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Freitag, 20. Januar 2012

Wenn alle Menschen Schweine sind,

darf auch ich ein Schwein sein


Ein paar Gedanken über grim & gritty

Ein Post von ‘Anubis’ drüben auf Lake Hermanstadt hat mich auf eine neuerliche Debatte über die Grimdark-Fantasy aufmerksam gemacht. Ausgelöst wurde sie von einer ebenso berechtigten wie wütenden Attacke von ’acrackedmoon’/‘valse de la lune’ auf Joe Abercrombies The Last Argument of Kings. Im Westeros-Forum nahm sie zwischenzeitlich ausgesprochen unappetitliche Formen an, wobei sich den kreischenden Fanboys, deren Mentalität ‘Anubis’ sehr schön seziert hat, die Autoren Richard Morgan (The Steel Remains) und Mark Lawrence (Prince of Thorns)* hinzugesellten.
Ich selbst habe bisher allerhöchstens Auszüge aus den Werken von grim & gritty - Ikonen wie Abercrombie, R. Scott Bakker oder Morgan gelesen, und daran wird sich auch in Zukunft wenig ändern. Es gibt zu viele Bücher, bei denen mich die Aussicht, sie zu lesen, mit echter Vorfreude erfüllt, als dass ich meine Zeit mit Schmökern wie The First Law oder The Prince of Nothing verschwenden wollte. Erst recht nicht nach der Lektüre der im Requires Only That You Hate - Post enthaltenen Zitate. Zum Kotzen kann ich mich auch bringen, indem ich zuviel Ouzo trinke, und das macht entschieden mehr Spaß. Dennoch mache ich mir seit geraumer Zeit Gedanken über das Grimdark-Phänomen und seine Ursprünge. Der Weisheit letzter Schluss sind die Ideen, die mir dabei gekommen sind, sicher nicht. Trotzdem werde ich sie aus gegebenem Anlass hier darzulegen versuchen. Insbesondere, da ich das Gefühl habe, dass sich derartige Diskussionen stets zu sehr auf das Genre konzentrieren – so als handele es sich um eine Erscheinung, die ausschließlich in der Fantasyliteratur anzutreffen wäre.

Natürlich gibt es auch in meinen Augen dem Genre immanente Gründe für die Entstehung und Verbreitung des grim & gritty. ‘Anubis’ schreibt dazu:
"Ich bin geneigt anzunehmen, dass sie [die extreme Gewalt] Teil des programmatischen disillusionment sind [sic], welches die Gruppe der Grim-and-Gritty-Autor_innen sich auf die Fahnen geschrieben hat: Die Auflösung vermeintlich genretypischer Konventionen wie strikte Gut-Böse-Dichotomie, generischer Handlungsverlauf mit abschließender Rettung der Welt etc."
Man könnte das auch etwas positiver formulieren. Leute wie Abercrombie & Co hatten es sich wohl ursprünglich zum Ziel gesetzt, mit ihren Büchern gegen einige, in der Tat kritikwürdige Aspekte der ‘generischen’ Fantasy, insbesondere der tolkienesken High Fantasy anzuschreiben. Als da wären die feudale Romantik, das falsche Heldentum (der ‘Auserwählte’), das mythisch-religiöse ‘Gut gegen Böse’, die mitunter ‘heldenepisch’ überhöhte Darstellung des Krieges. Die Apologeten des grim & gritty sprechen deshalb recht gerne von ‘revisionistischer Fantasy’, von der ‘Inversion’ überkommener Stereotypen usw.
Nun ist aber die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Genre beileibe nichts neues. Michael Swanwicks The Iron Dragon’s Daughter erschien 1993, also drei Jahre vor A Game of Thrones, dem offiziellen ‘Gründungsdokument’ des grim & gritty. M. John Harrisons Viriconium-Zyklus entstand zwischen 1971 und 1985. Michael Moorcock schrieb seine ersten Elric-Stories Anfang der 60er Jahre. Und waren nicht bereits Fritz Leibers Geschichten um Fafhrd und den Grauen Mausling – deren erste Mitte der 30er Jahre entstand – als ‘proletarischer’ Gegenentwurf zu Conan und Konsorten gedacht? Die Vorstellung, die Fantasy habe jahrzehntelang bloß aus der Wiederholung der immer gleichen Klischees bestanden, bis dann endlich die mutigen Grimdark-Rebellen auftauchten, ist schlichtweg absurd. Klischees sind im Genre nach wie vor sehr weit verbeitet (und grim & gritty ist inzwischen selbst eins geworden), aber fast von Beginn an hat es auch die Revolte gegen sie gegeben. Doch selbst wenn die Fantasy vor George R.R. Martin ausschließlich aus Terry Brooks bestanden hätte, müsste man sich immer noch fragen, was genau die Grimdark-Autoren an die Stelle der alten Stereotypen setzen, und was sie damit von anderen revisionistischen Fantasyschriftstellern und -schriftstellerinnen unterscheidet. Und da sieht’s dann recht düster und unappetitlich aus. Die Pseudoromantik wird durch schrankenlosen Zynismus ersetzt. Mit dem falschen Heldentum des ‘außergewöhnlichen Individuums’ wird auch gleich die Vorstellung über Bord geworfen, dass es so etwas wie Heroismus überhaupt geben könnte. An Idealismus und Selbstlosigkeit könnten in dieser ach so bösen Welt ohnehin nur völlige Naivlinge oder privilegierte Heuchler glauben. Die ‘ungeschminkte Darstellung’ des Krieges erschöpft sich in einer nicht enden wollenden Aneinanderreihung von detailliert geschilderten Metzeleien und Vergewaltigungen. Was für ein Welt- und Menschenbild liegt einer solchen ‘Rebellion’ zugrunde?

Die Grimdark-Autoren behaupten recht gerne, es gehe ihnen darum, dem von Tolkien et al. sträflich vernachlässigten Fußvolk, den homerischen Speerträgern eine Stimme zu verleihen. Das zumindest lese ich aus Morgans The Real Fantastic Stuff oder Daniel Polanskys Slums of the Shire heraus. Doch wie präsentiert uns die Grimdark-Fantasy die ‘einfachen Leute’? Entweder als Schlächter, Vergewaltiger, Folterer oder als hilflose Opfer! Das ist letztenendes tausendmal elitärer als Tolkiens Sam Gamdschie, der zwar dem konservativen Ideal des treuen Dieners entspricht, aber doch auch wahre menschliche Größe zeigen kann. Der ‘Professor’ war alles andere als ein Demokrat, aber er empfand ehrliche Sympathie für die ‘kleinen Leute’. Aus dem grim & gritty hingegen spricht eine tiefe Verachtung für den ‘Pöbel’.
Erhellend in diesem Zusammenhang ist, was Richard Morgan in einem Interview mit Saxon Bullock von sich gegeben hat:
"[...] society is, always has been and always will be a structure for the exploitation and oppression of the majority through systems of political force dictated by an elite, enforced by thugs, uniformed or not, and upheld by a wilful ignorance and stupidity on the part of the very majority whom the system oppresses."
Was vermutlich unglaublich radikal klingen soll, ist in Wirklichkeit Ausdruck einer zutiefst reaktionären Weltsicht. Sehen wir einmal von der Überbewertung politischer Gewalt ab, so verwirft Morgan hier nicht nur jede Möglichkeit einer positiven gesellschaftlichen Veränderung, sondern macht dafür letztenendes auch die Masse der Bevölkerung verantwortlich. In seinen Augen waren die Ausgebeuteten stets die willigen Opfer ihrer Unterdrücker, und daran wird sich auch nie etwas ändern. Diese extrem pessimistische Sicht der Geschichte führt ganz automatisch zu einer entsprechend negativen Sicht des Menschen an sich, denn nur in ihr kann sie ihre Rechtfertigung finden. Bei all dem Gerede von ‘Eliten’ und ‘Systemen politischer Gewalt’ ist es in den Augen Morgans und seiner Gesinnungsgenossen am Ende eben nicht die gesellschaftliche Ordnung, die die Menschen zu den Ungeheuern macht, die die Grimdark-Bücher bevölkern. Vielmehr ist die gesellschaftliche Ordnung selbst bloß Ausdruck der menschlichen Natur. Wir alle tragen unseren kleinen Hitler in uns. Man kennt die Sprüche. Daniel Polansky ist da sehr direkt:
"I don't understand fantasy [...] Take elves for instance – though perfectly capable of imagining a world where higher intelligence evolved in a species separate from humanity, my powers of make believe fail when positing that the relation between said species would be anything beyond unceasing warfare. Even a cursory glance at human history reveals our collective willingness to commit genocide on fellow homo sapiens – how much quicker would we have been to eradicate a separate species competing for identical resources? If elves existed, our ancestors would have hunted them down to extinction and erected a monument to the accomplishment."
Dieses demoralisierte Geschichts- und Menschenbild liegt mehr oder weniger offen der ganzen grim & gritty zugrunde. So weit ich es verstanden habe, ist z.B. die Hauptaussage von Abercrombies First Law die Sinlosigkeit menschlichen Handelns – zumindest im Großen. Die Welt wird immer so beschissen bleiben, wie sie es seit jeher gewesen ist. Und warum? Weil die Menschen erbärmliche, egoistische Kreaturen sind. R. Scott Bakker versucht derselben Weltsicht in seiner Second Apocalypse einen philosophischen Anstrich zu verleihen, was ihm den Ruf eines ‘ernsten’, ‘anspruchsvollen’ Autors eingebracht hat. Wenn ich davon ausgehe, was er in Interviews und auf seinem Blog so von sich gibt, würde ich ihn allerdings eher als einen selbstverliebten Snob bezeichnen. Seine oft bekundete Faszination für die Neurowissenschaften ist insofern von Bedeutung, als diese ihm als Ausgangspunkt für ein biologistisches Menschenbild dienen – die modischste Begründung für Misanthropie, bei der an die Stelle der guten alte Erbsünde die DNA getreten ist.

Spätestens hier ist es angebracht, über die Grenzen des Genres hinauszuschauen. Denn Zynismus, Misanthropie und Massenverachtung sind ja wahrhaftig nicht das ausschließliche Eigentum der grim & gritty - Autoren. Vielmehr begegnen wir ihnen heute auf Schritt und Tritt, in Romanen und Filmen, Comics und Songs, philosophischen Traktaten und Feuilletonartikeln. Die Grimdark-Fantasy ist Teil einer allgemeinen kulturellen Strömung. Was bedeutet, dass sie ihre eigentlichen Wurzeln nicht im Genre selbst haben kann (als eine verspätete Reaktion auf die High Fantasy der 80er Jahre etwa). Wir begegnen ja nicht zufällig bei jedem Kritiker, der die Bücher von Michel Houellebecq oder die Filme von Martin Scorsese (Gangs of New York), Clint Eastwood (Mystic River), Robert Rodriguez & Frank Miller (Sin City) oder Alejandro González Iñárritu (Amores Perros & 21 Grams) in den Himmel hebt, ganz denselben Argumenten, wie bei den Bewunderern des grim & gritty. Der jeweilige Künstler habe mutig mit Konventionen gebrochen und einen unbarmherzigen Blick auf die ‘Realität’, die ‘dunkle Seite’ der menschlichen Seele, den ‘Unterleib’ der Gesellschaft oder was auch immer geworfen. Zynismus wird als ‘Illusionslosigkeit’ ausgegeben und als ‘realistisch’ gilt, wer den Menschen in jeder Situation die niedrigsten Beweggründe unterstellt. Die ungeheure Arroganz, mit der Richard Morgan jede Kritik an der Grimdark-Fantasy als ‘kindisch’ abtut**, gleicht der Verachtung, mit der der typische postmoderne Intellektuelle all jene als zurückgebliebene Schwachköpfe verspottet, die noch an Dinge wie Aufklärung, Fortschritt oder Wahrheit glauben.

Die Forderung nach ‘Realismus’ muss inzwischen für die abnormsten Dinge herhalten. So hab ich neulich einen Post von Ben ‘Yahtzee’ Croshaw auf The Escapist gelesen, in dem Ben erzählt, dass viele Gamer damit ihr Verlangen legitimieren würden, in Spielen wie Skyrim nicht nur Ungeheuer und Erwachsene, sondern auch Kinder abschlachten zu können. Hey!?! Jetzt lässt auch mein Glaube an die Menschheit für den Moment etwas nach ... In Bezug auf die Grimdark-Fantasy wird sie gleich in zweierlei Form vorgebracht.
Zuersteinmal sei die extreme Gewaltdarstellung der Wirklichkeit einer pseudomittelalterlichen Gesellschaft sehr viel angemessener, als das von der klassischen High Fantasy gezeichnete Bild. Nun bin ich sicher der letzte, der etwas gegen eine Korrektur der weichgespülten Version des Feudalismus einzuwenden hätte, die uns die meisten Tolkienepigonen vorsetzen. Eine Neuauflage des romantischen Mittelalterbildes ohne romantische Poesie braucht wirklich kein Mensch. Doch die Apologeten des grim & gritty ihrerseits reduzieren das Mittelalter auf Brutalität und Elend. Als jemand, der sich einigermaßen eingehend mit mittelalterlicher Geschichte, Kultur und Literatur beschäftigt hat, finde ich das ausgesprochen ignorant. Im Grunde ist dieses Argument jedoch ohnehin entweder nicht ernst gemeint oder nicht gut durchdacht. Wenn es Leuten wie Abercrombie oder Morgan tatsächlich darum gehen würde, das realistische Bild einer quasimittelalterlichen Feudalgesellschaft zu zeichnen, dürften sie ihre Bücher nicht mit Charakteren bevölkern, die so offensichtlich wie Menschen des 20./21. Jahrhunderts reden, denken und empfinden. Angesichts dessen kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Berufung auf die historische Wirklichkeit nicht viel mehr ist, als eine denkfaule Entschuldigung für ihre Gewaltorgien.
Die zweite Form des Realismusarguments teilt die Grimdark-Fantasy mit allen anderen Formen der zynisch- misanthropen Kunst. Polemisch überspitzt lässt sie sich so formulieren: eine Geschichte ist um so ‘realistischer’ je mehr Blut, Dreck, Sperma und Scheiße sie enthält, und je unmissverständlicher sie zum Ausdruck bringt, dass alle Menschen selbstsüchtige Schweine sind. Um noch einmal Daniel Polansky zu zitieren, der seinen Essay in erster Linie verfasst hat, um sein eigenes Buch Low Town zu promoten***: "Low Town centers on the conceit that a world with magic wouldn't be altogether different from a world without it. People are still (on the whole) selfish, stupid creatures, focused almost exclusively on the immediate satisfaction of their basic desires, only now some of them can shoot fire out of their hands." Ist es arg unhöflich, an dieser Stelle den alten Ratschlag anzubringen, dass man nicht von sich auf andere schließen sollte?

Macht man sich auf die Suche nach den Ursprüngen des grim & gritty, dann ist George R.R. Martins The Armageddon Rag vielleicht kein schlechter Ausgangspunkt. Ein gutes Jahrzehnt vor dem ersten Band von A Song of Ice and Fire geschrieben, behandelt der Roman anhand der Geschichte der fiktiven Rockband Nazgûl den Untergang der Ideale der 60er/70er Jahre im Amerika Ronald Reagans. Hier muss man meiner Meinung nach ansetzen, wenn man das Phänomen des misanthropen Zynismus verstehen will, zu dem die Grimdark-Fantasy gehört.
Die 80er Jahre bilden die vielleicht wichtigste historische Wasserscheide in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach zwei Jahrzehnten heftiger sozialer Kämpfe – in den USA u.a. die Bürgerrechtsbewegung, die Antivietnamkriegsproteste, eine Reihe großer Streiks und Ghettoaufstände – folgte der Gegenschlag der herrschenden Elite. Die amerikanische Arbeiterklasse erlitt – angefangen mit dem PATCO-Streik von 1981 – eine Niederlage nach der anderen. Parallel dazu brach im Zuge des ‘zweiten Kalten Kriegs’ eine Flutwelle reaktionärer Propaganda über die US-Bevölkerung herein. Immer lauter und schriller erklangen die Lobgesänge auf den ungezügel-ten Kapitalismus. ‘Greed is Great’ wurde zur Losung der Stunde. Die Bereicherungsorgien der Wallstreet-Spekulanten nahmen immer groteskere und schamlosere Formen an, derweil die industrielle Basis der amerikanischen Wirtschaft zusehends verrottete und der Abstand zwischen einer kleinen Gruppe Superreicher an der Spitze und der Masse der Bevölkerung immer rascher anwuchs. Unter den ehemaligen Radikalen machten sich Pessimismus und Fatalismus breit. Nur den besten von ihnen gelang es, an ihren Idealen festzuhalten. Die ‘Glücklicheren’ fanden als Akademiker, Journalisten, gefeierte Künstler ein warmes Plätzchen im Establishment. Mit dem Glauben an eine radikale Umwälzung der Gesellschaft starb auch ihr Interesse am Schicksal der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung. Für den Triumph der Rechten machten die meisten von ihnen die Dummheit, Rückständigkeit und Gier der ‘einfachen’ Leute verantwortlich. Vergleichbares spielte sich zur selben Zeit in Großbritannien unter Margaret Thatcher ab. Der Sturz der stalinistischen Regime in Europa und die Auflösung der Sowjetunion schienen zu Beginn der 90er Jahre endgültig jede Möglichkeit einer Alternative zur herrschenden Ordnung zu widerlegen. Francis Fukuyama proklamierte das ‘Ende der Geschichte’. Was folgte war ein Jahrzent des kapitalistischen Triumphalismus.
In dieser Atmosphäre wuchs der misanthrope Zynismus heran und drang spätestens in den 90er Jahren endgültig in alle Bereiche der Kultur vor. Hatte ihm zu Beginn vielleicht noch ein Gefühl der Verzweifelung angesichts einer unüberwindbar erscheinenden Gesellschaftsordnung und ein ehrlicher Abscheu vor dem Elend und der Grausamkeit der heutigen Welt innegewohnt, so änderte sich dies schon bald. Es bildeten sich zwei Untergruppen heraus. Auf der einen Seite die ‘Tarantino-Schule’ mit ihrer ‘spielerischen’ Darstellung extremer Gewalt. Auf der anderen die ‘ernsthaften’ Erforscher ‘seelischer Abgründe’, die stets zu dem Ergebnis gelangen, dass wir letztlich alle Ungeheuer sind. Beide sehen sich selbst als nonkonformistisch, weil sie gegen die Regeln des ‘guten Geschmacks’ verstoßen, sind in Wahrheit aber äußerst konservativ. Nicht nur rechtfertigen sie ganz allgemein die existierenden Verhältnisse, da sie sie als Ausdruck der unveränderlichen menschlichen Natur darstellen, sie reißen auch alle moralischen Schranken nieder, die dem rücksichtslosen Egoismus im Wege stehen, der im Neoliberalismus zur höchsten Tugend avanciert ist. Wenn alle Menschen Schweine sind, muss sich niemand schämen, sich wie ein Schwein zu benehmen. Doch die Entwicklung bleibt auch an diesem Punkt nicht stehen. Dem misanthropen Zynismus wohnt eine beinahe unwiderstehliche Tendenz zur immer weiteren Degeneration inne. Schließlich wird er Brutalität und Egoismus nicht nur rechtfertigen, sondern verherrlichen. Die ungesunde Faszination für Gewalt und Grausameit wird zum Sadismus. Den bisherigen Tiefpunkt hat das Ganze mit dem ‘Torture-Porn’ der letzten Jahre (Saw & Co) erreicht.

Die Grimdark-Fantasy ist in ihrer Mehrheit ein relativ spätes Produkt des misanthropen Zynismus. Als bereits entsprechend degeneriert erweist sie sich. Dafür gibt es verschiedene Symptome. Da wäre zum Beispiel die beunruhigend große Faszination, die vor allem sexuelle Gewalt auf die meisten ihrer Vertreter ausübt (kein ‘gutes’ grim & gritty - Buch ohne nicht wenigstens eine, gern auch mehrere Vergewaltigungen). Hinzu kommt die Neigung vieler Grimdark-Autoren, die Erniedrigung von Menschen (mehrheitlich Frauen) in schwelgerischer Breite auszuführen. Ganz allgemein verrät der voyeuristische Blick auf Demütigungen, Folterungen und extreme Gewalttaten eine abstoßende Mischung aus Effekthascherei und Sadismus.**** Und wenn ich FerretBrain’s Arthur B. Glauben schenken darf, ist auch die tarantino’sche ‘Coolness’ ein, wenn vielleicht auch eher unterschwelliger, Bestandteil des grim & gritty:
"It's often said by defenders of recent grimdark fantasy [...] that we're not meant to sympathise with whatever ubercool fantasy antihero is being defended at the time - that the whole point of the story is to present either an amoral vision of ‘reality’ [...] or a deliberate ‘wouldn't it be cool if the protagonist were a villain?’ exercise; they claim, in short, that the authors they are defending are occupying a morally neutral stance when they have their protagonist do vile, appalling shit and they're leaving it to the reader to make a judgement call.
This argument is almost always guff. Quite often, there's plenty of little hints in the text to suggest what the author's view of their protagonist is, and their view is almost always ‘my protagonist is an awesome guy’. One of the reasons I'm so fond of the better Elric stories is that Moorcock has no qualms to portray Elric as an unlikable dick, and the things he does as not being cool or edgy or stylish in the slightest, whereas your typical grimdark fantasy author whilst supposedly maintaining a ‘neutral’ narrative stance will, more often than not, make sure to drop in asides about how cool or stylish or awesome the wretch in question is."
Aus eigener Leseerfahrung kann ich das nicht bestätigen, doch wenn ich mir andere künstlerische Produkte des misanthropen Zynismus anschaue, denke ich, das Arthur da einen wichtigen Punkt anspricht. All das Gerede über ‘Realismus’ und ‘Aufbrechen von Klischees’ entpuppt sich bei genauerem Hinsehen oft genug als simple Heuchelei. Ein Blick in die entsprechenden Foren zeigt außerdem sehr schnell, dass viele Fans solch eine abstoßende Gestalt wie Abercrombies Berufsfolterer Glokta tatsächlich als eine Art Held auffassen. Sie lieben ihn, finden ihn irgendwie cool. Und keiner kann mir erzählen, dass der Grund dafür die ‘Dummheit’ der Fans ist, die die unglaublich subversive Intention des Autors nicht verstanden hätten. Eine solche Rezeption muss bereits in den Texten angelegt sein.

Nun ist die Grimdark-Fantasy aber nicht nur das Produkt einer ganz bestimmten historischen Entwicklung, sie wird auch in einem ganz bestimmten geschichtlichen Kontext rezipiert. Sieht man von Martins A Song of Ice and Fire ab, so erschienen die erfolgreichsten Werke des grim & gritty sämtlichst in der Zeit des sogenannten ‘Kriegs gegen den Terror’. Vor dem Hintergrund von Abu Graib, Fallujah, Guantanamo und Bagram Airbase gewinnt die Faszination der Abercrombies und Morgans für Metzeleien und Folterungen eine besonders düstere Note. Nicht dass sie begeisterte Anhänger der Kriege im Irak, in Afghanistan oder Pakistan wären. Die meisten von ihnen werden diesen neokolonialistischen Abenteuern sogar eher kritisch gegenüberstehen. Dennoch bildet ihr grim & gritty die Begleitmusik zu einer Ära der Angriffskriege, der Massaker, der Folter. Einer Ära, in der im Namen von Freiheit und Demokratie erneut die bestialischsten Kräfte im Menschen entfesselt werden, wie uns die Bilder aus Abu Graib in übelkeitserregender Weise vor Augen geführt haben. Einer Ära, die mit dem Abtritt von Bush & Blair keineswegs zu Ende gegangen ist, in der eine amerikanische Außenministerin das Abschlachten eines verfeindeten Staatschefs lachend mit den Worten kommentiert: "We came, we saw, he died", während ein amerikanischer Präsident, der von den Liberalen und ‘Linken’ als Heilsbringer gefeiert wurde, sich das Recht anmaßt, die Ermordung oder lebenslange Einkerkerung eines jeden Menschen auf diesem Erdball zu befehlen, den er zum ‘Terroristen’ erklärt hat. Die Grimdark-Fantasy ist sicher nicht dasselbe wie die unverhohlene Folterpropaganda von 24, und ihr Hang zum Sadismus kann auch nicht mit demjenigen eins zu eins gleichgesetzt werden, den FerettBrain’s Alasdair Czyrnyj in ultrachauvinstischen Computerspielen wie Homefront entdeckt hat. Doch auf ihre Art ist auch sie Teil des "cult of cruelty", der mit dem Ausbruch des westlichen Militarismus von Jahr zu Jahr hässlichere Blüten treibt.

‘Anubis’ beendet seinen Post mit der hoffnungsvollen Bemerkung, sein Eindruck sei, dass die Grimdark-Fantasy ihren Höhepunkt bereits überschritten habe und ein "im Rückzug begriffene[r] Trend" sei. Ich weiß nicht, ob ich seinen Optimismus teilen kann. Über die Entwicklungen auf dem Markt weiß ich viel zu wenig, als dass ich in dieser Hinsicht ein fundiertes Urteil abgeben könnte. Allerdings bin ich überzeugt davon, dass so wie der misanthrope Zynismus seine Geburt und Dominanz gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen verdankte, er auch nur durch solche überwunden werden kann. Die Ereignisse des gerade zuendegegangenen Jahres – von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten über die Massenproteste in Griechenland, Spanien, Portugal, Wisconsin, Israel, China bis hin zur Occupy-Bewegung – geben da freilich Anlass zur Hoffnung. Wie lange es dauern wird, bis sich dieser wiedererwachende Geist der Rebellion auch in der Kunst und schließlich in der Fantasy niederschlagen wird, bleibt abzuwarten. Dass er es tun wird, ist sicher.*****

Ich befürchte, ich werde in naher Zukunft noch einmal auf die Grimdark-Fantasy zurückkommen müssen. Anfang letzten Jahres waren es nämlich die christlichen Fundamentalisten in der US-SF&F-Community (Leo Grin, Theo Beale, John C. Wright), die einen Frontalangriff gegen sie starteten und damit eine Diskussion im Netz auslösten. Und von den Ansichten dieser faschistoiden Gestalten möchte ich meine eigene Kritik an Abercrombie, Bakker, Morgan & Co natürlich ganz klar abgrenzen. Momentan denke ich aber, dass ich nun wirklich lange genug durch die grim & gritty - Scheiße gestapft bin. Als Gegengift werde ich mir jetzt erst einmal PJ Harveys Album Let England Shake anhören, und dann hätte ich große Lust, mal wieder Elizabeth A. Lynns The Northern Girl zu lesen. Das nämlich ist wirklich intelligente revisionistische Fantasy.


* Lawrence’ Eintrag wurde inzwischen wieder gelöscht. Vgl:
** "[Y]ou’d have to have a reading age of about twelve to believe that Abercrombie’s intent here (conscious or sub) is to browbeat lesbians for their temerity in not liking cock. You’d have to never have heard of things like dramatic irony, variable p.o.v, the unsympathetic protagonist, horror by implication, subverted trope, unspoken authorial critique, show-don’t-tell, all ‘at good shit. In short, you would, in literary terms, have to be a child."
"I only wonder why on earth anyone (adult) would want to read something like that (Tolkiens Lord of the Rings)."
*** Tolkien-bashing als Marketingtrick scheint mit Richard Morgan zu einer Mode geworden zu sein.
**** Mark Lawrence zwingt seine Leserinnen und Leser in Prince of Thorns offenbar dazu, die Welt durch die Augen eines blutgierigen Soziopathen, Massenmörders und Serienvergewaltigers zu betrachten. Wer gibt sich so was und wozu soll das gut sein?
***** Dass dies aber wohl noch einige Zeit brauchen wird, zeigt z.B. dieser Post von Catherynne M. Valente.

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