Seiten

Donnerstag, 24. Dezember 2020

Strandgut

Samstag, 19. Dezember 2020

Phantastisches Geplauder ... mit Alessandra Reß

Schon seit längerer Zeit spielte ich immer mal wieder mit dem Gedanken, ein paar Bekannte aus der phantastischen Gemeinde um Interviews anzugehen. 

Als im Oktober Alessandra Reß' neuer Roman Die Türme von Eden erschien, dünkte mich dies ein ausgezeichneter Anlass, dieses Projekt endlich einmal ernsthaft anzupacken. Und Alessandra erklärte sich freundlicherweise auch sofort bereit, mein erstes Opfer zu werden. 

Wann genau unsere (Online) - Bekanntschaft angefangen hat, weiß ich gar nicht mehr. 2016?  Vor ziemlich genau einem Jahr haben wir uns dann erstmals für einen seit langem geplanten (und immer wieder verschobenen) Reread von Joy Chants Wenn Voiha erwacht und ein anschließendes Gespräch über den Roman zusammengetan (Teil 1 / Teil 2). Und wenn alles klappt, werden wir das in näherer Zukunft mit Patricia A. McKillips High Fantasy - Klassiker Erdzauber wiederholen.

Alessandras Debütroman Vor meiner Ewigkeit erschien 2013 bei Art Skript Phantastik. Es folgten u.a. Spielende Götter (2015), Liminale Personae (2017) und Sommerlande (2019). Daneben unternahm sie mit Melodie der Toten (2015) sowie Die Netze von Nomoto (2018) & Eine Ahnung von Freiheit (2018) Abstecher in die Serienwelten von Larry Brent und D9E. Sie schreibt nicht nur für ihren eigenen Blog FragmentAnsichten, sondern auch regelmäßig für TOR Online, wo sie sich in der Vergangenheit vor allem mit den zahllosen Genres und Subgenres der phantastischen Literatur auseinandergesetzt hat. Inzwischen stellt sie dort vor allem allerlei phantastische Kreaturen vor, von Einhörnern über Zombies bis zu diversen Meeres- und Wasserbewohnern.        

 

Doch bevor wir mit dem Interview beginnen, noch ein kurzer Blick auf den Inhalt von Die Türme von Eden, denn zumindest die erste Hälfte unseres Gespräches drehte sich hauptsächlich um Alessandras neuen Roman:

Im Sternsystem Aditi breitet sich seit einiger Zeit eine neue Religion aus. Der Orden der Liminalen predigt die Lehre, dass Menschen, die im Vollzug einer selbstlosen Tat den Tod finden, auf dem Planeten Eden als "Engel" wiedergeboren werden. Seine Vertreter verabreichen den auserwählten Sterbenden ein mysteriöses Serum und bringen sie anschließend fort. Angeblich zum verheißenen Ort ihrer Transformation. Doch die Organisation der Suchenden, die sich ganz dem Prinzip der Wahrheit verschrieben hat, hegt starke Zweifel an den Behauptungen der Liminalen. Schon allein die Existenz Edens, einer dem Rest des Systems verborgenen Welt, scheint kaum vorstellbar. Von den "Engeln" ganz zu schweigen. Sie schleusen einen der ihren, Dante, als Novizen in den Orden ein, um die wahren Ziele und Beweggründe der "Engelsgläubigen" zu ergründen. Aber was sich ihm dabei zu enthüllen beginnt, ist nicht ganz das, was er erwartet hatte. Und die Bande der Freundschaft, die sich zwischen ihm und einigen der anderen Novizinnen & Novizen bilden, machen seine Mission auch nicht unbedingt einfacher.

 

 

PS: Liebe Alessandra, zuerst einmal eine Frage zur Beziehung zwischen Die Türme von Eden und der Kurzgeschichte Neophyt auf Eden, die man u.a. auf TOR Online lesen kann. Gehe ich recht in der Annahme, dass der Roman bereits in irgendeiner Form existierte, als du die Story geschrieben hast? War das also quasi ein erster kleiner Ausflug in eine in eine im Hintergrund bereits bestehende größere Welt? Ich frage das auch deshalb, weil sich die beiden in einigen Details zu widersprechen scheinen. Als ich angefangen habe, Die Türme zu lesen, dachte ich zuerst, dass mir die Bekanntschaft mit der Kurzgeschichte einige der zentralen Rätsel des Romans vorzeitig enthüllt hätte. Am Ende erwies sich dieser Eindruck allerdings als nicht ganz korrekt. War das so beabsichtigt, Neophyt also in gewisser Hinsicht eine Art Irreführung? Oder spiegelt die Story einfach eine frühere Entwicklungsstufe der Welt wider? 

AR: Kriegst mich gleich mit der ersten Frage dran ;) Nein, tatsächlich habe ich die Kurzgeschichte geschrieben, bevor ich auch nur geplant hatte, in dem Setting einen Roman anzusiedeln. Als ich dann am Roman gearbeitet habe, habe ich die Kurzgeschichte auch erst einmal ausgeblendet und ihn unabhängig davon entwickelt. Alles rund um die Liminalen ist neu hinzugekommen, was Veränderungen in den Beziehungen der verschiedenen Bewohner Edens zueinander bewirkt hat. Wenn man mag, kann man die Kurzgeschichte als Lore lesen oder als Interpretation eines Uneingeweihten, wie die Sache rund um Aria – die ja einige Jahre vor dem Roman stattfand und quasi als moderner Mythos gilt – abgelaufen sein könnte. Grundsätzlich sollten Kurzgeschichte und Roman meiner Theorie nach aber auch so kompatibel sein.

PS: In deinen [Random 7] Rund um „DieTürme von Eden“ erzählst du, dass du vor dem Veröffentlichen eigener Bücher "überzeugte Weltenbauerin" gewesen seist. Und eine Deiner Einstiegsdrogen ins Genre war ja wohl Drachenlanze, eine Buchreihe also, die in ihren Anfängen auf einer Rollenspielkampagne basierte. War dein frühes Weltenbauerinnentum demnach von RPG-Settings wie Krynn inspiriert?

AR: Jein. Ich war als Kind sehr kartenverliebt, habe gerne in Atlanten geblättert und Länderkarten abgezeichnet. Als ich meine ersten Fantasyromane gelesen habe, fand ich dann auch die Karten darin toll und habe angefangen, eigene zu zeichnen. Aus diesen Karten heraus haben sich dann die Welten ergeben, ihre Gesellschaften, Länder, Geschichte usw. Insofern war mein Weltenbau vor allem durch Karten inspiriert – und hier durch Karten aus Romanen, denn Pen&Paper habe ich erst später kennengelernt. Krynn war für mich in erster Linie entsprechend eine Roman-, keine Rollenspielwelt.

PS: Wenn ich mich recht erinnere, sollte die Welt von "Holus" aus Spielende Götter ursprünglich das Setting für eine klassische High Fantasy - Erzählung werden, oder? Ich finde es interessant, dass daraus am Ende ein virtuelles Spieluniversum wurde. Das rollenspielbeeinflusste Worldbuilding zeichnet sich für mich häufig durch eine übergroße Neigung zum Systematisieren aus. Doch im Falle von "Holus" macht das vollkommen Sinn, denn es handelt sich ja tatsächlich um das Setting eines Spiels.

Die Welt von Vor meiner Ewigkeit wiederum zeichnet sich durch eine faszinierende Ambiguität aus, lässt sich nicht eindeutig in Raum und Zeit verorten.

Wie ist deine persönliche Haltung zum Worldbuilding?

AR: Heute schaue ich mir immer noch gerne Karten an, ob nun reale oder phantastische. Allein hier in meiner Wohnküche hängen vier an der Wand, merke ich gerade … Aber für meine eigenen Romane sind sie nicht mehr so wichtig. Für Holus habe ich zwar welche gezeichnet – noch aus der Zeit, als ich das als High-Fantasy-Roman geplant hatte – und auch zu Vor meiner Ewigkeit liegen sicher noch Skizzen in irgendeiner Schublade. Aber mir geht es inzwischen weniger darum, mir zu überlegen, wo nun eine Wüste, wo ein Gebirge und diese oder jene Stadt liegen, mich interessiert mehr die soziale Idee der jeweiligen Welt bzw. des Auszugs, den ich betrachte. Nach welchen Prinzipien funktionieren die Gesellschaften, welche Werte vertreten sie, welche Rituale haben sie, was bedeutet das für die Geschichte? Klar spielen da auch (z. B.) geographische Überlegungen mit rein, da diese Gesellschaften wiederum mitbestimmen. Aber ich lege den Fokus nicht mehr darauf, ein umfassendes Bild (im wörtlichen Sinne) der ganzen Welt zu haben.

Als Leserin muss ich eine Welt auch nicht in allen Details dargelegt bekommen. Mir ist wichtig, dass die schreibende Person ein Gefühl von Tiefe bzw. eines „Dahinters“ vermitteln kann, ohne dass die Welt – ob nun eine geographische / soziale / … – zwangsläufig komplett ausformuliert werden müsste. Natürlich hängt das auch immer ein Stück weit von Genre und Setting ab, aber manche Welten verlieren sogar durch zu viele Details. Ein prominentes Beispiel ist da sicher Harry Potter. Oder, anderes Beispiel: Ich habe mir vor ein paar Tagen John Wick angeschaut und mag es, wie da mit völliger Selbstverständlichkeit durch die Bildsprache und ein paar Handlungselemente eine Assassinengesellschaft eingeführt werden, auch wenn das Publikum nicht genau erfährt, wie diese funktioniert. Manchmal machen gerade solche Lücken den Reiz aus.

PS: Beim Weltenbau von Türme von Eden liegt der Hauptakzent auf den unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen, die auf den verschiedenen Planeten existieren. 

Eines davon ist die "Technokratie" von Cyberia. Ein nettes Detail für mich war, dass es sich dabei um einen kolonisierten Mond handelt. Cyberia ist also nicht nur eine Gesellschaft, die von technischem Fortschritt (und von Hedonismus?) dominiert wird, sondern im wahrsten Sinne des Wortes "künstlich", kreiert in einer eigentlich völlig lebensfeindlichen Umwelt. War das Absicht?

AR: Ja, und es freut mich, dass es jemandem auffällt :D Die Idee war, dass dahinter eine Machtdemonstration der Gründer*innen von Cyberia steht.

PS: Oberflächlich betrachtet wirkt Cyberia sehr tolerant und inklusiv. Eine der Hauptfiguren des Romans, Dante, ist eine Art Kriegsflüchtling und hat dort eine neue Heimat und Familie gefunden. Doch eine andere Figur entwirft ein sehr viel negativeres Bild der dortigen Ordnung. Als vollwertiges Gesellschaftsmitglied gelte nämlich nur, wer besondere Talente besitzt. Alle übrigen würden an den Rand gedrängt (oder gar nicht erst aufgenommen). Ist das auch als ein kritischer Kommentar auf gewisse "Tech-Utopien" gedacht, die sich zwar sehr offen und demokratisch geben, sich bei genauerer Betrachtung aber eigentlich bloß als die idealisierte Version des Lebens einer technisch versierten Elite entpuppen?

AR: Während ich am Roman gearbeitet habe, ging gerade die Meldung herum, dass international verschiedene Universitäten mehr oder weniger explizit gedrängt wurden, ihr geisteswissenschaftliches Angebot zu reduzieren bzw. sogar abzuschaffen. Das führte zu einigen Diskussionen und auch in Deutschland längst nicht nur zu Kritik. Ich empfand das als ziemlich gruselig. Wo geht eine Gesellschaft hin, die sich nur mehr Gedanken um den ökonomisch-technischen Fortschritt macht, dabei aber soziokulturelle Forschung ausklammert? Ich will das jetzt nicht konservativ verstanden haben – ich verzweifle selbst oft genug am digitalen Stand in Deutschland bzw. an dem, was hier unter Digitalisierung verstanden wird (und an Elfenbeinturmmechanismen, aber das ist ein anderes Thema). Aber auf der anderen Seite zeigt sich gerade momentan sehr gut, dass es sinnvoll ist, soziale Auswirkungen facettenreich mitzubedenken, wenn neue Technologien eingesetzt werden. Und die Schwierigkeit ist eben immer, technologischen Fortschritt und demokratische Werte in Einklang zu bringen, ohne in Starre zu verfallen – Stichwort Datenschutz beispielsweise.

Cyberia spiegelt dieses Dilemma ein Stück weit. Die Gründer*innen haben sich ihrerzeit von der Demokratie Legbas losgesagt, um ihre Technokratie erschaffen zu können. Die ist, wie du sagst, auf den ersten Blick tolerant und inklusiv. Aber es darf eben nur einwandern und im gut entwickelten Kern leben, wer mit seinen Fähigkeiten auch etwas zum Fortschritt beitragen kann – und wer bereit ist, sich den Regeln von Cyberia zu unterwerfen.

PS: Im Zusammenhang mit Cyberia taucht auch die Idee der Cybermystik auf. Wie stark war der Einfluss dieser oder anderer Theorien, mit denen du dich im Verlauf deines Studiums bzw. deiner Masterarbeit über Cyberanthropology beschäftigt hast, auf den Roman?

AR: Rückblickend kann ich das gar nicht mehr ganz so genau sagen. Aber er ist glaube ich nicht so stark, wie ich es ursprünglich angedacht hatte – auch, weil ich den Roman nicht zu verkopft werden lassen wollte. Letztlich haben sie eher Einfluss auf die grundsätzliche Figurenmotivation und auf (Weltenbau-)Details genommen, etwa die Entwicklung der einzelnen Planeten bzw. deren Gesellschaften, Religionen und Philosophien.


 

PS: Im Buch selbst werden die Glaubenssätze der Cybermystiker so umschrieben: "Sie gehen davon aus, dass wir alle nur Entitäten eines großen Computers sind und eines fernen Tags wieder Teil dessen werden." Das erinnert mich einerseits an klassische mystische Vorstellungen von der Auflösung des Individuums im "Absoluten", "Göttlichen". Und so wird es ja auch von einer der Figuren interpretiert: "Ich möchte die Vielheit überwinden." Andererseits hat das natürlich etwas von virtueller Realität. Ein Thema, mit dem du dich sehr viel stärker in Spielende Götter beschäftigt hast. Was mich an eine Frage erinnert, die ich dir schon länger mal stellen wollte: Dort gibt es eine Figur (Ophelia), die irgendwann die Behauptung aufstellt, die Primärwelt von Spielende Götter sei selbst bloß eine Simulation, geschaffen, um die Funktionstüchtigkeit eines bestimmten Gesellschaftsmodells zu testen. Wir erfahren in dem Roman nicht, ob es sich tatsächlich so verhält. Doch die Szene hat mich sofort an Fassbinders Welt am Draht erinnert. Gibt es da tatsächlich eine Verbindung? Welche Darstellungen von virtueller Realität -- sei es in Büchern oder Filmen -- haben dich am stärksten beeindruckt?

AR: Welt am Draht kenne ich leider nicht, die Nähe dazu ist also vermutlich Zufall.

Geht es gezielt um virtuelle Realität, war vermutlich Band 1 der Otherland-Tetralogie für mich am prägendsten. Ich hatte einige Probleme mit dem Buch, fand aber die Darstellung der Simulationen darin faszinierend. Interessant auch die Simulation aus Karl Olsbergs Boy in a white room, die etwas mehr an unserer heutigen Gaming- und Streaming-Realität dran ist als die „großen“ Simulationen aus Otherland, Ready Player One und Co.

Aber allgemein finde ich es immer sehr spannend, wenn eine Realität mehrere Ebenen hat, ob sie nun virtuell oder anders gelagert ist. Wenn ich früher mit meinen Playmobil-Figuren gespielt habe, hatte ich immer Skrupel, ihnen allzu dramatische Abenteuer zuzumuten, weil ich befürchtet hab, sie könnten irgendwie echt oder ich könnte selbst eine Playmobil-Figur sein … Das zieht sich also durch meine Handlungsentwicklung. (Wobei ich bei meinen Buchfiguren weniger ethische Skrupel habe als bei den Spielfiguren – aber vielleicht neige ich deshalb dazu, Metaebenen einzubringen; das schafft Distanz zu den Figuren.)

PS: Eine der Sachen, die mir an Die Türme von Eden besonders gefallen hat, ist, dass wir keineswegs auf alle Fragen auch eindeutige Antworten bekommen. So wissen wir am Ende des Romans zwar sehr viel mehr über die anfangs so mysteriösen Engel, ihre Herkunft und ihre Natur, dennoch bleibt das Ganze in mancherlei Hinsicht immer noch recht ambivalent. 

Für mich stand das in Beziehung zu einem längeren Gespräch zweier Figuren über die Relativität der Wahrheit. Dass Wahrheit letztlich eine Frage der Perspektive sei, der subjektiven wie der gesellschaftlichen. Liege ich damit falsch oder war das für dich tatsächlich eines der zentralen Motive des Romans?

AR: Nein, das stimmt schon. Die Vorstellung einer relativen Wahrheit hat derzeit ein großes Imageproblem. Aber Realität ist in der Regel so komplex, dass sie Raum für viele Interpretationen liefert, wodurch die Einteilung in Wahr und Falsch in vielen Fällen eben alles andere als eindeutig ist (wenn auch normalerweise eindeutiger als im Buch). Ein weiteres zentrales Motiv ist aber das der Ethik und es ist mir wichtig, diese bei dem Thema mitzubedenken. Kulturrelativismus beispielsweise ist in der Theorie einleuchtend, aber ethisch auch problematisch. Ich mag die Strömung des Kosmopolitismus, wie er beispielsweise von Kwame Anthony Appiah vertreten wird, und der einerseits Relativismus nicht verneint, ihn aber durch bestimmte übergeordnete Werte – Menschenrechte! – in Schranken weist. Etwas relativ zu betrachten, bietet das Potenzial, aufeinander zuzugehen, aber eben auch die Gefahr, sich bei kritischen Themen aus der Verantwortung zu ziehen.

Herrje, das klingt nun doch, als hätten diese ganzen Theorien viel Einfluss auf das Buch genommen, oder? Vielleicht war es doch mehr, als ich dachte. Aber es war sicher nicht meine Intention, damit jemanden zum/zur überzeugten Relativist*in, Kosmopolit*in oder sonstwas zu machen. Ich nutze meine Bücher bloß gerne, um Auseinandersetzungen, die ich mit mir selbst führe, in Worte zu fassen. Und die Diskussion um Relativität bzw. Relativismus einerseits und deren Gefahren andererseits ist eben eine dieser Auseinandersetzungen.

PS: Eine der Hauptfiguren, Keri, leidet unter Panikattacken. Ich kenne die ja aus eigener Erfahrung, und fand vor allem die Schilderung des damit einhergehenden unangenehmen Gefühls, sich sehr bewusst auf jeden einzelnen Atemzug konzentrieren zu müssen, sehr gelungen. Darüber hinaus hat mich aber auch ganz allgemein angesprochen, einmal eine Protagonistin zu haben, die mit solchen Problem zu ringen hat. Folgen wir in Fantasy und Science Fiction immer noch zu oft dem alten Ideal vom "kompetenten Mann" / der "kompetenten Frau" als Held/Heldin?

AR: Inzwischen werden Figuren ja schon häufiger Abweichungen von der physisch wie psychisch ultrakompetenten Held*innennorm zugestanden. Gerade psychische Probleme sind z. B. in der YA-Fantasy nicht mehr so selten, oft aber mit der Aufgabe an die betroffene Figur verbunden, diese zu überwinden. Wenn der Weg dahin überzeugend dargestellt ist, halte ich das auch nicht für grundsätzlich problematisch. Aber Eskapismus hin oder her, ich finde es schräg bis enttäuschend, wenn diese Überwindung nur eine Sache weniger Tage oder gar einer plötzlichen OMG-es-war-nur-fehlender-Wille-Epiphanie ist. Insofern würde ich mir noch mehr Titel wünschen, in denen die Betroffenen oder deren Umfeld lernen, mit „Schwächen“, Einschränkungen oder „Eigenheiten“ zu leben, sie zu akzeptieren oder sie sich zunutze zu machen. Keri z. B. hilft es später, dass sie den Kampf gegen sich selbst bereits gewohnt ist. Zudem ist sie vermutlich die empathischste Figur in dem Haufen …

PS: Du beschäftigst dich ja gerne mit der schier unüberschaubar gewordenen Menge an "Genres", in die die Phantastik inzwischen eingeteilt wird. Für Die Türme von Eden hast du das Label "Space Fantasy" gewählt. Wohl auch um der Kritik durch einige besonders engstirnige SF-Puristen vorzubeugen? 

Mein Eindruck war bislang eigentlich immer, dass die Grenzen zwischen den Genres inzwischen wieder etwas durchlässiger geworden wären. Irre ich mich da? Ist die Fraktion der Verfechter einer "harten" Science Fiction, für die alles, was nicht "naturwissenschaftlich plausibel" ist, keine "echte" SF darstellt, tatsächlich immer noch so stark?

AR: Hängt glaube ich sehr von der Szenebubble ab. Einige sind da offen, andere nehmen es genauer. Wenn ich mir die üblichen Genrepreise anschaue, habe ich den Eindruck, dass vor allem die Ästhetik entscheidend ist – und die Ecke, aus der ein Titel kommt. Eine Dystopie eines bekannten Autors bei Heyne wird es wohl noch eine Zeitlang leichter haben, als „echte“ SF zu gelten als die einer Drachenmond-Autorin, selbst wenn beide ähnliche Kriterien an die naturwissenschaftliche Plausibilität stellen.

Persönlich nehme ich es inzwischen genauer, als es mir eigentlich lieb ist – Berufsrisiko, schätze ich. Bei Die Türme von Eden wollte ich auch nicht in erster Linie Kritik vorbeugen, sondern die Sache einfach als das bezeichnen, was sie ist. Mit den D9E-Bänden Die Netze von Nomoto und Eine Ahnung von Freiheit habe ich zwei Romane veröffentlicht, die zwar nicht mehr Technikbabbel beinhalten als Eden, aber von der ganzen Stimmung, Struktur und Thematik her dennoch klar Science Fiction sind (wenn auch eben nicht Hard Science Fiction). Eden ist da durchlässiger, aber auch z. B. von der Struktur her eher der Fantasy zugewandt. (Dass der Begriff „Space Fantasy“ auch im Untertitel auftaucht, war btw. eine Verlagsentscheidung. Ich hatte ihn lediglich im Exposé als Genrebezeichnung verwendet.)

 


PS: Du hast verschiedentlich die Romantasy gegen ihre vielen Verächter verteidigt. Nicht nur, weil sie eine ebenso große Existenzberechtigung hat wie jedes andere Genre, sondern auch, weil sie vor allem Autorinnen eine Möglichkeit eröffnete, auf dem Markt Fuß zu fassen. In diesem Zusammenhang hast du auch einmal erklärt, dass du bezweifelst, ob es dir gelungen wäre, dein Debüt Vor meiner Ewigkeit zu veröffentlichen, "wenn das Buch nicht noch ein Stück auf dem Vampirhype mitgeschwommen wäre, den 'Twilight' ausgelöst hatte.

Doch in den Büchern, die ich von dir gelesen habe, spielen romantische Beziehungen gar keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. In Vor meiner Ewigkeit gibt es zwar scheinbar einen "romantischen" Subplot, doch entpuppt sich der bei näherer Betrachtung als wenig romantisch. Vielmehr gleicht "Held" Simon in Denken und Handeln einem creepy Stalker.

Hast du die Erfahrung gemacht, dass von dir als Autorin erwartet wird, dem einen größeren Platz in deinen Geschichten einzuräumen? Gibt es einen gewissen Druck in dieser Richtung?

AR: Auf jeden Fall. Bei Kleinverlagen kam es selten zur Sprache, aber wenn meine Manuskripte Publikumsverlagen vorlagen, wurde es oft zum Thema, vor allem bei Jugendbüchern. Ein Stück weit kann ich es verstehen, weil halt die Leser*innen bei manchen Arten von Romanen einen romantischen Subplot erwarten, erst recht, wenn ein weiblicher Name auf dem Cover steht. Am stärksten ist mir das bei Vor meiner Ewigkeit aufgefallen: Da haben mir dann Leute gesagt, sie wollten das Buch nicht lesen, weil sie genug hätten von „Vampir-Schmonzetten“. Umgekehrt gab es Leser*innen, die sich über zu wenig Romantik beschwert haben. Ja nun, das Buch sollte nie Romantasy sein, aber irgendwie wird oder wurde das bei der Verbindung Vampirthematik + Autorin offenbar erwartet. Das war die unpraktische Seite dessen, auf der Twilight-Vampir-Welle geritten zu sein.

PS: Mit deinem TOR-Beitrag zu "Hopepunk" im Oktober 2019 warst du vermutlich eine der Ersten, die diesen Begriff hierzulande aufgegriffen hat. Eine Zeit lang wurde darüber recht kontrovers diskutiert. Einige taten Hopepunk spöttisch als bloßes Marketinglabel ab, andere schrieben es sich begeistert aufs Banner. Wie siehst du die Situation ein Jahr später? Hat sich tatsächlich eine Strömung oder Bewegung herausgebildet, die man sinnvollerweise mit diesem Namen verknüpfen kann? Oder war das Ganze letztlich doch nicht viel mehr als ein Schlagwort, das inzwischen schon wieder von neuen Schlagwörtern verdrängt wird?

AR: Eine Bewegung ist daraus auf jeden Fall geworden. Zwischendurch dachte ich mal, die Diskussion sei abgeebbt, aber sie hat sich eher ausgefächert. Inzwischen gibt es sozusagen verschiedene Arten von Hopepunk – ein sicheres Zeichen dafür, dass es sich tatsächlich etabliert hat ;) Außerdem heißt es ja, Hopepunk habe mit der Doomer Lit eine Gegenbewegung erfahren und damned, was spricht mehr dafür, dass etwas im Kanon angekommen ist, als dass es eine Gegenbewegung erhalten hat?!

Ich finde es sehr spannend, die Entwicklung zu verfolgen. Früher habe ich mich intensiv mit Jugendszenen beschäftigt, und in Movements wie Hopepunk, Solarpunk usw. erkenne ich viele Strukturen wieder. Ich gebe den Kritiker*innen dahingehend recht, dass sie keine Literaturgenres im klassischen Sinne darstellen. Eher sind sie Medien produzierende Szenen mit eigener Ästhetik und eigenen Werten. Aber zumindest für mich macht sie das nur umso interessanter.

 

PS: Du hast dich mit der Kurzgeschichte Kastanienreise (in Geschichten aus den Herbstlanden) und dem Roman Sommerlande an dem Shared World - Projekt der Herbstlande beteiligt. Ich fand solche Shared Worlds immer recht spannend, vor allem wegen ihres kollaborativen Charakters. Habe aber das Gefühl, dass sie irgendwie ziemlich aus der Mode gekommen zu sein scheinen. Wenn man zum Vergleich etwa die 80er Jahre mit Sachen wie Thieves' World, Bordertown oder Liavek heranzieht. Wie siehst du das? Und wie war deine Erfahrung mit einem solchen Projekt? Ist das kollaborative Element da wirklich stärker als etwa bei Serien, mit denen du ja auch schon zu tun hattest (Larry Brent und D9E - Der Loganische Krieg)? Oder hab' ich da eine etwas romantisierte Vorstellungen?

AR: Ich habe eigentlich den Eindruck, dass sie ein kleines Revival erleben. In Science-Fiction-Szeneverlagen und rund um Rollenspielsysteme gibt es ja noch eine ganze Reihe von Shared-Universe-Serien, und gerade das MCU, aber auch die Rückkehr der Novellen bzw. Kurzromane haben das Thema aus der Mottenkiste geholt. Allerdings verstehen wir vielleicht etwas unterschiedliche Sachen unter „Shared Universe“, denn ich würde jetzt gar keine große Unterscheidung machen zwischen Herbstlande/Sommerlande und Larry Brent. In beiden Fällen hatte ich gewisse Vorgaben, konnte aber weitgehend eigenständige Geschichten erzählen.

Anders bei Der Loganische Krieg, wo das kollaborative Element sicher am stärksten war: Hier haben wir – insgesamt waren wir fünf Autor*innen – keine unabhängigen Episoden erzählt, sondern jeweils auf den Vorgängerbänden aufgebaut. Zwar konnte jede*r ein paar eigene Figuren einbringen und wir haben zumindest in den ersten Bänden auch die Bereiche etwas untereinander aufgeteilt, aber in Weltenbau und Handlungsfaden sollte das alles logischerweise stimmig sein. Deshalb haben wir uns in der Planungs- und Schreibphase quasi täglich via Trello ausgetauscht.

Bei Larry Brent und Herbstlande habe ich vorab Journals mit den wichtigsten Infos durchgearbeitet. Zu Sommerlande und Kastanienreise habe ich mich auch vorab viel mit Fabienne Siegmund besprochen, einer der vier Erfinder*innen des Universums. Das aber eher, weil wir zu dem Zeitpunkt in Nachbarstädten gewohnt haben und ohnehin oft gemeinsame Schreibtreffen hatten; an für sich wäre so viel Absprache nicht mal unbedingt nötig gewesen. Während des Schreibprozesses habe ich dann nur noch hier und da wegen Details nachgefragt, ebenso bei Larry Brent. Zu anderen Autor*innen hatte ich hier aber z. B. fast gar keinen Kontakt.

Grundsätzlich schreibe ich sehr gerne an solchen Projekten mit. Klar ist es toll, ganz eigene Ideen zu entwickeln, aber es hat auch seinen Reiz, mit Vorgaben zu arbeiten und eigene Elemente in ein bestehendes Universum einzuweben bzw. zu sehen, wie sich Ideen im Austausch mit anderen Autor*innen entwickeln.

PS: Mit Holly mit Katze (auf Smart Storys) und Der Betrieb war noch nicht bereit dafür (in Wenn die Welt klein wird und bedrohlich) sind im Oktober zwei nicht-phantastische Kurzgeschichten von dir erschienen. Würdest du dich gerne häufiger außerhalb der Phantastik tummeln?

AR: Eigentlich schon, aber für längere Texte fehlt mir da das Durchhaltevermögen. Ich glaube, eine Rolle spielt dabei, dass ich mir bei einem Phantastik-Roman inzwischen relativ sicher sein kann, einen Verlag und Leser*innen zu finden. Bei Nicht-Phantastik müsste ich aber quasi ganz von vorne anfangen und da meine Zeitressourcen nicht so viele Projekte auf einmal zulassen, wähle ich am Ende dann doch wieder die sichere Nummer mit Phantastikelementen. Zuletzt hatte ich 2019 einen realistischen Jugendroman angeboten, eine Art Almost Famous mit Roadtrip durch den Osten Frankreichs. Das fand aber leider nicht so viel Anklang und es war dann erst mal wieder mein letzter Versuch in dieser Richtung (Kurzgeschichten ausgenommen).

PS: Nehmen wir einmal an, du bräuchtest keinerlei Rücksichten auf Verkäuflichkeit zu nehmen: Gibt es eine Art Traumprojekt, das du gerne einmal schreiben würdest?

AR: Ich hätte richtig Lust auf eine Urban-Fantasy-Soap-Opera mit Einzelbänden in Heftromanlänge, wiederkehrendem Figuren und Motiven, aber jeweils abgeschlossenen Episoden. Meine Ideen dazu sind noch etwas konkreter, aber ich will nicht, dass mir jemand meinen Trash-Traum klaut, weil er Elfenverschwörungen auf Instagram genauso unterhaltsam findet wie ich. Wenn ich irgendwann den Sprung ins Selfpublishing wage, dann sicher damit.

PS: Also, ich würd's lesen. 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Autorinnenfoto: Copyright by Alessandra Reß

Freitag, 11. Dezember 2020

Strandgut

Donnerstag, 10. Dezember 2020

Derleth und die Dämmerung der Magier

Es war während meiner Mainzer Studentenzeit, dass ich mir nach und nach die Lovecraftbände aus Suhrkamps Phantastischer Bibliothek zulegte und auf diesem Weg erstmals mit dem Werk des alten Gentlemans von Providence Bekanntschaft schloss. Doch wenn ich mich recht erinnere, war eines der ersten Büchlein, die ich dabei käuflich erwarb, ironischerweise gar kein genuiner Lovecraft, sondern Das Tor des Verderbens, Michael Koselers Übersetzung von August Derleths The Lurker at the Threshold. Selbstredend wusste ich damals noch nichts von den "posthumen Kollaborationen". Aber ich fand das Coverdesign mit dem Ring aus Stehenden Steinen ziemlich ansprechend. Hatte wohl  immer schon was übrig für Folk Horror - Motive. Allerdings kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie mir der Roman selbst bei meiner ersten Lektüre gefiel. Auf jedenfall wurde er in meinem Gedächtnis schon bald von den echten Lovecraft - Erzählungen verdrängt.

Als ich mich kürzlich im Zusammenhang mit den diesjährigen Retro Hugos mit Derleth beschäftigte, kam mir der Gedanke, dass ich das alte Bändchen eigentlich mal wieder hervorkramen könnte. Was ich dann auch getan habe. Und um fair zu sein: Es war keine übermenschliche Qual, sich durch die knapp 180 Seiten zu lesen. The Lurker at the Threshold ist zwar kaum mehr als ein mittelmäßiger Roman, aber ich fand es ganz spannend, ihn mit einem analytischen Auge zu betrachten.

Als Derleth das Buch 1945 in seinem Verlag Arkham House herausbrachte, erweckte er den Anschein, als handele es sich dabei um einen unvollendeten Roman Lovecrafts, den er zu Ende geschrieben habe:

When H.P. Lovecraft died in 1937, he left behind certain notes and fragments, among them portions of an unfinished novel, which August Derleth took up, wove together, and completed as The Lurker at the Threshold … This is the second in the Arkham House Fantasy Novel series.

Im Unterschied zu den meisten anderen "posthumen Kollaborationen", bei denen Lovecrafts "Beitrag" selten aus mehr als einer kurzen Notiz in seinem Commonplace Book bestand, enthält der Roman zwar tatsächlich einige Passagen aus der Feder des alten Gentlemans. Sehr umfangreich sind diese allerdings nicht. Wie S.T. Joshi in H.P. Lovecraft: A Comprehensive Bibliography ausführt:

The Lurker at the Threshold (a 50,000-word novel) contains about 1,200 words by Lovecraft, most of it taken from a fragment entitled “Of Evill Sorceries Done in New England” [& "The Round Tower"], the balance from a fragment now titled “The Rose Window”.

Kein Wunder, dass das eigentümliche Buntglasfenster in der Bibliothek von Billington House das wohl eindrucksvollste Motiv des gesamten Romans ist. Doch der Reihe nach.

Der Roman beginnt mit einer Passage, die wie eine Mischung aus den Eröffnungsparagraphen von The Dunwich Horror und The Colour Out of Space wirkt. Was mich nicht wirklich überrascht hat: Wenn man schon kopiert, dann doch wenigstens den guten Stoff.

Nördlich von Arkham erheben sich düstere, wilde, von Wald und dichtem Pflanzenwuchs bedeckte Berge, durch die der Miskatonic – fast an der Grenze des Waldgebietes – in Richtung Meer fließt. Reisende, die durch diese Gegend kommen, spüren selten das Verlangen, tiefer in den Wald vorzudringen, obwohl ein schmaler Pfad hinein und dann vermutlich auch über die Berge führt, bis zum Miskatonic, um dann wieder in offenes Gelände zu münden. Die wenigen verlassenen Häuser, die dem Zahn der Zeit noch nicht zum Opfer gefallen sind, gleichen sich aufs erstaunlichste und sehen alle verwittert und verkommen aus, und während die Waldregion sich üppiges Wachstum erfreut, scheint das umliegende Land wenig fruchtbar.

In diesen düsteren Wäldern steht das genauso übel beleumundete Billington House. Ein verlassenes Anwesen, seit im frühen 19. Jahrhundert Alijah Billington mitsamt seiner Familie recht überstürzt nach England abreiste, um nie wieder zurückzukehren. Doch Anfang der 20er Jahre kommt sein Ururenkel Ambrose Dewart aus Großbritannien nach Arkham, mit dem erklärten Ziel, Billington House wieder bewohnbar und zu seinem Alterssitz zu machen* Kaum hat er sich dort  niedergelassen, verstößt er auch schon gegen eines der kryptischen Verbote, die sein Vorfahr für den Fall niedergeschrieben hatte, dass einer seiner Nachkommen nach Amerika zurückkehren sollte: "Er darf das um die Insel mit dem Turm fließende Wasser nicht in seinem Lauf hemmen, sich nicht am Turm zu schaffen machen und die Steine nicht anrufen." Nun ist der kleine Nebenfluss des Miskatonic ohnehin längst ausgetrocknet und Dewart hat auch kein Verlangen danach, die Stehenden Steine, die einen Kreis um den alten Turm bilden, "anzurufen", was auch immer das bedeuten soll. Aber er kann's nicht lassen, die versiegelte Öffnung an der Spitze des Turms zu öffnen. Das kann ja kein gutes Ende nehmen ... 
Doch vorerst beginnt Dewart bloß, die Geschichte seines Urahnen Alijah zu erforschen. Und das ist der vielleicht beste Teil von Lurker at the Threshold, denn er wirkt wie ein Stapel Hand-Outs aus einem alten Call of Cthulhu - Rollenspiel - Szenario: Das Tagebuch von Alijahs Sohn Laban; Auszüge aus dem Traktat Von Bösen Zauberyen Die da geschehen in Neu-Engelland von Dämonen So keine Menschen Gestalt haben; ein Absatz aus Reverend Ward Phillips' Buch Thaumaturgische Wunder-Zeichen in dem Neu-Englischen Canaan; alte Zeitungsartikel aus dem Arkham Advertiser und der Gazette sowie die Briefe eines gewissen Jonathan Bishop aus Dunwich. Schließlich stattet Dewart dem heruntergekommenen Nachbardorf sogar einen kurzen Besuch ab und interviewt dort die wunderliche alte Mrs. Bishop. 
Schon bald schält sich ein recht klares Bild heraus: Alijah Billington stand offenbar im Ruf eine Art Hexenmeister zu sein. Und alles spricht dafür, dass er in der Tat irgendwelche eigentümlichen Rituale in seinen Waldungen zelebriert haben muss. Auch verschwanden zu seinen Lebzeiten auf geheimnisvolle Weise einige Leute aus der Umgebung, deren Leichen man dann viel später irgendwo anders entdeckte, wobei alles darauf hindeutete, dass sie erst kürzlich gestorben und dann aus großer Höhe auf den Boden herabgestürzt waren ... 
So weit, so mysteriös. Doch es kommt schlimmer: Dewart beginnt zu schlafwandeln, wobei er offenbar regelmäßig den alten Turm aufsucht. Dann verschwinden erneut spurlos Einwohner von Dunwich. Zur selben Zeit entwickelt Dewart eine Art gespaltene Persönlichkeit. Er fühlt sich immer mehr dazu getrieben, Dinge zu tun, die ihm eigentlich widerstreben. Nur unter größter Willensanstrengung gelingt es ihm, einen hilfesuchenden Brief an seinen Cousin Stephen Bates in Boston zu schicken.

The Lurker at the the Threshold besitzt eine drücken wir es vorsichtig aus etwas eigenartige Struktur. Der Roman besteht aus drei Teilen. Dabei stellen die letzten beiden über weite Strecken Rekapitulationen der Ereignisse des ersten Teils dar. Mit anderen Worten, wir bekommen die selben Sachen drei Mal erzählt. Dass sich dabei jedesmal die Perspektive ändert, scheint mir kaum eine ausreichende Begründung für eine derartig repetitive Erzählweise zu sein.

Als Stephen Bates in Billington House eintrifft, wird er von einem überraschend kalten und abweisenden Ambrose Dewart empfangen. Nur ab und an verfällt er in einen Zustand nervöser Angst und scheint dann ein ganz anderer Mensch zu werden. Um zu ergründen, was mit seinem Cousin passiert ist, greift Bates dessen Recherchen wieder auf und liest sich durch die selben Dokumente und Aufzeichnungen. Er wiederholt sogar Dewarts Ausflug nach Dunwich. Beim Herumstöbern in der Bibliothek stößt er allerdings auch auf eine unvollständige, aus allen Ecken der Erde zusammengesammelte Version des Necronomicon.
Der recht lange Auszug aus dem Grimoire, den wir dabei präsentiert bekommen, ist eine ausgezeichnete Illustration für die Art, in der Derleth mit dem Cthulhu-Mythos umgegangen ist. Am Anfang steht die berühmte Passage, die wir aus  Lovecraft The Dunwich Horror kennen:
Nor is it to be thought that man is either the oldest or the last of earth’s masters, or that the common bulk of life and substance walks alone. The Old Ones were, the Old Ones are, and the Old Ones shall be. Not in the spaces we know, but between them, They walk serene and primal, undimensioned and to us unseen. Yog-Sothoth knows the gate. Yog-Sothoth is the gate. Yog-Sothoth is the key and guardian of the gate. Past, present, future, all are one in Yog-Sothoth. He knows where the Old Ones broke through of old, and where They shall break through again. […] Man rules now where They ruled once; They shall soon rule where man rules now. After summer is winter, and after winter summer. They wait patient and potent, for here shall They reign again.
Doch dann folgt ein langer Abschnitt, der nicht länger die kryptische Qualität des lovecraftschen "Originals" besitzt, sondern ziemlich offen Derleths Ideen von der Einkerkerung der Großen Alten durch die "guten" Älteren Götter beschreibt. Dabei ergeht er sich in der öden Auflistung aller möglichen "Mythoswesen", was sich dann u.a. so liest:
... seien es Dhols oder der Scheußl. Mi-Go od. d. Tcho-Tcho-Volk od. die Wesen aus der Tiefe od. d. Gugs od. die Hageren der Nacht od. d. Shoggothen od. die Voormis od. die Shantaks, die Kadath in d. Kalten Wüste & d. Plateau von Leng bewachen.         
Ebenso werden die Namen sämtlicher Großen Alten, von Cthulhu über Nyarlathotep bis zu Derleths eigenem Cthuga heruntergerasselt. Und natürlich findet sich auch eine Beschreibung des Älteren Zeichens, jener magischen Waffe, die Derleths Helden regelmäßig gegen die Großen Alten und ihre Diener zum Einsatz bringen.
Von der lovecraftschen Atmosphäre des in seinen Erscheinungsformen nur vage angedeuteten Kosmischen Grauens bleibt dabei wenig erhalten.

Im dritten Teil schließlich gelangen die von Bates zusammengetragenen Dokumente und Beobachtungen auf den Schreibtisch von Seneca Lapham, seines Zeichens Professor für Anthropologie an der Miskatonic University von Arkham. Was folgt ist ein seitenlanger Monolog, in dem Lapham seinem jungen Assistenten Winfield Phillips zuerst den Cthulhu-Mythos darlegt und anschließend jedes Ereignis der ersten beiden Teile und alle Geheimnisse der Geschichte von Billington House minutiös erläutert und aufklärt. In erzählerischer Hinsicht stellt dieser Teil einen rapiden Absturz des Romanes dar. Was immer an unheimlicher Atmosphäre vorhanden war, wird gnadenlos zerredet. Das Ganze mündet in ein absurd überhastetes Finale, in dem die beiden Akademiker ohne größere Probleme mit Hilfe von Zement, einem Gewehr mit Silberkugeln und natürlich dem Älteren Zeichen auf ebenso brachiale wie spannungslose Weise die Rückkehr Yog-Sothoths in unsere Welt verhindern.

"Und wo ist da jetzt das Buntglasfenster?", wird man zurecht fragen. Nun ja, die Sache ist die, dass das Fenster eigentlich keine wirklich wichtige Rolle in der Handlung spielt. Es ist nicht mal ganz klar, zu welchem Zweck es überhaupt konstruiert wurde. Aber dafür ist es im Vergleich zum Rest des Romans ziemlich originell. 

Neugierig blickte Dewart zu dem Fenster hoch [...] Gewiß war das Muster interessant; es bestand aus konzentrischen Kreisen, von deren Mittelpunkt Strahlen ausgingen, und das mehrfarbige Glas, welches das runde Mittelteil umrahmte, ließ es jetzt am späten Nachmittag, da die Sonne direkt darauf schien, besonders hell leuchteten. Während er es betrachtete, trat ein äußerst kurioser Effekt ein; die bleigefaßten Kreise schienen sich zu bewegen und sich schnell zu drehen; die Strahlenlinien schienen zu zittern und sich zu krümmen; und etwas wie ein Porträt oder eine Szene schien sich auf den Scheiben bilden zu wollen.
Leider habe ich Lovecraft Fragment "The Rose Window" nicht gelesen, kann also auch nicht sagen, was genau in der Beschreibung des Fensters auf den alten Gentleman zurückgeht. Doch solange mir nichts gegensätzliches bekannt geworden ist, werde ich ihn für die Originalität der Idee verantwortlich machen. Denn originell ist Derleth in diesem Roman ja sonst nicht gerade. 

Vor allem drei von Lovecrafts Erzählungen sind ziemlich deutlich in The Lurker at the Threshold eingeflossen: The Dunwich Horror, The Rats in the Walls und The Case of Charles Dexter Ward. Dabei fällt auf, dass Derleth in allen drei Fällen  nur oberflächliche Versatzstücke entlehnt, die tiefere Motivik aber völlig ignoriert hat. 
 
Ambrose Dewarts Handlungsstrang ist eine Art Umkehrung der Geschichte von Delapoer aus Rats in the Walls, insofern hier nicht ein Amerikaner nach England, sondern ein Brite in die Staaten kommt. Beide kehren 1921 nach dem Verlust ihres einzigen Sohnes im 1. Weltkrieg zum alten Stammsitz ihrer Familie zurück und richten ihn wieder her, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. In der Folge werden beide von der düsteren Vergangenheit ihrer Sippschaft eingeholt und gehen daran zugrunde. Doch The Rats in the Walls ist in erster Linie eine Geschichte über die Angst vor Degeneration und Atavismus, dabei zugleich eine Art motivischer Umkehrung von Edgar Allan Poes The Fall of the House of Usher.** Lurker at the Threshold besitzt keine solche tiefere Ebene. Dewarts Vorfahr ist einfach bloß ein "unsterblicher" Hexenmeister, der die Kontrolle über ihn übernimmt.
Was natürlich an The Case of Charles Dexter Ward erinnert. Doch erneut bleiben die Parallelen an der Oberfläche. Lovecrafts Novelle handelt von einem Mann mit einer obsessiven Faszination für die Vergangenheit. Als es ihm gelingt, diese im wahrsten Sinne des Wortes "wieder zum Leben zu erwecken", ermordet ihn deren Verkörperung und stiehlt seine Identität. Ich habe darin immer eine erstaunlich selbstkritische Reflexion über Lovecrafts eigene Obsession für die "alten Zeiten", insbesondere das vorrevolutionäre Neuengland des 18. Jahrhunders, gesehen.
Am stärksten spürbar ist sicher der Einfluss von The Dunwich Horror.  Und dass nicht nur, weil das Setting des Arkhamer Hinterlandes mit seinen Wäldern und Hügeln direkt von dort importiert wurde. Das ganze Szenario eines nicht ganz menschlichen Hexenmeisters, der ein Tor für die Großen Alten öffnen will, und am Ende von einigen "eingeweihten" Akademikern der Miskatonic University bezwungen wird, stammt im Grunde aus dieser Erzählung. Ebenso natürlich die Passage aus dem Necronomicon und die Idee unsichtbarer Ungeheuer. Und doch fehlt auch hier wieder der thematische Unterbau. Bei Lovecraft verkörpern Dunwich und seine Bewohner Verfall und Degeneration. Die heruntergekommene Gemeinde bildet deshalb den idealen Nährboden für das finstere Treiben von "Wizard" Whateley und seiner monströsen Sippschaft. Ihnen gegenüber stehen die drei Universitätsgelehrten als Vertreter von Zivilisation und Wissenschaft. Auch ließe sich argumentieren, dass die Whateleys die Sphäre des Sinnlich-Sexuellen verkörpern (welches freilich als pervers und abstoßend dargestellt wird), während die Akademiker für den unsinnlichen (oder gar sinnenfeindlichen) Intellekt stehen.***
Nichts davon bei Derleth: Sein Hexenmeister ist ein kultivierter Gentleman, ein Mitglied der Gentry, kein wunderlicher Alter in seinem heruntergekommenen Farmhaus. Dunwich ist hier nicht die Brutstätte des Bösen, seine Bewohner sind vielmehr die Opfer von Billingtons magischen Machenschaften. Interessanterweise liefert der Roman sogar eine übernatürliche Erklärung für deren scheinbare Degeneriertheit. Eine bewusste Umkehrung der lovecraft'schen Motive? Wenn ich das glauben könnte, erschiene mir Derleth plötzlich in einem sehr viel sympathischeren Licht. Dann ließe sich The Lurker at the Threshold als eine implizite Kritik an den sozialdarwinistischen und biologistischen Wahnideen Lovecrafts und seinem pseudoaristokratischen Standesdenken lesen. Aber irgendwie bezweifel ich das. 

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht angebracht, noch kurz ein paar Worte über den indianischen Charakter Misquamacus/Quamis zu verlieren, der mal als ein Angehöriger der Wampanaug, mal der Narragansett beschrieben wird. Selbst ein Zauberer und Verehrer der Großen Alten hat er wie sein Meister Billington Wege gefunden, den Tod zu überlisten, und tritt immer wieder als dessen Diener auf. The Dunwich Horror erwähnt

old legends [...] of unhallowed rites and conclaves of the Indians, amidst which they called forbidden shapes of shadow out of the great rounded hills, and made wild orgiastic prayers that were answered by loud crackings and rumblings from the ground below.

Diese Passage dürfte die Inspiration für die Figur gewesen sein. Allerdings muss man sagen, dass Quamis kaum dem lovecraftschen Stereotyp des primitiven Wilden oder jener "men of a very low, mixed-blooded, and mentally aberrant type" entspricht, die in The Call of Cthulhu die Mehrheit der Kultisten stellen. Anders als die Bewohner von Dunwich spricht er keinen "Yokel-Dialekt", sondern "korrektes" Englisch. In Labans Tagebuch erscheint er als Gefährte des zehnjährigen Jungen, den er bei Streifzügen durch die Wälder begleitet und mit dem Erzählen alter Legenden unterhält: "dem Jungen, einem phantasievollen Kind, machte es Spaß mit dem Indianer zusammenzusein". Natürlich wirkt bereits die Verknüpfung der Großen Alten mit den religiösen Vorstellungenn "primitiver" Völker fragwürdig. Ein fester Bestandteil des Cthulhu-Mythos, der bei Derleth sogar besonders stark betont wird. Dennoch hebt sich Quamis recht angenehm von den rassistischen Karrikaturen ab, denen man immer mal wieder in Lovecrafts Erzählungen begegnet. Natürlich ändert das nichts daran, dass er am Ende von Prof. Lapham über den Haufen geschossen wird (und sich in ein Häuflein Staub verwandelt).

Womit mir zum letzten, für mich aber auch interessantesten Punkt kommen.

Laphams ellenlanger Monolog im dritten Teil ist, was Erzählfluss und Atmosphäre betrifft, schlicht eine Katastrophe. Doch bei der Lektüre fiel mir irgendwann auf, wie stark die Argumentation des Professors, der seinen skeptischen Assistenten Phillips von der Realität des Cthulhu-Mythos zu überzeugen versucht, dem Geschreibsel irgendwelcher Anhänger der Prä-Astronautik à la Erich von Däniken ähnelt. Leider kann ich meine Ausgabe von Erinnerungen an die Zukunft in dem Chaos hier gerade nicht finden, aber wenn Lapham von den Scheuklappen der offiziellen Wissenschaft spricht, die alle Tatsachen, die nicht in ihr vorgefasstes Weltbild passen, als "Zufälle" abtut oder einfach ignoriert, dann klingt das für mich beinah wie ein wörtliches Zitat aus dem Schmöker des Prä-Astronautik-Gurus:

Die wissenschaftliche Gepflogenheit, viele Dinge, die wir nicht sofort verstehen oder die nicht zu einer vorgefaßten, wissenschaftlichen Meinung passen, als "Zufall", "Halluzination" oder etwas in der Art abzustempeln, ist höchst bedauerlich.

 Man nehme etwa folgenden Absatz über Stephen Bates' Aufzeichnungen:

Entweder es ist ein Tatsachenbericht, oder es ist keiner. Wenn wir seine Faktizität in Abrede stellen, dann stellen wir zugleich allgemein bekannte Ereignisse in Abrede, die bezeugt und schriftlich festgehalten wurden und in die Geschichte eingegangen sind. Wenn wir nur diese allgemein bekannten Tatsachen akzeptieren, dann würden wir wahrscheinlich jedes andere hier angeführte Ereigniss für "Zufall" erklären, ungeachtet des Umstands, daß der mathematische Mittelwert einer solchen Reihe von Zufällen gemäß jedem wissenschaftlichen Verfahren völlig unakzeptabel ist.      

Oder diesen über die scheinbaren "Mutationen" gewisser Kultisten in der Südsee, die natürlich Folge der sexuellen Vermischung mit den Deep Ones sind:
Doch die Wissenschaft, der keine konkreten Beweise für die Existenz solcher Meeresbewohner vorliegen, streitet einfach ab, daß es stimmt; die Mutationen werden als "negative" Beweise und deshalb als nicht zulässig abgetan, und man denkt sich eine ausgeklügelte Erklärung aus, um nachzuweisen, daß das Zutagetreten primitiver Merkmale nicht unbekannt sei, die Eingeborenen werden als "regressiv", als "atavistische" Kuriositäten etikettiert, und der Vorfall kommt ordnungsgemäß zu den Akten.
Noch besser wird es, wenn Lapham Charles Fort ins Feld führt und anfängt, eine ganze Reihe von "mysteriösen Lichterscheinungen am Nachthimmel" aufzuzählen. Dabei handelt es sich durchweg um "reale UFO-Sichtungen" des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Doch da der Roman zwei Jahre vor Kenneth Arnolds berühmter Begegnung mit den "Fliegenden Untertassen" erschien, die die erste große UFO-Hysterie-Welle der amerikanischen Nachkriegsgeschichte auslöste, wirkte es für die ursprüngliche Leserschaft wahrscheinlich nicht ganz so bizarr, dass Lapham statt außerirdischer Raumschiffe einen herumschwebenden Yog-Sothoth als Erklärung anbietet.

Angesichts dessen wanderten meine Gedanken ganz automatisch zu Jason Colavito und seiner These, dass der ganze Prä-Astronautik-Blödsinn letztenendes tatsächlich auf Lovecraft zurückgeführt werden könne. Sein Buch The Cult of Alien Gods: H.P. Lovecraft and Extraterrestrial Pop Culture habe ich zwar nicht gelesen, bin mit seiner darin vertretenen Theorie aber doch in groben Zügen vertraut. 

Die entscheidene Verbindungsfigur dabei ist Jacques Bergier. Geboren 1912 als Jakow Michailowitsch Berger in Odessa, war er zusammen mit seiner Familie 1925 nach Frankreich ausgewandert. Dort studierte er später Mathematik und Chemie. Mitte der 30er Jahre wurde er Assistent des Atomphysikers André Helbronner, zugleich aber ein begeisterter Leser von Weird Tales und ein großer Fan von H.P. Lovecraft. Ein Leserbrief, den er in Reaktion auf den Tod des alten Gentlemans schrieb, erschien im September 1937 in The Eyrie. Darin deutet sich bereits an, dass seine Faszination für Lovecraft über das Literarische hinausging:

And in spite -- or perhaps because -- of  my scientific training I sometimes think that perhaps Lovecraft had a glimpse across 'undreamable abysses,' of facts about the structure of our universe that science will one day discover.****
Nach dem Krieg wurde Bergier ab 1953 Mitarbeiter des SF - Magazin Fiction, zu dem er bis 1960 regelmäßig Essays beisteuerte. Als 1954 in der Reihe Présence du Futur der Lovecraftband La couleur tombée du ciel erschien schrieb er das Vorwort dazu. Ein Jahr später wurde sein Essay H.P. Lovecraft ce grand génie venu d'ailleurs in dem Sammelband Démons et merveilles abgedruckt. Bergier gehörte ohne Zweifel zu den großen Herolden des alten Gentleman in Frankreich.
1954 lernte er den Schriftsteller und Verleger Louis Pauwels kennen. Die beiden teilten offenbar viele ihrer zum Teil recht wunderlichen Interessen. 1960 veröffentlichten sie Le Matin des Magiciens (The Dawn of Magic / The Morning of the Magicians / Aufbruch ins dritte Jahrtausend), eine wüste Mixtur aus Pseudowissenschaft, Parapsychologie, okkulten Verschwörungstheorien (u.a. über die proto-nazistische Vril-Gesellschaft), Alchimie und anderem Unsinn, die zu einem Bestseller der Counter Culture werden sollte. Der Schmöker enthält neben vielem anderen auch die grundlegenden Bestandteile der Prä-Astronautik. Erich von Däniken plagiierte später hemmungslos ganze Passagen daraus für seine Erinnerungen an die Zukunft
Ab Oktober 1961 gaben Bergier und Pauwels dann das Magazin Planète heraus, dessen Inhalt eine kuriose Mischung aus Science Fiction, "Futurologie" und wilden "philosophischen" und pseudowissenschaftlichen Gedankenflügen darstellte. Immerhin war es aber auch dafür verantwortlich, ein etwas breiteres Publikum in Frankreich mit den Werken von Jose Luis Borges bekannt zu machen. Die erste Nummer enthielt einen Neuabdruck von Bergiers Essay H.P. Lovecraft ce grand génie venu d'ailleurs sowie eine Übersetzung von Lovecrafts Kurzgeschichte Hypnos.

In The Morning of the Magicians fällt der Name Lovecraft nur zweimal. Und scheinbar nicht im Zusammenhang mit irgendwelchen urzeitlichen Alienbesuchen auf der Erde. Vielmehr feiern ihn Bergier und Pauwel als "the greatest poet and champion of the theory of parallel Universes" und "father of what has come to be known as science fiction".***** Dennoch scheint mir Jason Colavitos These nicht ganz so abwegig. Dass Jacques Bergier ein begeisterter Lovecraft-Fanboy war, steht außer Frage. Und die Parallelen zwischen Prä-Astronautik und Cthulhu-Mythos sind ja in der Tat nicht zu übersehen. Lovecrafts außerweltliche Kreaturen lassen sich zwar kaum als "Astronauten" bezeichnen, aber sie sind von den Sternen gekommen, haben die Entwicklung der Menschheit beeinflusst und ihre Spuren in den Mythen der frühen Völker und in Gestalt geheimnisvoller Ruinen und Artefakte hinterlassen. In seinem 1970 erschienen Folgeband Les extraterrestres dans l'histoire erkennt Bergier den Einfluss Lovecrafts dann anscheinend auch sehr viel offener an:

This book is as much a factual accounting as possible. However, among its readers there will certainly be some science-fiction fans who would like to know what the connection is between the mysteries we have described in this chapter and the myths created by H. P. Lovecraft [...] Much of [Lovecraft's work] relates so directly to the mysteries we have just described that there are still people who go to the Biblioteque Nationale or to the British Museum and ask for the Necronomicon! [...] It is not impossible that at least a part of Lovecraft's myth may be verified when the Empty Quarter is opened to exploration.

Nach meiner Lektüre von The Lurker at the Threshold frage ich mich allerdings, ob nicht vielleicht auch August Derleth einen kleinen Part in dieser kuriosen Entwicklungslinie gespielt hat. Ich halte es nicht für so unwahrscheinlich, dass Jacques Bergier als Übersetzer, Kommentator, Herausgeber und Werbetrommler der Werke Lovecrafts Verbindungen zu Arkham House hatte. Immerhin behauptete der Verlag, im Besitz der Copyrights zu sein. Und könnte ihm dabei nicht auch einmal eine Ausgabe dieser ersten "posthumen Kollaboration" in die Hände gefallen sein? Jedenfalls wirken Professor Laphams Ausführungen wie die direkte Vorlage zu Bergiers späterem Vermischen von Pseudowissenschaft und Bröckchen des Cthulhu-Mythos.        

  


 

* Ein bezeichnendes kleines Detail: Derleth beschreibt Dewart so: "[Er] hatte seinen einzigen Sohn im Großen Krieg verloren. Da er keine anderen Kinder hatte, hatte er Amerika als Hafen angesteuert, in dem er den Rest seiner Tage verbringen wollte." Dewarts Ehefrau (die es ja wohl gegeben haben muss) wird in dem ganzen Roman mit keinem Wort erwähnt. Ist sie gestorben? Weggelaufen? Von Cthulhu gefressen worden? Who knows ... In Lovecrafts The Rats in the Walls, dem offensichtlichen Vorbild der Dewart-Story, wird wenigstens angedeutet, dass Delapoers Frau jung verstorben ist, denn sein Sohn Alfred wird an einer Stelle als "a motherless boy of ten" beschrieben.

** Delapoer, dessen Familienname (alte Schreibform De la Poer) wohl als Anspielung auf Poe verstanden werden darf, fällt schließlich auf den biologisch-zivilisatorischen Entwicklungsgrad eines urzeitlichen Kannibalen zurück. Roderick Usher hingegen leidet an einer extremen Überfeinerung der Sinne und an einer unheilbaren Melancholie, er ist die Verkörperung der Décadence, nicht der Degeneration. Kein barbarischer Atavismus, sondern ein Übermaß an Kultur und Intellektualität besiegeln sein Schicksal.

*** Interessanterweise spielt The Dunwich Horror 1928, also mehrere Jahre nach den Ereignissen von The Lurker at the Threshold. "Wizard" Whateley müsste zu diesem Zeitpunkt noch am Leben sein und Dewart hätte bei seinem Besuch in dem Dorf theoretisch dem heranwachsenden Wilbur Whateley begegnen können. Was höchst eigenartig wirkt, wenn man mal etwas genauer darüber nachdenkt. Allerdings existieren immer wieder Abweichungen zwischen der Timeline in Lovecrafts Erzählungen und Derleths Mythos-Geschichten, wie der gute Pete Rawlik in seinem Buch The Lurking Chronology im Detail nachgezeichnet hat. Ob das auch hier der Fall ist, weiß ich allerdings nicht. Rawlik ist nebenbei bemerkt außerdem ein Autor, der immer wieder -- u.a. mit seiner Reanimator - Trilogie (Reanimators; The Weird Company und Reanimatrix) -- bewiesen hat, dass Lovecraft-Pastiches sehr wohl auch großen Spaß machen können. 

**** Weird Tales, September 1937, S. 382.

***** The Morning of the Magicians, S. 131.