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Samstag, 28. Januar 2012

Der Gentleman von Providence und seine Ängste (I)

Ein Beitrag zur Debatte um H.P. Lovecrafts Rassismus

Nnedi Okorafor gewann im letzten Jahr mit Who Fears Death den World Fantasy Award in der Kategorie ‘Bester Roman’. Eigentlich ein Grund zum Feiern, ist sie doch die erste farbige Schriftstellerin, die diese seit 1975 vergebene Auszeichnung erhalten hat. Doch leider besitzt der Preis die Gestalt einer Lovecraft-Büste, und nachdem ein Freund ihr Lovecrafts widerliche Reimerei On the Creation of Niggers gezeigt hatte, wusste die amerikanisch-nigerianische Autorin nicht mehr so recht, wie sie mit der Auszeichnung umgehen sollte. Im Verlauf der Diskussion, die sich daraufhin sowohl auf ihrer eigenen Website als auch im World SF Blog und auf Facebook entfaltete, meldeten sich eine ganze Reihe SF&F - Schriftstellerinnen & Schriftsteller zu Worte, u.a. Nalo Hopkinson, Will Shetterly, Emma Bull, Jeff VanderMeer, Athena Andreadis und Darrell Schweitzer. China Miéville, der den Preis 2010 mit The City & The City gewonnen hatte, ließ seine Gedanken Nnedi Okorafor persönlich zukommen, und Silvia Moreno-Garcia, Herausgeberin der Anthologien The Historical Lovecraft & The Future Lovecraft, postete einen entsprechenden Artikel in ihrem Blog. Unter den deutschsprachigen Phantastik-Bloggern äußerte sich ‘Anubis’ von Lake Hermanstadt (als einziger?) zu dem Thema.


Dass Lovecraft ein wirklich bösartiger Rassist und Antisemit gewesen ist, dürfte kein Geheimnis sein. Manche entschuldigen dies mit den Verhältnissen seiner Zeit oder mit der eigentümlichen Persönlichkeit des Schriftstellers. Tatsächlich ist dieser zwar nie der weltfremde Eremit gewesen, den die Legende aus ihm gemacht hat, aber man muss in ihm zweifellos einen Exzentriker mit nicht geringen psychischen Problemen sehen, der sich schwer damit tat, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Doch solche Argumente – selbst wenn sie stichhaltig wären – helfen wenig angesichts der Tatsache, dass Lovecrafts Rassismus in beinahe seinem ganzen literarischen Werk deutlich sichtbare Spuren hinterlassen hat. Die extremsten Beispiele dürften The Horror at Red Hook und Medusa’s Coil sein, aber im Grunde stößt man in jeder zweiten Story – von Herbert West bis Haunter of the Dark – auf entsprechende Passagen. China Miéville schreibt in seiner Antwort an Nnedi Okorafor: "Yes, indeed, the depth and viciousness of Lovecraft’s racism is known to me …It goes further, in my opinion, than ‘merely’ *being* a racist - I follow Michel Houellebecq (in this and in no other arena!) in thinking that Lovecraft’s oeuvre, his work itself, is inspired by and deeply structured with race hatred. As Houellebecq said, it is racism itself that raises in Lovecraft a ‘poetic trance’."
Ich frage mich allerdings, ob nicht auch eine Gefahr darin besteht, wenn man sich gar zu sehr auf das rassistische Element konzentriert und es dabei aus dem Gesamtzusammenhang von Lovecrafts Weltsicht löst. Dabei droht der Rassismus zu einer Art Mischung aus persönlicher Marotte und überhistorischem Phänomen zu werden. Bei einer solchen Herangehensweise kann es leicht passieren, dass man seine gesellschaftlichen Wurzeln aus den Augen verliert. So gibt ‘Anubis’ (völlig zurecht) zu bedenken, dass über dem abstoßend offenen Rassenhass Lovecrafts oft vergessen werde, wie weit verbreitet rassistische Einstellungen in der frühen Fantasy waren, und schreibt: "Lange vor der US-amerikanischen Pulp-Fantasy bejubelten Rudyard Kipling, Arthur Conan Doyle und H. Rider Haggard in ihren Lost-Race-Geschichten den europäischen Kolonialismus und Imperialismus." Das ist zwar völlig richtig, dennoch finde es etwas irreführend, wenn man diese Art von Rassismus mit der Lovecrafts gleichsetzt. Nicht weil sie weniger schlimm gewesen wäre, sondern weil sie sich in wichtigen Teilen aus einer ganz anderen Quelle speiste. Conan Doyles und H. Rider Haggards Abenteuergeschichten spiegeln sehr deutlich die Ideologie des britischen Imperialismus wider, und Kipling gilt ja nicht umsonst als der ‘Barde des Kolonialismus’. Dasselbe lässt sich kaum über Lovecraft sagen, auch wenn er insbesondere während des 1. Weltkriegs einige Lobeshymnen auf das Empire verfasste. Sein Rassismus hatte nur sehr wenig mit Kolonialismus, mit ‘Außenpolitik’, dafür jedoch um so mehr mit den Entwicklungen in der US-amerikanischen Gesellschaft, mit ‘Innenpolitik’, zu tun.

Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) entstammte einer wohlhabenden und alteingesessenen Familie aus Providence, Rhode Island, die jedoch nach dem Tod des Großvaters Whipple van Buren Philipps im Jahre 1904 einen plötzlichen wirtschaftlichen Niedergang erlebte. Die ‘Vertreibung’ aus dem palastartigen Familiensitz und der Verlust der sozialen Stellung waren für den vierzehnjährigen Jungen offenbar traumatische Erlebnisse, die er in seinem Unterbewusstsein mit dem Ende der unbeschwerten Kindheit verband. Hierin mögen die psychologischen Wurzeln seines extremen Konservatismus zu suchen sein. Jedenfalls sah er sich Zeit seines Lebens als Vertreter einer kultivierten Aristokratie, die von der ‘rohen Masse’ und den bourgeoisen Geschäftemachern aus ihrer angestammten Stellung an der Spitze der Gesellschaft verdrängt worden war. Als Gegenentwurf zu dieser ‘bösen’ Moderne diente ihm ein idealisiertes Bild des kolonialen Neuenglands vor der Amerikanischen Revolution. Im Zentrum seines Denkens stand der Begriff der Zivilsation, dem er eine ausgesprochen elitäre Bedeutung verlieh: „All I care about is the civilisation – the state of development and organisation which is capable of gratifying the complex mental-emotional-aesthetic needs of highly evolved and acutely sensitive men." (1) Unter ‘Zivilisation’ verstand er also eine Gesellschaftsordnung, die es einer kleinen Gruppe besonders ‘hochentwickelter’ Menschen erlaubt, ein komfortables und von allen materiellen Sorgen befreites Leben zu führen, damit sie sich ganz den Künsten und Wissenschaften widmen können. Diese kultivierte Elite braucht selbstverständlich eine folgsame Arbeitermasse, die ihr alle primitiven und körperlichen Arbeiten abnimmt und die materiellen Grundlagen für ihr ästhetisches Dasein schafft. Diese ohnehin stets zerbrechliche Ordnung sah er von zwei Seiten bedroht. Auf der einen standen die Kapitalisten – an nichts anderem interessiert als an ihrem Profit –, die die Kultur zu einem Geschäft und die Kunst zu einem Vergnügungsartikel gemacht hatten. Auf der anderen der Pöbel, der unter der roten Fahne des Sozialismus aufzubegehren und die Welt in das blutige Chaos der Anarchie zu stürzen drohte.

Ganz sicher teilte Lovecraft von Beginn an die rassistischen Vorurteile der ‘angelsächsischen’, protestantischen Elite Neuenglands, und sein Selbstbild als ‘misshandelter’ Gentleman führte außerdem dazu, dass er sich mit der alten Sklavenhalteraristokratie des Südens identifizierte. So verfasste er u.a. ein Gedicht über die ‘Verbrechen’ des Abolitionismus (De Triumpho Naturae) und einen panegyrischen Heldengesang auf General Lee, den Oberkommandierenden der Konföderierten im Bürgerkrieg. (2) Doch so wichtig diese Elemente auch sein mögen, der wirklich entscheidende Faktor, der die zentrale Bedeutung des Rassismus in Lovecrafts Weltsicht und Kunst erklärt, erschließt sich uns meiner Meinung nach erst, wenn wir uns seinen zahllosen hysterischen Ausfällen gegen die Immigranten zuwenden. Betrachten wir etwa die folgenden Zeilen aus seinem 1916 verfassten Gedicht An American to Mother England:

What man that springs from thy untainted line
But sees Columbia’s virtues all as thine?
Whilst nameless multitudes upon our shore
From the dim corners of creation pour,
Whilst mongrel slaves crawl hither to partake
Of Saxon liberty they could not make,
From such an alien crew in grief I turn,
And for the mother’s voice of Britain burn.

Die angelsächsische ‘Rasse’ bildete für Lovecraft die Basis der traditionellen amerikanischen Gesellschaft, und im Umkehrschluss wurden die ‘fremdstämmigen’ Einwanderer für ihn zur Verkörperung all jener Kräfte, die diese Ordnung zu untergraben und zu vernichten drohten. Und das nicht ohne Grund. Die mehrheitlich aus Ost- und Südeuropa stammenden Immigranten, von denen zwischen 1900 und 1914 jährlich durchschnittlich 890.000 in die Vereinigten Staaten strömten, bildeten einen hohen Prozentsatz der in der immer rasanter wachsenden Industrie beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen. Nicht zufällig steht in Upton Sinclairs Klassiker The Jungle die litauische Einwandererfamilie Rudkus stellvertretend für die amerikanische Arbeiterklasse.

Im selben Jahr 1912, in dem Lovecraft erstmals eines seiner Gedichte veröffentlicht bekam (3), erschütterte ein Ereignis Neuengland, das ausgezeichnet dazu geeignet ist, Licht auf die Bedeutung des lovecraftschen Rassismus zu werfen: Der große Textilarbeiterstreik von Lawrence. Die Männer und Frauen, die für einen Hungerlohn in den Textilfabriken von Massachusetts schufteten und im Januar in den Ausstand traten, waren praktisch alle Immigranten – ein buntes Gemisch aus Italienern, Armeniern, Syrern, osteuropäischen Juden, Frankokanadiern, Polen, Letten, Belgiern usw. Bei der Organisation des Arbeitskampfes, der mehrere Monate dauerte und zu dessen Niederschlagung sogar die Miliz des Bundesstaates mobilisiert wurde, spielten die revolutionär-syndikalistischen Industrial Workers of the World (IWW) eine führende Rolle. Mit ‘Big Bill’ Haywood, einem der bekanntesten militanten Arbeiterführer der Zeit, und Elizabeth Gurley Flynn, der führenden Frauenorganisatorin der ’Wobblies’ an der Ostküste, standen zwei ihrer bedeutendsten Vertreter in Lawrence an vorderster Front. Der erfolgreiche Streik war ein großartiges Beispiel für Arbeitersolidarität über alle nationalen, sprachlichen und religiösen Schranken hinweg. Die bürgerliche Öffentlichkeit sah das freilich etwas anders. Sie erblickte in ihm die Revolte eines ungebildeten, ausländischen Pöbels, der von skrupellosen Demagogen aufgehetzt worden war. John Bruce McPherson schrieb in seiner Darstellung der Ereignisse, die im Bulletin of the National Association of Wool Manufacturers – dem Presseorgan der Textilfabrikanten – veröffentlicht wurde: "Unable to read or to speak the English language, these people are nevertheless great consumers of European revolutionary literature. Unacquainted with our customs; possessing ideals and views of life radically different from ours; of a highly excitable temperament; natives of countries where no representative government exists, and where revolutionary intrigue is a daily occupation, they furnished a fine field for operations by a bold, able, and commanding set of revolutionary leaders."
Wenn Lovecraft über die ‘nameless multitudes’ der Immigranten herzog, meinte er damit immer auch den ‘Mob’, die Arbeiterklasse, im allgemeinen.

Die Russische Revolution von 1917 und der Widerhall, den sie weltweit fand, trieben seine Ängste schließlich bis zur Hysterie. 1919 war ein ausgesprochen stürmisches Jahr in der Geschichte Nordamerikas. Eine gewaltige Welle von Streiks erschütterte den Kontinent von Küste zu Küste, nicht selten initiiert von einfachen Gewerkschaftsmitgliedern gegen den Willen der konservativen Führung der AFL (American Federation of Labor), die während des Krieges einen Burgfrieden mit der Regierung geschlossen hatte. Im Februar und Juni/Juli kam es zu Generalstreiks in Seattle und im kanadischen Winnipeg. Im letzteren Fall übernahm das zentrale Streikkomitee für über einen Monat faktisch die uneingeschränkte Kontrolle über die Stadt. Der Gegenangriff ließ nicht lange auf sich warten. Kaum war der Krieg in Europa zu Ende, da holte die US-Regierung zum vermeintlichen Vernichtungsschlag gegen die radikale Linke aus, dabei auf die patriotische Stimmung im Lande vertrauend und auch die Unterstützung des Lynchmobs nicht verachtend. ‘Wobblies’, Linkssozialisten und Kommunisten wanderten in großer Zahl in die Gefängnisse. Im Verlauf der berüchtigten Palmer Raids wurden zwischen 1919 und 1921 insgesamt ungefähr 10.000 ‘Rote’ verhaftet. Radikale ausländischer Herkunft schob man kurzerhand als ‘unerwünschte Fremde’ ab. Gleichzeitig entsandte Präsident Wilson Interventionstruppen nach Sibirien, um den weißgardistischen Diktator Aleksandr Koltschak in seinem Kampf gegen die Bolschewiki zu unterstützen. Die Kommunistischen Parteien der USA sahen sich direkt nach ihrer Gründung 1919 gezwungen, in den Untergrund zu gehen. Dasselbe Jahr erlebte einen Ausbruch von blutigen Rassenunruhen überall im Land. Der 1915 wiedergegründete Ku Klux Klan und andere rassistische Terrororganisationen leisteten ganze Arbeit. Was die Verteidiger der Jim Crow - Ordnung besonders in Rage versetzte war die Tatsache, dass die Schwarzen sich immer selbstbewusster gegen Übergriffe ihrer Unterdrücker zur Wehr setzten und nicht länger davor zurückschreckten, dabei auch selbst zur Waffe zu greifen. Als man ihre Führer daraufhin als ‘Bolschewisten’ beschimpfte, veranlasste das die radikale Zeitung Crusader zu der Erwiederung: "Wenn jeder, der für seine Rechte kämpft, ein Bolschewist ist, dann sind wir Bolschewisten, und sie können es damit halten, wie sie wollen." (4)

Derweil sich die amerikanische Presse tagtäglich in neuen Schreckensmeldungen über die allgegenwärtige ‘rote Gefahr’ überschlug, schrieb Lovecraft die kurze Erzählung The Street , in der er seine Sicht der amerikanischen – vorzugsweise neuenglischen – Geschichte und Gegenwart anhand des allegorischen Schicksals einer Straße darlegt. Die Erbauer sind natürlich die Angelsachsen, "men of strength and honour ... good valiant men of our blood who had come from the Blessed Isles across the sea.". Zu Beginn ist alles hübsch, reinlich und kultiviert, aber der Zerfall dieses Idylls lässt nicht lange auf sich warten. Die Amerikanische Revolution – Emersons "shoot heard round the world" – wird mit wenigen Worten als eine kaum erwähnenswerte Unterbrechung im gemächlichen Fluss der Zeit abgetan: "Though men talked of great changes, the Street felt them not". Bald darauf beginnt der Niedergang. Die Menschen fangen an, den edlen Geist der alten Straße zu vergessen. Die schönen Bäume sterben nach und nach ab, die hübschen Rosengärten verwildern. Von der Zweiten Revolution – dem Bürgerkrieg – erfahren wir lediglich, dass junge Männer in blauer Uniform aus der Stadt marschieren, um in den Kampf zu ziehen. Wofür sie kämpfen, ist offenbar uninteressant. Lovecrafts Sympathien gehörten halt nicht Lincoln und den Yankees, sondern General Lee und den Sklavenhaltern. Derweil setzt sich der Verfall immer weiter fort: "With the years, worse fortune came to the Street. Its trees were all gone now, and its rose-gardens were deplaced by the backs of cheap, ugly new buildings on parallel streets." Und schließlich tauchen die Immigranten auf: "New kinds of faces appeared in the Street, swarthy, sinister faces with furtive eyes and odd features, whose owners spoke unfamiliar words and placed signs in known and unknown characters upon most of the musty houses. Push-carts crowded the gutters. A sordid, undefinable stench settled over the place, and the ancient spirit slept." Der Weltkrieg verspricht, noch einmal den alten Geist wiederzubeleben, als die amerikanischen Jungs sich aufmachen, dem "Motherland" in seinem "titanic struggle for civilization" jenseits des Meeres beizustehen. Doch die finsteren Ausländer planen bereits Übles und haben inzwischen auch einige ‘echte’ Amerikaner zur Mitarbeit bei ihrem infernalischen Vorhaben verführt:
"Swarthy and sinister were most of the strangers, yet among them one might find a few faces like those who fashioned the Street and moulded its spirit. Like and yet unlike, for there was in the eyes of all a weird, unhealthy glitter as of greed, ambition, vindictiveness, or misguided zeal. Unrest and treason were abroad amongst an evil few who plotted to strike the Western Lands its death blow, that they might mound to power over its ruins, even as assassins had mounted in that unhappy, frozen land from which most of them had come."
Da haben wir sie also, die fürchterliche bolschewistische Revolution! Die geheimen Versammlungsorte der subversiven Schurken tragen so klangvolle Namen wie „Rifkin’s School of Modern Economics" (5), „Circle Social Club", „Liberty Cafe" oder „Petrovich’s Bakery". Dort hocken sie nun im dunklen Kämmerchen, die Terroristenführer, und planen das große Gemetzel und „the extermination of America and of all the fine old traditions": "Handbills and papers flittered about filthy gutters; handbills and papers printed in many tongues and in many characters, yet all bearing messages of crime and rebellion. In these writings the people were urged to tear down the laws and virtues that our fathers had exalted, to stamp out the soul of the old America – the soul that was bequeathed through a thousand and a half years of Anglo-Saxon freedom, justice and moderation. It was said that the swart men who dwelt in the Street and congregated in its rotting edifices were the brains of a hideous revolution, that at their word of command many millions of brainless, besotted beasts would stretch forth their noisome talons from the slums of a thousand cities, burning, slaying and destroying till the land of our fathers should be no more."
Als zu allem Überfluss auch noch die Polizisten das Interesse an „law and order" verlieren und nicht mehr zum Dienst antreten, scheint die Katastrophe unausweichlich. Doch kurz bevor die Revolution ausbricht geschieht ein Wunder: Die Häuser stürzen plötzlich in sich zusammen und begraben das ganze revolutionäre Lumpenpack unter sich. Die Straße selbst hat ihre Feinde zerschmettert. Amerika und die westliche Zivilisation sind gerettet. Amen.
Wenn die Story nicht in den USA, sondern in Deutschland spielen würde, Adolf Hitler hätte sie sicher gefallen. Nur die Judennasen fehlen bei der Beschreibung der dunkelhäutigen, übelriechenden und Revolutionen ausheckenden Bande. Freilich war es in bürgerlichen Kreisen seit jeher üblich gewesen, den Sozialismus als eine ‘unamerikanische’ Idee zu betrachten, die von ausländischen Agitatoren in die gesegneten Gefilde der USA eingeschleppt wurde. Lovecrafts Geschichte unterschied sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich von der allgemeinen antikommunistischen Hetze des Jahres 1919. (6)

The Street wurde inspiriert vom Streik der Bostoner Polizisten im September/Oktober 1919, die für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, bessere Arbeitsbedingungen, vor allem aber für das Recht kämpften, sich gewerkschaftlich organisieren zu dürfen. (7) Nachdem Police Comissioner Curtis sich geweigert hatte, irgendwelche Vorkehrungen für den sich abzeichnenden Streik zu treffen, war es am ersten Tag der Arbeitsniederlegung zu Unruhen und Plünderungen gekommen. Dass Gouverneur Coolidge und sein Untergebener Curtis es ganz bewusst zu Chaos und Gewalt hatten kommen lassen, lässt sich zwar nicht beweisen, doch in der Autobiographie des späteren US-Präsidenten findet sich dazu eine vielsagende Passage. Coolidge schreibt dort, dass die rechtzeitige Mobilisierung der Garde „probably would have saved some property, but would have decided no issue. In fact it would have made it more difficult to maintain the position Mr. Curtis had taken, and which I was supporting, because the issue was not understood, and the disorder focused public attention on it, and showed just what it meant to have a police force that did not obey orders." Die amerikanische Bevölkerung sollte offenbar eine Lektion in Sachen ‘Anarchie’ erteilt bekommen. In Seattle und Winnipeg hatte der Generalstreik nicht zum prophezeiten Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung geführt. Vielmehr hatten die Arbeiterorganisationen bewiesen, dass sie ein Gemeinwesen leiten und organisieren konnten. In Boston nun endlich zeigte die ‘Revolution’ ihre blutige Fratze. Und Politiker wie Presse wussten dies trefflichst auszuschlachten. Senator Henry L. Myers verkündete zwei Tage nach Ausbruch des Streiks, "that a Soviet government will be established in the United States before the next presidential elections unless firm action is taken. He called upon Congress to defeat all attempts to unionize the police force of the national capital, declaring that if such unionization is permitted, the police forces in every city and town of more than 2000 population will be unionized within sixty days, that such unionization will be followed by the unionization of the Army and Navy, and that immediately thereafter the Soviet government will be established ... The police strike in Boston will be followed by other strikes ... He intimated that some powerful force was behind the attempts of police in fifty cities to affiliate with labor unions."
Die Presse stieß ins selbe Horn und veröffentlichte einen hysterischen Leitartikel nach dem anderen. Die Los Angeles Times schrieb: „No man's house, no man's wife, no man's children, will be safe if the police force is unionized and made subject to the orders of the Red Unionite bosses." Der Philadelphia Public-Ledger legte nach: „Bolshevism in the United States is no longer a specter. Boston in chaos reveals its sinister substance." Präsident Wilson schließlich erklärte den Streik in dem ihm eigenen predigerhaften Tonfall zu einem „crime against civilization."

Lovecraft teilte voll und ganz diese apokalyptische Sicht der Dinge. Der Tag, an dem der Schutzmann an der Ecke plötzlich nicht mehr da war, schien ihm der Vorabend des Weltuntergangs zu sein. In einem Brief an den jungen Dichter Frank Belknap Long schrieb er später: "Last fall it was grimly impressive to see Boston without bluecoats, and to watch the musket-bearing State Guardsmen [die als Ersatz für die streikenden Polizisten dienten] patrolling the streets as though military occupation were in force. They went in pairs, determined-looking and khaki-clad, as if symbols of the strife that lies ahead in civilisation's struggle with the monster of unrest and bolshevism."

Lovecrafts giftige Mischung aus Rassismus und Antikommunismus war in den Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit keineswegs besonders exzentrisch. Vielmehr war er damit Teil einer breiten rechtsradikalen Strömung unter amerikanischen Intellektuellen, deren wohl bekanntester Vertreter der Eugeniker und Rassentheoretiker Lothrop Stoddard war – kein obskurer Außenseiter, sondern ein anerkannter Harvard-Akademiker, zu dessen Bewunderern u.a. zwei Präsidenten (Warren Harding & Herbert Hoover) gehörten. Sein 1920 erschienenes Buch The Rising Tide of Colour ist eines der Standardwerke des weißen Rassismus. In Bezug auf Lovecraft von weit größerem Interesse ist allerdings sein zwei Jahre später veröffentlichtes Werk The Revolt Against Civilzation: The Menace of the Under-Man.

Stoddard ging es in erster Linie um eine ‘wissenschaftliche’ Legitimation der Klassenunterschiede in der kapitalistischen Gesellschaft, die er auf biologische, genetisch vererbte Grundlagen zurückführte. Die herrschende Elite einer Gesellschaft bestehe stets aus den biologisch am weitesten entwickelten Vertretern einer Rasse, die von Natur aus klüger, fleißiger, energischer seien als die breite Masse der ‘durchschnittlich begabten’. Wichtigstes Ziel einer Gesellschaft und Voraussetzung für ihren Erhalt sei es deshalb, das Erbgut der Elite rein zu halten und möglichst mit eugenischen Mitteln noch zu verbessern. In diesem Zusammenhang attackierte Stoddard einige der grundlegenden Ideen der Aufklärung, so vor allem die Vorstellung, das soziale Umfeld übe einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Individuums aus, wobei er mit seinen Angriffen bis auf John Locke zurückging. Den Hauptfeind aber erblickte er in der infernalischen Idee der Gleichheit.
We hold these truths to be self-evident, that all men are ceated equal; that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights; that among these, are life, liberty, and the pursuit of happiness." Die berühmten Sätze der Unabhängigkeitserklärung von 1776 hatten am Anfang der Geschichte der Vereinigten Staaten gestanden. Stoddard trat dafür ein, dieses Erbe nun endgültig und offiziell über Bord zu werfen. Die Idee der Gleichheit widerspreche nicht nur den Erkenntnissen der modernen Biologie, sie sei vor allem die Parole der ‘Untermenschen’, deren Revolte den Untergang der westlichen Zivilisation herbeizuführen drohe. Begonnen habe dieser Aufstand mit der bolschewistischen Revolution in Russland, und er werde von den Kommunisten nun im Rahmen der Dritten Internationale weltweit vorbereitet.
Die ‘Untermenschen’ bilden den Bodensatz der Gesellschaft. Aufgrund ihres niedrigen biologischen Entwicklungsstandes unfähig, sich in die komplexen Strukturen der Zivilisation einzufügen, und beherrscht von ihren animalischen Trieben, lechzen sie danach, die ihnen verhasste Ordnung zu zerstören und die Welt in das Chaos der Anarchie zu stürzen: „We must realize clearly that the basic attitude of the Under-Man is an instinctive and natural revolt against civilization. [...] Every society engenders within itself hordes of savages and barbarians, ripe for revolt and ever ready to pour forth and destroy." Der Schlachtruf der ‘Untermenschen’ lautet stets ‘Gleichheit’. Alle großen Revolutionen der Vergangenheit – vor allem die Französische zur Zeit der Jakobinerherrschaft – waren solche Revolten der geistig und genetisch Minderbemittelten. Ihr Charakter ist stets derselbe:
"Such upheavals are profoundly terrible. I have described them as ‘atavistic.’ And that is just what they are – ‘throw backs’ to a far lower social plane. The complex fabric of society, slowly and painfully woven, is torn to tatters; the social controls vanish, and civilization is left naked to the assaults of anarchy. In truth, disruption goes deeper still. Not only is society in the grip of its barbarians, but every individual falls more or less under the sway of his own lower instincts. For, in this respect, the individual is like society. Each of us has within him an ‘Under-Man,’ that primitive animality which is the heritage of our human, and even our prehuman, past."
Die Revolution ist nicht nur der Aufstand der Barbaren, der genetisch Wertlosen und Geisteskranken – Stoddard beschreibt die bolschewistischen Führer als einen Haufen von „degenerates, of more or less unsound mind [...] most of them alcoholics, a majority syphilitic, while many [are] drug fiends" –, sie ist zugleich ein atavistischer Rückfall auf eine niedrigere Stufe der kulturellen Entwicklung und eine Entfesselung der primitiven Triebe im Individuum.

Wie Lovecraft kombinierte auch Stoddard seine Tiraden gegen die bolschewistischen Terroristen und ‘Gleichmacher’ mit einem ausgeprägten Rassismus. Bereits im Einleitungskapitel seines Buches teilt er die Menschheit in drei Gruppen ein, dabei das bekannte historische Schema Lewis H. Morgans ‘Wildheit-Barbarei-Zivilisation’ rassistisch umdeutend. An unterster Stelle stehen die „survivals of low-type savage man, such as the Bush-men of South Africa and the Australian ‘Black-fellows,’ [which] have vegetated for countless ages in primeval squalor and seem incapable of rising even to the level of barbarism, much less to that of civilization." Deren schrittweise Ausrottung durch den europäischen Kolonialismus betrachtet der Eugeniker mit unverhohlener Genugtuung: „It is fortunate for the future of mankind that most of these survivals from the remote past are to-day on the verge of extinction. Their persistence and possible incorporation into higher stocks would produce the most depressive and retrogressive results." Ein größeres Problem stellen all jene Rassen dar, die auf der Entwicklungsstufe der Barbarei stehen geblieben sind, denn sie bilden eine ständige Bedrohung für die Zivilisation „To such barbarian stocks belong many of the peoples of Asia, the American Indians, and the African negroes." Wie nicht anders zu erwarten bilden die weißen Europäer – die ‘Arier’ – die Spitze der Evolutionspyramide, auch wenn Stoddard die Errungenschafen vergangener nichteuropäischer Hochkulturen wie Mesopotamien, Ägypten, Indien oder China durchaus anerkennt. Doch deren herrschende Rassen seien längst stagniert oder in fortschreitender Degeneration begriffen. An anderer Stelle nimmt der Autor eine Einteilung der US-amerikanischen Bevölkerung in vier Klassen vor, die mehr oder weniger den Vorstellungen Lovecrafts entsprochen haben dürfte. Es sei wissenschaftlich bewiesen,
"(1) That the old ‘Native American’ stock, favorably selected as it was from the races of northern Europe, is the most superior element in the American population; (2) that subsequent immigrants from northern Europe, though coming from substantially the same racial stocks, were less favorably selected and average somewhat less superior (8); (3) that the more recent immigrants from southern and eastern Europe average decidedly inferior to the north European elements; (4) that the negroes are inferior to all other elements."
Neben der bolschewistischen Revolte der ‘Untermenschen’ stellen die Immigranten die zweite große Bedrohung für die amerikanische Zivilisation und die genetische Reinheit ihrer Elite dar: "To-day, the progress of science may have freed our own civilization from the peril of armed conquest by barbarian hordes; nevertheless, these peoples still threaten us with the subtler menace of ‘pacific penetration.’ Usually highly prolific, often endowed with extraordinary physical vigor, and able to migrate easily, owing to modern facilities of transportation, the more backward peoples of the earth tend increasingly to seek the centres of civilization, attracted thither by the high wages and easier living conditions which there prevail. The influx of such lower elements into civilized societies is an unmitigated disaster. It upsets living standards, socially sterilizes the higher native stocks, and if (as usually happens in the long run) interbreeding occurs, the racial foundations of civilization are undermined, and the mongrelized population, unable to bear the burden, sinks to a lower plane."

Der moderne Rassismus hat stets in einer innigen Verbindung zur Verteidigung der sozialen Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft gestanden. Die Grundzutaten, aus denen Stoddard sein übelschmeckendes Gebräu zusammengemixt hat, sind deshalb altbekannt. Originell an seinem Machwerk ist höchstens die Heranziehung moderner ‘wissenschaftlicher’ Methoden wie des Intelligenztests, der damals gerade in Mode kam und während des Weltkriegs von dem Psychologen Robert Yerkes in großem Umfang in der US-Armee durchgeführt worden war. Außerdem stattete Stoddard sein Buch mit umfangreichem ‘Quellenmaterial’ über den Roten Terror in Russland aus. Wie dem auch sei – für das Amerika der 20er Jahre war Revolt against Civilization ohne Zweifel das klassische Manifest rechtsradikalen Denkens, und mit seiner pseudowissenschaftlichen Aufmachung kommt es Lovecrafts eigener Weltanschauung sehr nahe. Stoddard ist keine angenehme Lektüre, aber ich denke, durch ihn versteht man sehr viel besser die Ängste, die Lovecraft quälten und seinem ganzen Ouevre zugrundeliegen, insbesondere seinem berühmten Cthulhu-Mythos.



(1) H.P. Lovecraft: Selected Letters. Bd. II. S. 290. Zit. nach: S.T. Joshi: H. P. Lovecraft.
(2) Von hier führt ein direkter Weg zu der 1930 im Auftrag von Zealia Bishop ‘überarbeiteten’ (d.h. hauptsächlich von Lovecraft selbst verfassten) Story Medusa’s Coil.
(3) In dem er nebenbei bemerkt eine Bewegung italienischstämmiger Bürger von Providence verspottete.
(4) Zit. nach: John Hope Franklin & Alfred A. Moss, Jr.: Von der Sklaverei zur Freiheit. Die Geschichte der Schwarzen in den USA. S. 497.
(5) Eine Anspielung auf die sozialistische Rand School of Social Science in New York, die im Sommer 1919 einer Großrazzia durch das Lusk Comitee unterzogen worden war?
(6) Man braucht sich bloß zeitgenössische Zeitungskarrikaturen anzuschauen: (1), (2), (3), (4), (5), (6), (7), (8)
(7) Dass einer der Treffpunkte der Revolutionäre den Namen Circle Social Club trägt, könnte eine Anspielung auf den Boston Social Club sein, der im Zusammenhang mit dem Polizistenstreik eine wichtige Rolle spielte. Dieser war allerdings kein Hauptquartier ausländischer Bolschewisten, sondern eine bruderschaftliche Vereinigung, die 1906 von Police Comissioner Stephen O’Meara gegründet worden war. Die folgenden Zitate stammen aus Zachary M. Schrags Nineteen Nineteen: The Boston Police Strike in the Context of American Labor.
(8) Da Lovecrafts Vorfahren väterlicherseits nicht zu den ersten Einwanderern gehört hatten (im Unterschied zur mütterlichen Linie der Philippses, die sich beinahe bis zur Mayflower zurückverfolgen ließ), hätte er Stoddard in diesem Punkt sicher nicht zugestimmt. Eine frische Dosis urenglischen Blutes hatte die Ahnenreihe seiner Ansicht nach eher aufgewertet.

Die Rückkehr der Revolution (I)


Ein Jahr Tahrir-Platz

Am 25. Januar 2011 strömen Zehntausende auf dem Tahrir-Platz in Kairo zusammen und fordern den Sturz von Diktator Hosni Mubarak. Die aufmarschierten Polizeikräfte können sie nicht länger einschüchtern. Ähnliche Szenen spielen sich am selben Tag in einer Reihe von ägyptischen Städten ab. Seit 1977 hat es vergleichbares im Land am Nil nicht mehr gegeben. Die Ägyptische Revolution hat begonnen.

Es handelt sich um einen spontanen Aufstand der Massen, die dem Beispiel des tunesischen Volkes folgend, das kurz zuvor den prowestlichen Diktator Zine El Abidine Ben Ali gestürzt hat, nun auch mit ihren Machthabern abzurechnen gedenken. Die ‘offizielle’ Opposition – sowohl die Muslimbruderschaft als auch der Ex-IAA-Chef Mohammed ElBaradei und seine liberalen Anhänger – stehen der Bewegung feindlich gegenüber. Sie fürchten das ‘Chaos’. Mubaraks Freunde und Geldgeber in Washington, die den Unterdrückungsappart des ägyptischen Militärs mit eineinhalb Milliarden Dollar pro Jahr finanziert haben, sind geschockt. US-Außenministerin Hillary Clinton beeilt sich zu erklären: „[T]he Egyptian government is stable and is looking for ways to respond to the legitimate needs and interests of the Egyptian people." Obamas Pressesprecher Robert Gibbs betont, der ägyptische Präsident sei ein wichtiger Verbündeter, Vizepräsident Joe Biden bezeichnet ihn als einen ‘verantwortungsvollen’ Politiker, den man keineswegs als Diktator bezeichnen könne. De facto geben sie damit grünes Licht für die gewaltsame Unterdrückung des Aufstands.

Doch es zeigt sich sehr schnell, dass die Bewegung nicht mit den üblichen Mitteln von Polizeiknüppel und Tränengas niedergeschlagen werden kann. Vielmehr wächst sie von Tag zu Tag. Bald sind es Hunderttausende, schließlich Millionen, die den Tahrir-Platz zum Herz und Symbol der Revolution machen. Das Regime lässt Polizei, Geheimdienst und gemietete Schlägertrupps über die Demonstranten herfallen. Aber auch Mord, Verhaftungen und Folter können den Kampfeswillen der Menschen nicht brechen. Der Chef des verhassten Geheimdienstes Omar Suleiman, Mubaraks Cheffolterer und Liebling der CIA, wird zum Vizepräsidenten ernannt. Das ägyptische Volk antwortet mit Hohn und Wut.

Als es ihrem guten Freund Mubarak offenbar nicht gelingt, die Revolution im Keim zu ersticken, verlegen sich die westlichen Regierungen auf das, worauf sie sich so gut wie niemand sonst verstehen: schamloseste Heuchelei. Barack Obama, Meister dieses Faches, ermahnt sowohl die Prügel- und Mordbrigaden des Regimes als auch die Demonstranten, die sich mutig gegen deren Angriffe verteidigen, zur Gewaltlosigkeit. Hillary Clinton legt noch eins drauf, und erklärt ohne zu erröten: „We continue to urge the Egyptian government, as the United States has for 30 years, to respond to the legitimate aspirations of the Egyptian people and begin to take concrete steps to implement democratic and economic reform." Tatsächlich haben die USA die Militärdiktatur in Ägypten nicht nur finanziert, sondern ihr auch gern mal ‘Terrorverdächtige’ zur Folter ‘ausgeliehen’. Auf gar keinen Fall, das wird von US-Seite immer wieder betont, werde man die finanzielle Unterstützung des Regimes einstellen. Neben Israel und der Autokratie von Saudi-Arabien ist Ägypten der wichtigste US-Verbündete im Nahen Osten, und eine wirkliche Demokratie am Nil wäre eine Horrorvorstellung für Washington, wie Graeme Bannerman, ehemaliger Analyst für das Außenministerium, ganz offen eingesteht: „Popular opinion in the Middle East runs so against American policies that any change in any government in the Middle East that becomes more popular will have an anti-American and certainly less friendly direction towards the US which will be a serious political problem for us." Aber obwohl Obama sich weiterhin weigert, Mubaraks Rücktritt zu fordern, zeigt man sich in Washington angesichts der Massenbewegung nun offenbar eher geneigt, darüber nachzudenken, ob man die Person des alten Kumpanen aus Kairo nicht den Wölfen der Revolution opfern sollte. Das beliebteste Schlagwort westlicher Politiker lautet von nun an ‘geordneter Übergang’ zu einem leicht gelifteten Militärregime. Auf keinen Fall dürfe ‘der Straße’ die Initiative überlassen werden. Fast täglich finden Gespräche zwischen dem Pentagon und den ägyptischen Generälen statt, und Stabschef Mike Mullen drängt seine Kollegen dazu, für eine ‘Rückkehr zur Ruhe’ zu sorgen. Die Regierungschefs der EU beraten derweil darüber, wen sie am liebsten als Nachfolger Mubaraks sehen würden. Omar Suleiman oder doch lieber den Generalsekretär der Arabischen Liga Amr Mussa? Nur eins ist klar: Das ägyptische Volk hat darüber nicht zu entscheiden. Auf der 47. Münchener Sicherheitskonferenz wiederholen Angela Merkel & Co. immer wieder papageiengleich die Parole vom ‘geordneten Übergang’ und betonen, es dürfe auf keinen Fall ‘verfrühte’ Wahlen geben, das würde lediglich den ‘Radikalen’ zugute kommen.

Aber die ‘Straße’ hat ihren eigenen Kopf und gehorcht keinen Befehlen aus Washington, Brüssel oder München. Die Männer und Frauen auf dem Tahrir-Platz, in Suez, Mahalla-al Kubra, Port Said, Luxor, Assuan, Alexandria, überall im Land setzen ihren Kampf entschlossen und mutig fort, ohne auf die ‘guten Ratschläge’ jener zu achten, die noch gestern ihre Unterdrücker umarmten und umschmeichelten.

Inzwischen ist Friedensnobelpreisträger ElBaradei aus Österreich an den Nil geeilt und bemüht sich nach Kräften, die Revolution abzuwürgen. Während die Schergen der Militärs weiterhin knüppeln und morden, wird ein Treffen zwischen ihm, Omar Suleiman und Vertretern der Muslimbruderschaft sowie der ‘linken’ Partei Tagammu für den 6. Februar vorbereitet. Doch keiner dieser ‘Oppositionellen’ hat wirklichen Einfluss auf die Massen, die solche Verhandlungen strikt ablehnen. Mit ihren Manövern beweisen sie nur, dass alle Fraktionen der ägyptischen Elite den Interessen der arbeitenden Bevölkerung feindlich gegenüberstehen und nichts so sehr fürchten, wie einen radikalen Umsturz.

In ihrer dritten Woche tritt die Revolution schließlich in eine neue Phase. Überall im Land brechen Streiks aus. Arbeiter und Arbeiterinnen in der Textil-, Öl- und Stahlindustrie, im Öffentlichen Dienst, den Banken, am Suez-Kanal treten in den Ausstand. Von den westlichen Medien weitgehend ignoriert, ist es dieser Eintritt der Arbeiterklasse als Arbeiterklasse in die Bewegung, der den entscheidenden Anstoß zum Sturz Mubaraks am 11. Februar gibt. Einen Tag zuvor hatte ElBaradei das Militär beschworen, einzugreifen, um ‘das Land zu retten’. Sollte der Präsident nicht zurücktreten, so drohe eine ‘Explosion’, ein offener Aufstand. Tatsächlich läuft die Dynamik der Ereignisse in Richtung Generalstreik und man diskutiert bereits einen Marsch auf den Präsidentenpalast. Mubarak klammert sich an die Macht, doch die Generäle gelangen nach Absprachen mit Washington zu der Überzeugung, es sei klüger, sich von dem alten Diktator zu trennen. Unter Führung von Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi übernehmen sie selbst die Staatsführung.

Nachdem die Galleonsfigur gefallen ist, sehen die westlichen Regierungen und die Mehrzahl der ‘offiziellen’ Medien die Revolution für beendet an. Eine Junta, die ein paar unverbindliche Sprüche über kommende Wahlen von sich gibt, ist genau die Form von ‘Demokratie’, die sie dem ägyptischen Volk zugestehen. Tatsächlich ist der Sturz Mubaraks nur eine Etappe der Revolution, wenn auch eine wichtige und von den Massen begeistert gefeierte. Die SCAF [Supreme Council of the Armed Forces] - Junta hingegen zeigt sich vom ersten Tag ihres Bestehens an als Zentrum der Konterrevolution. Bereits am ersten Wochenende versucht sie, den Tahrir-Platz räumen zu lassen, und lässt beinahe täglich Aufrufe ergehen, in denen sie das Ende aller Streiks und Proteste fordert. Am 18. Februar erklärt sie, dass sie die ‘Fortsetzung dieser illegalen Aktionen, die eine Gefahr für die Nation darstellen’ nicht länger tolerieren werde. Die Notstandsgesetze bleiben weiterhin in Kraft, und die Aufgabe, die Verfassung zu überarbeiten, wird einem handverlesenen Komitee von acht Juristen übergeben. Die ‘offizielle’ Opposition spricht der Junta dennoch ihre Unterstützung aus. ElBaradei erklärt: „We trust the army and call upon people to give them the opportunity to implement what they promised." Mohammed el-Katatni von der Muslimbruderschaft verkündet gar: „The main goal of the revolution has been achieved." Die westlichen Regierungen ihrerseits sind rasch dabei, neue Milliarden für die ägyptischen Militärs locker zu machen, was der Öffentlichkeit selbstredend als ‘Hilfe beim Übergang zur Demokratie’ verkauft wird.

Obwohl die Massendemonstrationen auf dem Tahrir-Platz vorerst aufgehört haben, ist es nach Mubaraks Sturz nicht zu einem Nachlassen der Streikaktivität gekommen. Diese hat eher noch zugenommen. Überall im Land fordern Arbeiterinnen und Arbeiter Lohnerhöhungen, das Recht auf Arbeit, die Entlassung korrupten Führungspersonals, eine massive Anhebung der Minimallöhne, entschiedene Maßnahmen gegen die krasse soziale Ungleichheit, wirkliche demokratische Freiheiten, eine rasche Aburteilung der Führer des alten Regimes und ihrer Handlanger. Immer häufiger erschallt auch der Ruf nach einem Rücktritt Tantawis, der als ein enger Ver-bündeter Mubaraks allgemein verhasst ist. Auch wenn die Junta vor einer direkten Konfrontation zwischen Armee und Volk vorerst zurückschreckt, gleichen ihre Methoden im Umgang mit den Protesten und Streiks doch ganz denen Mubaraks: Massenverhaftungen, Folter, sexuelle Misshandlungen, Militärgerichte (bis zur Jahresmitte wird es 10.000 Verurteilungen geben).

Die pseudodemokratische Farce eines Referendums über acht Verfassungszusätze, die die Generäle am 19. März aufführen lassen, lockt gerade einmal 41% der Wahlberechtigten an die Urnen. Und selbst diese Zahl ist wohl zu einem Gutteil der massiven Propaganda der Muslimbruderschaft geschuldet. Vier Tage später erlässt die Junta ein Gesetz, das sämtliche Streiks, die die Wirtschaft, staatliche Institutionen, öffentliche Einrichtungen, private oder staatliche Unternehmen beeinträchtigen, unter Androhung einer Strafe von bis zu 500.000 E£ oder einem Jahr Gefängnis verbietet. Am selben Tag ist US-Verteidigungsminister Robert Gates zu Besuch in Kairo und lobt das Militär für seine ‘konstruktive Rolle’ bei der Aufrechterhaltung der ‘Stabilität’.

Anfang April versammeln sich erneut über hunderttausend Menschen auf dem Tahrir-Platz. Die Stimmung ist kämpferisch. Wie einer der jungen Demonstranten erklärt: „Tantawi and all the other representatives of the Mubarak regime should go immediately. This is the demand of the revolution. From the beginning, our slogan has always been: ‘The people want the overthrow of the regime’. But the regime is still in power; only a few heads at the top have been removed. Tantawi stands for the old system more than any of them. He was defence minister under Mubarak for 20 years, and he was in the US at the outbreak of the revolution".
Die Junta antwortet mit verstärkter Brutalität. Mehrere Menschen werden von Sicherheitskräften getötet, und Generalmajor Adel Emarah verkündet: „Tahrir Square will be emptied of protesters with firmness and force to ensure life goes back to normal". Am 11. Mai wird der auf den Notstandsgesetzen beruhende Ausnahmezustand um zwei Jahre verlängert. Daneben beginnt das Schüren religiöser Konflikte zwischen Muslimen und Kopten eine immer größere Rolle zu spielen. Die von der Junta überarbeitete Verfassung enthält weiterhin den von Anwar as-Sadat 1980 eingeführten Artikel 2: „Islam is the religion of the state [...] The principles of Islamic law are the chief source of legislation." Die Muslimbruderschaft, einst Erzfeind der Generäle, ist im Verlauf der Revolution zu einem ihrer wichtigsten Verbündeten geworden. Als der Shura-Rat der Brüder am 29./30. April in Kairo zusammentritt, verabschiedet er eine Resolution, in der es u.a. heißt: „He [Mohammed Badie, Führer der Brüder] lauded the role of the armed forces in preserving the revolution and the state and for being keen on the rapid transfer of authority to the people by way of free and fair elections, and pointed out the necessity of preserving the cohesion, unity, and strength of the Armed Forces." Auch die USA gelangen allmählich zu der Überzeugung, dass man in den Islamisten weniger einen Gegner, als vielmehr einen möglichen Partner sehen sollte. Die Hauptrolle in den antikoptischen Pogromen fällt allerdings der von Saudi-Arabien geförderten Salafisten-Bewegung zu. Das Regime beschränkt sich scheinbar darauf, seine Sicherheitskräfte zurückzuhalten, während Kirchen niedergebrannt werden. Gleichzeitig werden die religiösen Unruhen zum Anlass genommen, die ‘eiserne Hand’ des Staates zum Schutz vor der ‘Anarchie’ zu beschwören. Diese ‘eiserne Hand’ bekommen dann allerdings in erster Linie demonstrierende Kopten zu spüren.

Während der Massendemonstration vom 27. Mai – dem ‘zweiten Tag des Zorns’ – wird erstmals der Ruf nach einer ‘zweiten Revolution’ laut. Die Muslimbruderschaft und andere islamistische Gruppen wie die Salafisten und Al-Gama'a al-Islamiyya verurteilen die Proteste und beschimpfen deren Teilnehmer als ‘Säkularisten und Kommunisten’. Bizarrerweise benutzt der bekannte Kommentator Galal Nassar von Al-Ahram ausgerechnet den wachsenden Einfluss der Salafisten als Argument gegen die Demonstranten. Er bezeichnet sie als Schachfiguren einer schattenhaften Macht, die den ägyptischen Staat zerstören wolle: „[T]he HCAF [Higher Council of the Armed Forces = SCAF] is sitting across the table from a player, or perhaps several players, who are determined to bring Egypt to its knees. This is a player that has every intention of stirring up trouble in the hope of triggering a clash between the nation and the army." Was er wirklich fürchtet, wird am Ende seines Artikels deutlich: „Unless we stop this chaos, another revolution may follow, and this time it will be the revolution that sociologists warned us of before 25 January: the revolution of the hungry ." Damit spricht Nassar stellvertretend für die ganze Elite Ägyptens – liberal, säkular und islamistisch.

Einige symbolische Gesten wie die Auflösung von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei gehen Hand in Hand mit immer brutaleren Attacken gegen Arbeiter, Bauern, Studenten und Demonstranten. Am 8. Juni erklärt die Junta, sie werde ihr Antistreikgesetz nun mit aller Härte durchsetzen. US-Stabschef Mike Mullen, der gerade zu Gast bei seinen ägyptischen Kollegen ist, überschüttet diese am selben Tag mit Lobeshymnen. Er spricht dem Militär seine ‘Bewunderung’ und seinen ‘Respekt’ für ihr ‘professionelles Verhalten’ aus. Natürlich spiele die Aufrechterhaltung der ‘Sicherheit’ eine kritische Rolle beim ‘Übergang zur Demokratie’. Man habe seit Januar permanent in Kontakt zum ägyptischen Stabschef Annan gestanden und werde die engen bilateralen Beziehungen zwischen amerikanischer und ägyptischer Armee weiter aufrechterhalten.

Während im Verlauf des Juni trotz der Drohungen der Junta die Streikbewegung einen erneuten Aufschwung erlebt, schließen die bürgerlichen Parteien die Reihen. Am 14. Juni wird die ‘nationale Koalition für Ägypten’ gebildet, in der sich dreizehn Parteien, u.a. die liberale Wafd, die Nasseristen, die ‘linke’ Tagammu, die Partei der Muslimbrüder (Freiheit und Gerechtigkeit) und die salafistische Al-Nour, zusammenschließen, mit dem Ziel, gemeinsam bei den Parlamentswahlen anzutreten.

Gegen Ende des Monats nimmt die Präsenz der paramilitärisch ausgerüsteten Polizei auf Kairos Straßen merklich zu. Am 28. Juni schließlich fallen die Sicherheitskräfte mit äußerster Brutalität über ca. 6000 Demonstranten auf dem Tahrir-Platz her, die sich versammelt haben, um die Anliegen der von der Polizei bereits zuvor misshandelten Angehörigen der Märtyrer des Januar zu verteidigen. Tränengas und Gummigeschosse kommen zum Einsatz, am Ende gibt es über eintausend Verletzte. Die Reaktion des ägyptischen Volkes ist überwältigend. Am 1., 8. und 15. Juli kommt es landesweit zu den größten Demonstrationen seit dem Sturz Mubaraks. Der Hass der Massen richtet sich vor allem gegen die Sicherheitskräfte, die Justiz, die die Mörder des Januar entweder gar nicht verurteilt oder ihre Prozesse in die Länge zieht, und insbesondere gegen Tantawi und seine Junta. ‘Tantawi ist Mubarak und Mubarak ist Tantawi!’ lautet einer der populären Schlachtrufe. Wieder ist der Ruf nach einer ‘zweiten Revolution’ zu hören. In einer 180°-Wende hat die Muslimbruderschaft den Protesten in allerletzter Minute ihren Segen erteilt, offenbar in der Furcht, andernfalls jeden Einfluss in der Bevölkerung zu verlieren.

Angesichts der wütenden Massendemonstrationen verschiebt die Junta die eigentlich für September geplanten Parlamentswahlen auf Ende des Jahres.


Fortsetzung folgt ...

Dienstag, 24. Januar 2012

Sword & Sorcery unter dem Halbmond

Wie C.S.E. Cooney vorgestern in ihrer unnachahmlich mitreißenden Art auf Black Gate verkündet hat, ist endlich Saladin Ahmeds erster Roman Throne of the Crescent Moon erschienen! Eine Nachricht, auf die ich seit über einem Jahr sehnsüchtigst gewartet habe, auch wenn es sicher noch einige Zeit dauern wird, bis ich selber das Buch in Händen halten kann.
   
Der Name Saladin Ahmed begegnete mir zum ersten Mal im November 2010, als Black Gate ein Gespräch zwischen dem arabisch-amerikanischen Schriftsteller und Mythpunk-Poetin Amal El-Mohtar veröffentlichte, in dem sich die beiden über die Darstellung von islamischen und arabischen Kulturen in der Fantasy unterhalten. Dabei müssen sie leider konstatieren, dass es im Genre nach wie vor von stereotypen, wenn nicht offen rassistischen Zerrbildern nur so wimmelt. Wie Saladin Ahmed sehr richtig bemerkt: "If you’ve got a fantasy map at the beginning of the book, you can be pretty sure that, to the east of the Europeish landmass, there will be a big ol’ desert, and it will be inhabited by fierce, proud nomads who wear flowing robes and chop people’s heads off. This handful of central casting shtick is a stark contrast to history’s reality of remarkably varied Islamic cultures."
Wie so oft haben wir es dabei natürlich auch mit Altlasten der Gründerväter zu tun. Man denke nur an Robert E. Howards Shemites und C.S. Lewis' unsägliches Calormen. In Tolkiens Werken findet sich zwar nichts ähnlich offensichtliches, aber bei der Schilderung von Saurons Truppenaufmarsch und der Schlacht auf den Pelennor-Feldern schimmert doch recht deutlich das Vorbild des in der mittel-alterlichen Literatur beliebten Motivs vom großen Kampf zwischen Okzident und Orient durch.
Auch wenn man so etwas dem alten Mediävisten vielleicht noch durchgehen lassen kann, bei heutigen Fantasyautoren ist es kaum verzeihlich, wenn sie in ihren Sekundärwelten "‘Islam’ and ‘Arab’ to a stock set of signifiers" reduzieren, als da wären: "fanaticism, honor, violence, sexism, absolutism, scimitars, veils, turbans, and, above all, the harsh, unforgiving desert that produces a harsh, unforgiving people."*

Erst recht nicht in unserer Zeit.
Schon während seiner Jugend im Detroiter Arbeiterviertel Dearborn bekam Saladin Ahmed den antiarabischen Rassismus sehr deutlich zu spüren, wie er auf seiner Website erzählt: "By the early 1980s, Dearborn was also rapidly, if reluctantly, becoming home to the country’s largest concentration of Arab Americans. The racism this aroused in some of the town’s white residents stays with me to this day: The man who was mayor for most of my youth got elected using brochures bemoaning 'the Arab problem.' There were board of education meetings full of screaming white parents trying to prevent Arab kids from being bussed into 'their' schools. The Arab American community center that my father helped found was burned to the ground twice by arsonists. Twice."
In den letzten zehn Jahren dürfte das in mancherlei Hinsicht nur noch schlimmer geworden sein. Stimmungsmache gegen Muslime gehört in den meisten westlichen Staaten inzwischen zum politischen Alltag, derweil dieselben Staaten neokoloniale Kriege in islamischen Ländern wie dem Irak, Afghanistan, Pakistan, dem Jemen, Libyen – morgen vielleicht schon Syrien oder dem Iran  – führen.
Natürlich sind stereotype Darstellungen aller möglichen Kulturen in der Fantasyliteratur nicht eben eine Seltenheit. In diesem Kontext halte ich es jedoch für doppelt wichtig, die klischeehaften Zerrbilder, die das Genre über den Islam verbreitet, ins Visier zu nehmen. Man betrachte sich etwa Peter V. Bretts leider sehr erfolgreichen Bücher Das Lied der Dunkelheit (The Painted Man) & Das Flüstern der Nacht (The Desert Spear). Diese lassen sich ohne große Probleme als Übertragung der Post-9/11-Paranoia eines Islamophoben in die Gefilde von Faërie interpretieren.

Glücklicherweise gibt es aber auch Gegenbeispiele. So gab das Apex Magazine im November 2010 (damals noch mit Catherynne M. Valente als Redakteurin) eine ganz 'arabisch-islamischen' Themen gewidmete Ausgabe heraus – quasi als Antwort auf Elizabeth Moons berüchtigten islamo-phoben 'Citizenship'-Blog. Das Team von Cabinet des Fées reagierte gleichfalls sehr entschieden. Auch Howard Andrew Jones' The Desert of Souls soll in dieser Hinsicht erstaunlich gut sein.** Oder wie wäre es mit Nisi Shawls wunderhübscher Kurzgeschichte The Pragmatical Princess?

Aber selbstverständlich sind es nicht in erster Linie 'politische' Gründe gewesen, die mich so ungeduldig auf Throne of the Crescent Moon haben warten lassen. Vielmehr hatte mir die Lektüre seiner Kurzgeschichten Where Virtue Lives und Judgement of Swords and Souls gezeigt, dass wir von Saladin Ahmed wirklich gute – und damit meine ich ebenso spannende wie intelligente Sword & Sorcery in einer phantastisch-islamischen Welt erwarten durften. Ich freue mich einfach darauf, ein ganzes Buch lang an der Seite des alten, weltweisen Ghul-Jägers Adoulla Makhslood, seines arg tugendhaften Schülers Raseed bas Raseed und des Kriegermädchens Zamia*** durch die brodelnden Straßen von  Dhamsawaat zu streifen. Wilde Kämpfe mit abscheulichen Monstern, politische Intrigen um den Kalifen und den 'Falcon Prince' sowie die Gefühle eines alternden Helden (Adoulla ist über 60!) – das ist es, was ich von Throne of the Crescent Moon erwarte. Und wenn ich C.S.E. Cooneys Urteil trauen darf, wird mich Saladin Ahmed nicht enttäuschen. Ich kann sie so gut verstehen, wenn sie schreibt: "If Throne had been a bad book, I’d have been cast down to the depths of despair and egregious woe and aggressive lethargy from my disappointment." Doch stattdessen – "the Happy Dance." Ich möchte mittanzen!


* Ich musste da sofort an die Novadis aus Das Schwarze Auge denken, allerdings enden meine Kenntnisse über Aventurien in den frühen 1990er Jahren.
** Auf SF Signal kann man von ihm auch einen interessanten Artikel über die 'Wurzeln arabischer Fantasy' lesen.
*** Gut, Zamia kommt nicht in Where Virtue Lives vor, aber wenn ich mir Layla bas Layla aus Judgment anschaue, weiß ich, dass sie mich nicht enttäuschen wird. 

  

Freitag, 20. Januar 2012

Pleased to meet you

Milton, Satan und Steven Brusts To Reign in Hell

In der Ausgabe #50 von The Geek’s Guide to the Galaxy schwätzen John Joseph Adams und David Barr Kirtley mit Grady Hendrix über den Satan. Dabei kommen sie natürlich auch auf Paradise Lost zu sprechen, denn es gibt wohl kein literarisches Werk, das unsere Vorstellung von Luzifer so nachhaltig geprägt hätte wie John Miltons großartiges Epos. Bedauerlicherweise legen die drei dabei ein mangelndes Verständnis des Dichters und seiner Zeit an den Tag. Bekanntlich trägt Satan in einigen Passagen von Paradise Lost die Züge eines stolzen Rebellen gegen die himmlische Tyrannei, was ihn in den Augen moderner Leserinnen und Leser durchaus sympathisch erscheinen lässt. Und da unsere Geeks wissen, dass Milton zur Zeit des Englischen Bürgerkriegs lebte, stellen sie deshalb die Vermutung auf, die Gestalt des aufrüherischen Engels sei als eine Warnung vor den Folgen eines Umsturzes der gottgewollten Ordnung gedacht gewesen. Das jedoch kann auf keinen Fall stimmen, denn Milton war nicht nur ein Zeitgenosse der Englischen Revolution, sondern auch ein enthusiastischer Mitstreiter im Kampf gegen Charles I., dessen Hinrichtung er öffentlich rechtfertigte. Nach dem Sturz der Monarchie arbeitete er als ‘Secretary for Foreign Tongues’ für die Regierung des Commonwealth und verfasste in dieser Funktion eine Reihe antiroyalistischer und republikanischer Streiftschriften. Sein revolutionärer Optimismus, der schon durch Oliver Cromwells despotische Herrschaft stark getrübt worden war, bekam durch die Restauration der Stuart-Monarchie 1660 zwar endgültig den Todesstoß versetzt, dennoch hielt der Dichter im Herzen der ‘guten, alten Sache’ der Revolution bis zum Ende seines Lebens die Treue, wie u.a. sein Lesedrama Samson Agonistes zeigt. Völlig zurecht schreibt Byron in der Zueignung zum Don Juan über ihn:

He deigned not to belie his soul in songs,
Nor turn his very talent to a crime;

He did not loathe the Sire to laud the Son,
But closed the tyrant-hater he begun. (1)

Wie auch immer man die Gestalt Satans interpretieren will – und das ist eine sehr komplexe Frage –, als antirevolutionärer oder antidemokratischer Buhmann ist er ganz sicher nicht gedacht.

Ich finde es einfach schade, dass auch viele literarisch interessierte Menschen offenbar den historischen Kontext nicht mehr kennen, in dem Paradise Lost entstanden ist. Auch fürchte ich, dass ganz allgemein das Wissen um die Ereignisse der Englischen Revolution mehr und mehr in Vergessenheit gerät. Revolutionen sind halt nicht mehr en vogue. Wer weiß denn heute noch, dass Großbritannien einmal – wenn auch nur für kurze Zeit – eine Republik gewesen ist? Sensationslüsterne oder sentimentale Berichte über die ‘Royals’ bekommen wir beinahe jede Woche aufgetischt, aber ich habe noch nie eine TV-Sendung über Cromwell oder die Leveller gesehen, von Gerrard Winstanley und den kommunistischen Diggern ganz zu schweigen. Doch vielleicht ist das sogar ganz gut so, denn ich möchte lieber nicht wissen, was Leute wie Guido Knopp mit dem Lordprotector anstellen würden. Sich einmal auf eigene Faust mit dieser Epoche der englischen Geschichte zu beschäftigen, sei dennoch einem jeden empfohlen. Sie ist ebenso spannend wie inspirierend. Mein Buchtip wäre da Christopher Hills Cromwell-Biographie God’s Englishman – selbst schon fast so was wie ein Klassiker.

Wenn mich das, was die Geeks über Milton zu sagen haben, also eher traurig gestimmt hat, bin ich den beiden andererseits ausgesprochen dankbar dafür, dass sie mich zum Lesen eines Buches animiert haben, von dessen bloßer Existenz ich ohne sie nichts gewusst hätte: Steven Brusts To Reign in Hell.

Es waren die englischen Romantiker, die als erste in Satan den wahren Helden von Paradise Lost erblickten. William Blake etwa erklärt in The Marriage of Heaven and Hell: "The reason Milton wrote in fetters when he wrote of Angels & God, and at liberty when of Devils & Hell, is because he was a true Poet and of the Devil’s party without knowing it." Dies war der Beginn einer literarischen Tradition, in der Satan nicht länger der böse Versucher und Erzfeind der Menschheit ist, sondern der stolze Rebell gegen die Despotie Gottes – und damit gegen jede Herrschaft und Hierarchie; der „erste Freidenker und Weltenbefreier" , wie ihn Michail Bakunin nannte. Als Beispiele fallen mir da spontan Charles Baudelaire und die Dichter der Décadence sowie Anatole France mit seinem Roman La révolte des anges (Aufruhr der Engel) ein. (2) Dieses Motiv fand seinen Weg auch in Teile der modernen Fantasy. So schrieb Clark Ashton Smith, der selbst so etwas wie ein später Décadent war und eine Nachdichtung der Fleurs du Mal verfasste, ein Satan Unrepentant betiteltes Gedicht, in dem der gestürzte Engel – "abased, majestic, fallen, beautiful, and unregretful" – in der Finsternis des Abgrunds mit "unsubmissive brow and lifted mind" geduldig dem Tag entgegenschaut, an dem der göttliche Tyrann schließlich doch noch fallen wird – "that hour of consummation and of doom,/ of justice, and rebellion justified." Aber auch in einigen neueren Fantasyromanen begegnen wir ihm. So ist es das Ziel Lord Asriels in Philip Pullmans His Dark Materials, Luzifers Niederlage wiedergutzumachen und eine zweite Revolution gegen ‘the Authority’ (‘Gott’) zu entfesseln. Und in Vellum, dem ersten Band von Hal Duncans The Book of All Hours, taucht Luzifer zusammen mit Prometheus als der Archetyp des ewigen Rebellen auf. (3)

Meiner kleinen Sammlung luziferischer Phantastik kann ich nun also Steven Brusts To Reign in Hell hinzufügen, und der Roman wird darin einen Ehrenplatz bekommen. Am bekanntesten ist Brust sicher für seine Vlad Taltos - Reihe, er gehörte aber auch zur Bordertown-Clique und hat zusammen mit seiner Freundin und Kollegin Emma Bull (War for the Oaks) mit Freedom and Necessity eines der besten Bücher geschrieben, die ich im vergangenen Jahr das Vergnügen hatte zu lesen. To Reign in Hell gehört zu seinen frühesten Werken (1984). Wie bei His Dark Materials ist der Titel ein Zitat aus Paradise Lost (4), und ich würde wetten, dass Pullman Brusts Buch gelesen hatte, bevor er die Abenteuer Lydia Belacquas aufzuzeichnen begann. Der Bezug zu Miltons Epos ist allerdings sehr viel enger, denn auch Brust erzählt die Geschichte vom Zerwürfnis zwischen Jahwe und Satan, dem Krieg im Himmel und der Erschaffung der Welt. Das Großartige dabei ist, dass er nicht einfach in luziferischer Tradition Gott zum bösen Tyrannen und den Teufel zum idealistischen Revolutionär erklärt. Seine Erzählung ist sehr viel komplexer.

Yaweh (Jahwe) ist nicht der Schöpfer des Universums, sondern bloß einer der ‘erstgeborenen’ Engel, die aus dem Urchaos (‘cacoastrum’) hervorgegangen sind. Er und seine Geschwister Satan, Luzifer, Michael, Raphael, Leviathan und Belial schufen im Kampf gegen dieses Chaos, das sie sofort wieder zu verschlingen suchte, quasi unbewusst einen geordneten Kosmos – den Himmel. Doch in immer neuen Wellen droht das ‘cacoastrum’ die Ordnung zu überschwemmen und zu vernichten. Schon dreimal mussten die Engel gegen diese ‘Flut’ (‘flux’) antreten, und jedesmal wurde dabei neues Leben geschaffen, aber auch altes Leben zerstört. Im Kampf gegen die zweite Welle entstanden u.a. Abdiel, Lilith, Asmodai, Beelzebub, Ariel, Harut (5) und Mephistopheles, im Kampf gegen die dritte die große Masse der Himmlischen Heerscharen. Einige Engel wurden dabei verletzt oder verloren ihre ursprüngliche Gestalt. Leviathan wurde in ein Seeungeheuer, Belial in einen Drachen, Ariel in eine Eule und Beelzebub in einen Hund verwandelt. Harut erblindete. Viele starben.
Um diesen verheerenden Kreislauf zu durchbrechen, schlägt Yaweh vor, dass die Engel aktiv gegen das Chaos vorgehen und einen neuen Weltenbau errichten sollten, der für immer vor der ‘Flut’ sicher wäre. Das Problem ist, dass die Ausführung dieses Planes viele Opfer kosten würde, und keiner der Erzengel, die in ihn eingeweiht sind, ist sich sicher, ob die ‘einfachen’ Engel bereit sein werden, ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Es stellt sich die Frage, ob man sie im Interesse des ‘höheren Guten’ zur Mitarbeit zwingen dürfe.
Satan, der mit der Aufgabe betraut wird, dafür zu sorgen, dass jeder die ihm zugewiesene Arbeit ausführt, beginnt anzuzweifeln, ob er oder irgendwer sonst das Recht hat, seinen Mitengeln den eigenen Willen aufzuzwingen. Aber auch Yaweh ist zu Beginn keineswegs begeistert von der Vorstellung, irgendwem Befehle zu erteilen. Erst der intrigante Abdiel, der es auf Satans Posten abgesehen hat, facht mithilfe von Lügen und Manipulationen einen Konflikt zwischen den beiden an, der sich dann wie von selbst immer weiter verschärft und schließlich zur Errichtung einer Despotie und zum Bürgerkrieg im Himmel führt.
Nachdem Yaweh davon überzeugt worden ist, dass Satan die Ausführung des Plans gewaltsam verhindern wolle, beginnt er bewaffnete Truppen aufzustellen – die neun Engelschöre der christlichen Mythologie. Die ersten Orden (Cherubim und Seraphim) sind noch relativ klein und sollen lediglich dem persönlichen Schutz Yawehs dienen, doch schon bald werden größere Einheiten gebildet, deren Aufgabe die gewaltsame Unterdrückung der Opposition ist. Und natürlich finden sich auch sofort Engel, die sich an der neugewonnen Macht über ihre Brüder und Schwestern berauschen, die bereit sind, blind zu gehorchen, um selbst befehlen zu können.
Beruhte Yawehs Autorität anfangs ausschließlich auf seinem Ansehen und seinen Fähigkeiten, so verwandelt er sich nun sukzessive in das Oberhaupt eines monarchischen Staates. Diese neue Realität verlangt auch nach einer neuen Ideologie, und so erklärt er sich selbst zum Schöpfer und Herrn des Universums. Er tut dies nicht aus Machtgier, sondern weil er glaubt, dass der Plan, der doch dem Nutzen aller Engel dient, nur auf diese Weise zur Ausführung gelangen könne. Das zumindest versucht er sich einzureden. Der Prozess erreicht seinen Höhepunkt mit einer großen Massenversammlung, in deren Verlauf Yaweh, Abdiel und Raphael aus der Liebe und Verehrung der ‘einfachen’ Engel den Gottessohn Yeshuah formen, der sofort zum Erben Yawehs und zum König des Himmelreiches ausgerufen wird. (6)
Die Opposition zeigt sich sehr viel weniger organisiert. Satan ist alles andere als ein geborener Rebell. Lange Zeit verhält er sich unentschieden und zögerlich, wandert relativ ziellos mit seinem Freund Beelzebub durch den Himmel und kann sich zu keiner entscheidenden Tat durchringen. Sein Lieblingssatz lautet: ‘Ich muss darüber nachdenken’. Es sind vor allem die von Abdiel in Umlauf gebrachten Gerüchte und sein Ruf als mutiger Kämpfer, den er sich während der dritten Welle erworben hat, die ihn in den Augen der unzufriedenen Engel dennoch zum einzig möglichen Führer einer Revolution machen. Dabei wäre die impulsive und kompromisslose Lilith für diese Rolle sicher sehr viel besser geeignet. Vor allem ist Satan lange Zeit nicht bereit, sich an die ‘einfachen’ Engel zu wenden, obwohl es ihm doch angeblich um deren Freiheit geht. Erst als Yaweh mit der Erschaffung Yeshuahs die Himmlischen Heerscharen in einen Haufen gläubiger und kniefälliger Untertanen zu verwandeln droht, organisieren Lilith, Luzifer und Asmodai eine Massenversammlung vor den Toren von Satans Festung und zwingen ihn so, endlich öffentlich Stellung zu beziehen. Aber selbst dann noch befürtwortet er den Verhandlungsweg, als die Orden unter Führung Michaels über die Versammelten herfallen, ein Blutbad anrichten und die Festung niederbrennen.
Man hat das Gefühl, es sei vor allem diese Zerstörung seines Heimes und die damit verbundene Demütigung, die Satan dazu bewegen, schließlich den bewaffneten Aufstand zu entfesseln. Als sich durch das Eingreifen des pragmatischen Zaphkiel eine letzte Möglichkeit zur Versöhnung eröffnet, beweist er dann aber doch Prinzipientreue. Um die eigene Autorität nicht zu zerstören, verlangt Yaweh von ihm eine öffentliche Unterwerfung :

"Just what," said Satan, "are you asking?"
"That you publicly say that you were wrong to oppose me. To call on those who trust you to serve me. To back up my claim to being supreme Lord of Heaven. To bow down to Yeshuah as King Anointed after me, the supreme being of Heaven."

Yaweh hat eine Lüge in die Welt gesetzt, um seine Herrschaft zu legitimieren, und nun kann er sie nicht widerrufen, ohne damit auch seine Macht aufzugeben. Doch wenn er wirklich ‘Gott’ ist, dann muss Satan die Rolle des reuigen Sünders spielen, und dazu ist dieser nicht bereit.

Satan's eyes blazed with green fire. "I'll see myself thrown into the flux first!"
Yaweh's eyes opened wide. "I don't understand."
"Every decision you have made, as far as I know, has been right. Every decision I have made, from what I can see, has been wrong. But there is one thing: I have never lied about who I was, what I was doing, or why I was doing it. You have done all of these."
Yaweh started to speak, but Satan cut him off.
"I know why you did it now, and I understand. But I will not support you in these lies and half-truths. All I have left from this mayhem is that I know I was always honest and did the best I could. I will not throw that out.
No! There has been too much. I will not admit to something I think is wrong. Had you gone before all the hosts and simply told them the truth instead of creating a false image of yourself as some sort of god, and creating this, this thing [Yeshuah] here as some sort of demigod, this wouldn't have happened."

So kommt es dann doch zur großen Entscheidungsschlacht an den Ufern von Leviathans Meer, in deren Verlauf die vierte Welle ausgelöst und Satan mit seinen Verbündeten in das Chaos hinausgeschleudert wird. Und während diese verzweifelt versuchen, eine neue Zuflucht im ‘cacoastrum’ zu errichten (die ‘Hölle’), machen sich Yaweh und seine Anhänger daran, den großen Plan in die Tat umzusetzen und unsere Welt zu erschaffen. Der Kampf aber ist nicht zu Ende, er wird wieder aufflammen, wie sich Satan in der Schlusspassage des Buches vor Augen führt, während er über seine vergangenen Fehler und die Zukunft nachdenkt:

He was probably going to be leader of the angels who had fallen from Heaven, whether he wanted to or not. This time he would be a leader, for good or for ill. He looked at the newly formed globe and nodded. Yes, his people would be safe there. But, of course, they had been right: Yaweh would not allow them peaceful access to that place.
So, by that reasoning, why should Satan allow them peaceful access to it either? The new angels who lived there wouldn't know Satan from Yaweh. They would just as soon harbor one as the other. Yaweh, of course, would want them to reject Satan – why shouldn't Satan be equally polite? He nodded to himself. Another war, that's what it would be. This time, the battlefield would be the minds of the weak, new angels.
Yaweh, of course, would lie, and his minions would scheme – Satan would rely on the truth. Yaweh would want to be worshiped. Satan would be content with being accepted.
He knew that, sooner or later, it would become a physical match once more, and they would line themselves up and settle things for good. It might not be soon, but it would happen.
He looked out at the blue-green battlefield and felt pity for the angels over whom they would fight. This time, however, he would not let that stop him. Yaweh had been a good teacher, Heaven a good school. Satan had learned.
Angels and mortals / Sometimes have to pay –

Es gibt vieles, was mich an To Reign in Hell begeistert.

Zuerst einmal liebe ich es, wenn moderne Autoren oder Autorinnen mythologische Stoffe auf kluge Weise neu bearbeiten, und ich mache da keinen Unterschied zwischen christlichen, shintoistischen (Catherynne M. Valentes The Grass-Cutting Sword) oder sumerischen (Hal Duncans Vellum) Mythen.

Dann wäre da die Vielzahl an eigenwilligen Gestalten, die neben Satan und Yaweh die Handlung bevölkern. Die Erzählperspektive springt sehr schnell (manchmal etwas zu schnell) von einem zum anderen. Da gibt es zum Beispiel den Shakespeare-Englisch sprechenden Beelzebub, der als Hund seinem Meister Satan treu, aber keineswegs ‘hündisch’ ergeben ist. Den seine Rede stets in (nicht immer gelungene) Verse kleidenden Träumer Ariel, der zum ersten, tragischen Opfer des Konfliktes wird. Den sensiblen, blinden Musiker Harut (eine Anspielung auf Miltons Blindheit?) und seine Freundin Leviathan, die das Meer nicht verlassen kann und deshalb eher Beobachterin des sich entfaltenden Bürgerkriegs ist, auch wenn sie sich spätestens nach Ariels Ermordung auf die Seite Satans schlägt. Den immer skrupelloser werdenden Ehrgeizling Abdiel. Den nicht besonders schlauen, aber eigentlich grundehrlichen Michael, der dennoch zum Schlächter wird. Den unheimlichen, aber irgendwie auch faszinierenden Yeshuah. Den kleinen Faschisten Camael. Den immer ironischen Individualisten Mephistopheles (eine Hommage an Goethes Faust). Und natürlich die leidenschaftliche Lilith, die kein Blatt vor den Mund nimmt und dem zögerlichen Satan vor der letzten Schlacht ordentlich die Meinung sagt: "We have, still, a chance of winning. That is despite of you, not because of you."

Vor allem aber ist es die kritische Intelligenz der Erzählung, die mich beeindruckt hat. Steven Brust wirft eine Reihe wichtiger Fragen auf, ohne irgendwelche simplen Antworten zu geben.
Wann z.B. rechtfertigt der Zweck die Mittel, und welcher Zweck rechtfertigt welche Mittel?
Satans Zweifel an Yawehs Plan entzünden sich an der Frage, ob es legitim sei, bei der Durchsetzung eines guten Zieles Zwang anzuwenden. Er ist der Meinung, da jeder Engel sein Leben bei dem Kampf gegen das Chaos aufs Spiel setzen muss, sollte auch jeder das Recht haben, sich gegen dieses riskante Unternehmen zu entscheiden. Doch als er sich entgegen seiner ursprünglichen Intention an der Spitze einer Aufstandsbewegung wiederfindet, hilft ihm diese Philosophie nicht mehr weiter. Sein Zurückschrecken vor jeder Gewaltanwendung verhindert nicht nur nicht den Bürgerkrieg, es führt dazu, dass jene, die ihm folgen und ihm vertrauen, dem Angriff von Yawehs Truppen völlig unvorbereitet und damit schutzlos ausgeliefert sind. Er muss erst lernen, dass es seine Aufgabe als Führer ist, auch harte Entscheidungen zu fällen, die seinem mitfühlenden Geist widerstreben, denn als Pazifist kann man keine Kriege gewinnen. Was die beiden Parteien am Ende trennt ist weniger die Frage der Gewalt, als vielmehr der Wahrheit. Um jede Kritik an seinen Entscheidungen zu unterdrücken, schafft Yaweh die Lüge seiner eigenen Göttlichkeit. Er wird damit zum ersten in einer langen Reihe von Führern, die für sich Unfehlbarkeit in Anspruch nehmen. Dabei nutzt er geschickt die Liebe und das Vertrauen seiner Gefolgsleute aus, was in der Erschaffung Yeshuahs als eines Götzen des Gehorsams seinen symbolischen Ausdruck findet. Satan hingegen bleibt seiner ursprünglichen Überzeugung treu und behauptet zu keiner Zeit, besser als irgendjemand sonst zu wissen, was für alle das Beste ist. Als Führer muss er zwar lernen, Befehle zu erteilen, aber zugleich ist er fest davon überzeugt, dass er diejenigen, die ihm folgen, nicht belügen darf, wenn er sein Ziel nicht verraten will. Freiheit lässt sich nicht mit Lügen erkämpfen. Die Wahrheit ist die stärkste Waffe der Revolution.

In diesem Zusammenhang ist es interessant zu wissen, dass Steven Brusts Eltern Jean und Bill Veteranen des amerikanischen Trotzkismus waren , und er sich selbst als ein „Trotskyist sympathizer" bezeichnet. Es schadet nicht, parallel zu To Reign in Hell Trotzkis Büchlein Ihre Moral und unsere zu lesen. Der Roman ist (Luzifer sei Dank!) keine allegorische Darstellung trotzkistischer Orthodoxie, aber er spricht neben vielem anderen auch Fragen an, die in der Auseinandersetzung der Linken Opposition mit dem Stalinismus und seinen Apologeten eine wichtige Rolle spielten. So war es z.B. die feste Überzeugung Trotzkis, die erste Pflicht eines Revolutionärs bestehe darin, der Arbeiterklasse unter allen Umständen die Wahrheit zu sagen, wie hart und unangenehm diese auch sein möge. Und da wir gerade beim Marxismus sind: Yawehs Gründung der Engelschöre und die damit einhergehende Errichtung einer Monarchie im Himmel hat mich an Lenins Ausspruch erinnert, jeder Staat bestehe in letzter Konsequenz aus „besonderen Formationen bewaffneter Menschen" – eine Wahrheit, die den Mitgliedern der amerikanischen Occupy-Bewegung letztes Jahr im wahrsten Sinne des Wortes eingeprügelt wurde.

Yawehs Schicksal wiederum zeigt, wie rasch sich ein wohlmeinender Autoritarismus in eine Despotie verwandeln kann, die zu ihrem Erhalt auf immer neue Lügen und Gewalttaten angewiesen ist.

Von besonderer Bedeutung für die Qualität von To Reign in Hell sind die Figuren Sith und Kyriel. Die beiden Freunde gehören zu den ‘einfachen’ Engeln, und wir lernen sie fast nur durch ihre Gespräche kennen, in die wir im Laufe der Erzählung immer wieder hineinlauschen. So ist es uns möglich, die Ereignisse auch ‘von unten’, sozusagen aus der Perspektive des Volkes, zu betrachten. Die Konflikte unter den ‘Erstgeborenen’ und Erzengeln sind ja zuerst einmal Auseinandersetzungen zwischen Vertretern einer Elite. Keiner der Beteiligten wendet sich an die Himmlischen Heerscharen und unterbreitet diesen die strittigen Fragen. Es ist darum auch kein Wunder, dass sich Sith und Kyriel sehr unsicher verhalten. Da niemand ihnen die relevanten Informationen zukommen lässt, kann man auch nicht erwarten, dass sie sich bewusst für eine Seite entscheiden. Instinktiv stehen sie Yawehs Plan zwar skeptisch gegenüber, dennoch lassen sie sich ohne zu zögern in die Engelschöre eingliedern. Hier zeigt sich Satans zweite große Schwäche. Lange Zeit über hält er sein Zerwürfnis mit Yaweh für ein rein persönliches Problem, obwohl es dabei in letzter Konsequenz um das Schicksal aller Engel geht. Theoretisch ist er zwar ein ‘Demokrat’, aber bis zum offenen Ausbruch des Bürgerkriegs kommt er nicht auf die Idee, dass es seine verdammte Pflicht wäre, die ‘einfachen’ Engel über den Plan und seine Kritik an ihm aufzuklären. Das einzige, woran Engel wie Sith und Kyriel sich orientieren können, sind deshalb verschwommene Gerüchte. Als Michaels Truppen ihr Blutbad unter den Oppositionellen anrichten, desertieren sie (wie viele andere auch), da sie an solchen Verbrechen nicht teilnehmen wollen. Aber sie haben keine klare Vorstellung davon, was nun zu tun sei. Als Satan eigene Truppen aufstellt, um gegen Yaweh zu marschieren, schließen sie sich diesen an, aber man kann dies kaum als eine bewusste Entscheidung bezeichnen. Sie haben schlicht keine Alternative:

"Did you see them, Sith?"
"Yes, Kyriel. What of it?"
"I have an idea of where they're going."
"So?"
"Uh, Sith, you haven't seemed interested in much since – well, since we left. Are you regretting it?"
"No... no, I'm not regretting it. It's more that I don't know what to do."
"I know. That's why I mentioned that army that Michael was leading. I'll bet they're going after Satan. We could follow and join Satan if we wanted to."
"So what? Satan isn't doing anything. You heard him talking as well as I did. What is he doing about anything? He just stood there while they – it doesn't matter."
"Sith, he's all we have."
"Well if he's – oh, I don't know. All right, I guess we can follow them. Why not?"

Als revolutionärer Führer versagt Satan nicht nur durch sein Zögern. Er versteht auch nicht, dass seine Partei nur dann gewinnen kann, wenn diejenigem, die ihm folgen, wirklich wissen, wofür – und nicht bloß wogegen – sie kämpfen. Als die Aufständischen trotz eines Waffenstillstands von Yawehs Engeln attackiert und vernichtend geschlagen werden, läuft Kyriel zum offensichtlich sehr viel besser organisierten und rücksichtsloseren Feind über, denn "the right side is the one that wins." Sith fällt in diesem Kampf. In der Endschlacht an den Ufern des Meeres schließlich steht Kyriel Satan selbst gegenüber:

He [Satan] strode forward to where a group of angels were receiving instructions from Yaweh. As he came near, one of them saw him and moved to interpose himself.
"Who are you?" asked Satan.
"I'm called Kyriel."
"Then move, Kyriel. I'm here to destroy him who you think of as God. If you get in my way, I'll destroy you, too."
Kyriel shook his head. „My best friend has already been destroyed by serving you. You may as well take me, too."
By this time several of the others were moving forward. Satan noticed this and nodded. „Very well, then," he said. There was a flash from his breast, and Kyriel was no more.

Gerade in ihrer Knappheit zeigt diese Szene sehr deutlich, dass auch der gerechteste Krieg grausam und in Bezug auf den einzelnen ungerecht ist. Denn auch der Soldat, der für eine schlechte Sache kämpft, ist in den meisten Fällen ja kein schlechter Mensch. Obwohl Brust die Notwendigkeit revolutionärer Gewalt anerkennt, ignoriert er doch nicht deren Opfer.

Dies sind nur einige der Themen, die Steven Brust anreißt. Für mich ist To Reign in Hell ein weiterer Beleg dafür, was Fantasy zu leisten vermag. Wenn ihr's noch nicht getan habt, lest diesen Roman!

(Ich derweil überlege mir, ob es nicht an der Zeit wäre, mal wieder den abgegriffenen Milton-Band hervorzukramen.)



(1) George Gordon Byron: Don Juan. Dedication. X, 5-8. In: The Works of Lord Byron. Bd. 6. S. 6.
(2) Nebenbei bemerkt bezog der alte Scharlatan Aleister Crowley, der selber ein eher mittelmäßig begabter Dichter und Swinburne-Epigone war, aus eben dieser Tradition einen Gutteil Inspiration für seine satanistisch-mystische ‘Philosophie’. Na ja, immerhin haben wir dem Somerset Maughans The Magician + die Verfilmung von Rex Ingram (mit Paul ‘Golem’ Wegener als Oliver Haddo=Aleister Crowley) zu verdanken.
(3) Wer sich für literarische Kuriositäten interessiert findet dasselbe Paar auch in der 13. Ausgabe (März 1919) von Max Eastmans sozialistischem Magazin The Liberator. In einer von Arturo Giovanitti verfassten Geschichte mit dem Titel The Senate of the Dead, die dem Andenken des im Januar ermordeten Karl Liebknecht gewidmet ist, nehmen die beiden ihren Platz unter den verdienten Revolutionären der Vergangenheit ein (S. 14). In ihrer Mischung aus Pathos und Schmalz ist die Story leider übelster Revolutionskitsch.
(4) Satan: "Better to reign in Hell than to serve in Heav’n" (I, 263).
(5) Harut ist der Name eines Engels im Qu’ran (Sura 2, 102).
(6) Die Figur des Yeshuah zeigt, wie eng der Bezug zu Milton ist. Für diesen war Christus nämlich keine ewige, sondern eine erschaffene und Gott Vater untergeordnete Person. Seine Proklamation zum König löst in Paradise Lost den Aufstand Satans und seiner Engel aus.