufbruchsgeist und um eine Form der Technik, die Ästhetik der Funktion überordnet. Die selbstverständliche Eleganz des viktorianischen Zeitalters tritt an die Stelle moderner Chip-Technologie, zweckgebundener Ergonomie und Vereinheitlichung, wie sie heute gang und gebe sind. (10)

Und schon wieder bin ich etwas verwirrt. Die viktorianische Ära war in vielerlei Hinsicht die Geburtsstunde der modernen Massenproduktion. Das war einer der Gründe, warum Leute wie John Ruskin und William Morris die Zeit hassten, in der sie lebten. Auch wird niemand ernsthaft behaupten können, dass die wirklich wichtigen technischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts die Ästhetik der Funktion übergeordnet hätten. Hat Hoffmann wirklich keinen blassen Schimmer davon, wie es in den Fabriken von Lancashire und Yorkshire oder in den walisischen Bergwerken aussah? Aber die Spinning Jenny (10) oder der Dampfhammer gehören vermutlich nicht zu der Sorte Technik, die er im Auge hat. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Technik, für die sich die Steampunker begeistern, die Technik aus Jules Vernes Romanen ist (Nemos Nautilus [vorzugsweise in ihrer Disney-Inkarnation mit viel Gold und Samt], Roburs Albatros oder die Propellerinsel), nicht die, auf denen die englische und europäische Industrie des 19. Jahrhunderts tatsächlich basierte. Nicht ohne Grund ist der Zeppelin das Markenzeichen des Steampunk, ein Transport- und kein Produktionsmittel (gut – es ist natürlich auch etwas schwer, sich Abenteuerromane vorzustellen, in denen mechanische Webstühle oder Hochöfen eine zentrale Rolle spielen ... andererseits ... das wäre doch zumindest eine Herausforderung).

Daneben scheine viele Steampunker ein extrem romantisches Bild des 'Erfinders' als eines individualistischen Genies zu pflegen, das in seiner kleinen Werkstatt weltumwälzende Maschinen zusammenbastelt. Als literarische Figur ist der Typus 'Daniel Düsentrieb' nicht zu verachten. Ich denke da nicht nur an Verne-Helden wie Robur den Eroberer, sondern z.B. auch an Alexei Tolstois Lossj (Aëlita) oder Wladimir Majakowskis Tschudakow (Banja/Das Schwitzbad). Mit der Realität des 19. Jahrhunderts hat er jedoch eher wenig zu tun. Kein Wunder, dass die Steampunker den exzentrischen Tesla seinem erzkapitalistischen Rivalen Eddison vorziehen. Doch unabhängig davon, wen man nun sympathischer findet (und auch Tesla war in erster Linie Geschäftsmann, nicht Träumer), Eddison verkörpert sehr viel besser den 'Aufbruchsgeist' jener Zeit. Ich kann mich da nur dem anschließen, was der gute Dan Hemmens kürzlich auf FerettBrain über Steampunk geschrieben hat: "A lot of things still hack me off about the subculture, one of which is its peculiar insistence that the Industrial Revolution was all about individual craftsmen building wonderful machines when in fact it was about masses of people in factories producing stuff in bulk.

Wenn Oliver Hoffmann schließlich von der 'selbstverständlichen Eleganz des viktorianischen Zeitalters' schreibt, wird es für mich überdeutlich, dass er die englische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts mit der kleinen Schicht von Gentlemen und Ladies verwechselt, die von der barbarischen Ausbeutung der Massen lebte und deren 'Eleganz' nur im Zusammenhang mit ihrer Rolle als 'Herrenmenschen' verstanden werden kann.

Doch bin ich da jetzt nicht etwas unfair? Hoffmann schreibt doch selbst:

Steampunk hat als Genre stets auch eine gesellschaftspolitische Dimension, indem er sich mit der Juxtaposition Mensch/Maschine befasst, Maschinenkritik nicht außen vor lässt (Stichwort: 'Love the Machine, hate the Factory') und die Frage nach Beherrschbarkeit von Technik stellt. Die malochenden, maschinenunterdrückten Massen in S. M. Peters' Die Götter von Whitechapel zeigen augenfällig, dass die zeitliche Nähe zu Marx kein Zufall ist.

Ich habe mir fest vorgenommen, in absehbarer Zukunft einmal Peters' Buch zu lesen, aber sowohl die mir bekannten Inhaltsangaben/Rezensionen als auch Hoffmanns Ausführungen lassen mich befürchten, dass hier 'gesellschaftspolitische Dimension' mit Maschinenfeindlichkeit verwechselt wird. Grandfather Clock und Mama Engine – die ‘Whitechapel Gods’ – verkörpern die schreckliche und unmenschliche Seite der Industriellen Revolution. Aber inwieweit dies auch einen kritischen Blick auf das Gesellschaftssystem beinhaltet, in dem sich diese vollzogen hat, kann ich vorerst nicht beurteilen. Es wirkt auf mich zumindest etwas verwirrend, dass das viktorianische England offenbar als Gegenspielerin des Höllenregimes von Whitechapel erscheint. Dabei waren Grandfather Clock und Mama Engine in Wirklichkeit doch nur die Diener der wahren Göttin des Viktorianismus, die John Ruskin in seinem Vortrag Traffic beschrieben hat: 
 
You know we are speaking always of the real, active, continual, national worship; that by which men act while they live; not which they talk of when they die. Now, we have, indeed, a nominal religion, to which we pay tithes of property, and sevenths of time; but we have also a practical and earnest religion, to which we devote nine-tenths of our property and six-sevenths of our time. An we dispute a great deal about the nominal religion; but we are all unanimous about this practical one, of which I think you will admit that the ruling goddess may be best generally described as the 'Goddess of Getting-on,' or 'Britannia of the Market'.
 
Diese Göttin kannte nur ein Gebot: Verdiene Geld, verdiene mehr Geld, verdiene noch mehr Geld! Ihre gläubigen Anhänger waren eben jene Gentlemen mit ihrer 'selbstverständlichen Eleganz', die viele Steampunker so faszinierend finden und die Ruskin in Traffic mit ätzendem Spott überschüttet.
 
Bleibt zuguterletzt noch der Slogan 'Love the Machine, Hate the Factory!', den man im Zusammenhang mit dem Steampunk immer wieder zu hören bekommt. Geprägt wurde er von dem britischen Anarchisten Margaret 'Magpie' Killjoy, der u.a. auch Mitherausgeber des Steampunk Magazine ist. Er soll zugleich Bejahung der Technik und Ablehnung der Mechanisierung von Arbeit und Kreatitvität zum Ausdruck bringen. Ein Projekt, das ich sofort unterschreiben würde, hätte ich nicht das Gefühl, dass sich dahinter eine Reihe von bestenfalls naiven, wenn nicht sogar implizit reaktionären Ideen verbergen. Soweit ich das einzuschätzen vermag, geht es Killjoy darum, der fabrikmäßigen Massenproduktion den Rücken zuzuwenden und zur individuellen Herstellung handgemachter Waren zurückzukehren. Dass die Orientierung an der viktorianischen Ästhetik für ein solches Unternehmen ziemlich unsinnig erscheinen muss, habe ich bereits gesagt. Meine eigenen Vorstellungen über eine mögliche künftige Wiedergeburt des Handwerks, die sich vor allem an William Morris und einigen Gedanken des amerikanischen Trotzkisten Jim Cannon orientieren, werde ich hier nicht weiter ausführen. Es soll genügen, dass ich mir eine solche Renaissance nur Hand in Hand mit einer internationalen Industrialisierung auf höchstem Niveau vorstellen kann, die – von den Fesseln des Profitsystems befreit – den Bedürfnissen der Menschen dient. Jeder Versuch, dieses Ziel innerhalb der existierenden Strukturen zu verwirklichen, muss entweder in einer aufs Große gesehen bedeutungslosen Nischenwirtschaft enden, die eine einigermaßen zahlungskräftige Mittelklasseklientel bedient (12), oder reaktionären Träumen von einer (unmöglichen) Rückkehr zur kleinen Warenwirtschaft Vorschub leisten. Höchst eigenartig finde ich auch, was Carry Doctorow (Little Brother), den ich an sich sehr schätze, in einem Artikel für das MAKE Magazine über diese Parole zu sagen hat: "For me, the biggest appeal of steampunk is that it exalts the machine and disparages the mechanization of human creativity [...] It celebrates the elaborate inventions of the scientifically managed enterprise, but imagines those machines coming from individuals who are their own masters. [...] Here in the 21st century, this kind of manufacture finally seems in reach: a world of desktop fabbers, low-cost workshops, and communities of helpful, like-minded makers put utopia in our grasp. Finally we'll be able to work like artisans and produce like an assembly line." Für mich klingt das irgendwie nach den Träumen eines Menschen, der immer noch in der Ära des Dotcom-Booms lebt. Dass die technischen Voraussetzungen für sehr viel humanere Formen der Produktion, die der Entfaltung des Individuums ungeahnte Möglichkeiten eröffnen werden, vorhanden sind, bezweifle ich nicht. Doch der Weg dorthin führt nicht über die Kleinunternehmen, die sich mir hinter Doctorows Ausführungen zu verbergen scheinen. Er setzt vielmehr den Sturz der herrschenden Gesellschaftsordnung voraus.
 
Aber jetzt nehme ich den Steampunk wohl tatsächlich etwas zu ernst. Wie gesagt scheint die deutsche Community an den gesellschaftspolitischen und philosophischen Dimensionen der Subkultur ohnehin wenig bis gar nicht interessiert zu sein. Und so werde ich mich im nächsten Post lieber einem Produkt des deutschsprachigen Steampunk zuwenden: Der im letzten November online erschienen Anthologie Steampunk-Chroniken 1: Æthergarn.
 
 
(1) Und Charlie ist ja nicht der einzige prominente Kritiker. Vgl. z.B. Cat Valentes Essay Blowing off Steam.
(2) Da fällt mir ein: Hat eigentlich schon irgendjemand einen (viktorianischen) Steampunk-Roman über den Mahdi-Aufstand geschrieben? Das wäre doch Material für ein wirklich subversives Buch.
(3) Wer sich dieses unappetitliche Büchlein über die Abenteuer eines wackeren deutschen Jungen im kampf gegen die 'barbarischen' Hereros zu Gemüte führen will, findet es hier.
(4) Andererseits, wenn ich da an Gerd Fröbe in Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten denke ... na ja, 'cool' ist wohl nicht das richtige Wort.
(5) Warum sich Jahnke nach dem Erzähler von Thomas Manns Doktor Faustus benannt hat? Vielleicht weil der Roman u.a. zeigt, wie die antimoderne Romantik schließlich in den Faschismus mündete, und er den Steampunk als eine Art Gegenentwurf dazu betrachtet? Das wäre zumindest sympathisch.
(6) Hier meine ich jetzt nicht Literatur, sondern so etwas: (1), (2), (3), (4).
(7) Der Begriff scheint unter Steampunkern meist sehr weit gefasst zu werden. Tatsächlich sind viele Steampunk-Geschichten eher in einer alternativen edwardianischen Ära angesiedelt.
(8) Natürlich war Wells dennoch in vielem ein Kind der kolonialistischen Ära. Leo Trotzki charakterisierte ihn einmal wenig höflich, aber darum wohl nicht weniger zutreffend als "a stock conservative Englishman of imperialistic mold" – trotz all seiner sozialistischen Prätentionen. Es ist dieser scheinbare Widerspruch im Wesen der meisten Fabiersozialisten, mit dem sich Moorcock in Warlord of the Air auseinandersetzt. Aber für eine eingehendere Kritik von H.G. Wells ist hier nicht der richtige Ort.
(9) Man verstehe mich nicht falsch, ich mag Conan Doyle und Jules Verne, doch das bedeutet nicht, dass ich über die Spuren, die das kolonialistische Bewusstsein in ihrem Werk hinterlassen hat, einfach hinwegsehen könnte.
(10) Nebenbei bemerkt findet ich etwas merkwürdig, wenn Leute, die ihre Ansichten via Internet verbreiten, etwas gegen 'moderne Chip-Technologie' haben.
(11) Gut, die wurde zwar schon im 18. Jahrhundert erfunden, aber sie ist und bleibt ein ikonischer Bestandteil der Industriellen Revolution.
(12) Dies war ja auch das Schicksal von William Morris' berühmter 'Firma'. Eine Erfahrung, die bei der 'Bekehrung' des Künstlers zum Sozialismus eine wichtige Rolle spielte.   

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