"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 30. August 2014

Strandgut der Woche

Freitag, 29. August 2014

Gedanken über den Russischen Symbolismus (III)

Aufs Engste verbunden mit dieser Furcht vor der Selbsterkenntnis war das Gefühl der absoluten Isolation.
Die Atomisierung der Gesellschaft und die Entfremdung und Vereinzelung der Menschen sind natürliche Folgen des Kapitalismus, unter dessen Druck sich alle korporativen Strukturen der vorbürgerlichen Zeit auflösen. In der Psyche der russischen Intellektuellen jedoch fand diese Entwicklung einen besonders drastischen Niederschlag. Ihre soziale Stellung als Teil der Mittelklasse, ihre innere Distanz zu Bürgertum und Arbeiterklasse brachten sie in eine extreme Außenseiterposition. Spätestens die Ereignisse von 1905 hatten gezeigt, dass die Intelligenzija in den großen Kämpfen, die über Russlands Zukunft entscheiden sollten, keine unabhängige Rolle spielen würde. Ihr traditioneller Anspruch auf geistige Führerschaft geriet in immer größeren Widerspruch zu den realen Verhältnissen der Zeit. Darauf reagierten die Intellektuellen einerseits mit der Flucht in die berauschende Illusion des eigenen Übermenschentums, andererseits beklagten sie immer lauter das Unverständnis der Welt für ihre Gefühle und Gedanken. Die Einsamkeit des Menschen wurde zu einem beherrschenden Thema in Literatur und Philosophie. Mereschkowskis Ehefrau, die uns bereits bekannte symbolistische Dichterin und Petersburger Salondame Sinaida Hippius, schrieb im Vorwort zu einer Sammelausgabe ihrer Lyrik:
Sind wir schuld daran, daß jedes "Ich" jetzt ein besonderes, für sich bestehendes, von dem anderen "Ich’"losgerissenes und darum für es unverständliches und unnützes "Ich" geworden ist? Für uns, und zwar für jeden, ist unser Gebet [S.H. meint damit ihre Lyrik] schrecklich notwendig, begreiflich und teuer, wir brauchen unser Dichtwerk – die Widerspiegelung dessen, wovon unser Herz im Augenblick voll ist. Aber für den anderen, dessen heiliges "Selbst" ein anderes ist, ist mein Gebet unbegreiflich und fremd. Das Bewußtsein der Einsamkeit reißt die Menschen noch mehr voneinander los, sondert die Seele ab, macht, daß sie sich verschließt. (1)
Wie jedes Kunstwerk ist auch das Gedicht eine Form der Kommunikation, der Übermittlung von Gedanken, Gefühlen, Stimmungen. Davon muss auch Sinaida Hippius ausgegangen sein, andernfalls hätte sie ihre Verse ja nicht veröffentlicht. Und doch schrieb sie ausgerechnet in einem Vorwort an ihre Leser, dass diesen ihre Lyrik für immer fremd bleiben müsse! Wie sich aus diesem Dilemma befreien? Sinaida Hippius bezeichnete ihre Gedichte ausdrücklich als "Gebete" und vertrat sogar die höchst eigenwillige Theorie, jedwede Poesie sei „nur eine der Formen, die in unserer Seele das Gebet annimmt.“ (2) Begegnete die unbarmherzige Welt den gepeinigten Individualisten mit kaltem Unverständnis, so würde doch wenigstens der Herrgott ein offenes Ohr für ihre intimsten Seelenqualen haben.
Diese wenig ansprechende Mischung aus Selbstmitleid und mystischer Weltflucht, die die emotionale Grundlage der neuentdeckten Religiosität bildete, hatte die Dichterin bereits 1893 in ihrem berühmten Lied in formvollendete Verse gegossen:
Es liegt mein Fenster sehr weit in der Höhe,
Sehr weit in der Höhe,
Seh nur den Himmel mit der Abendröte,
Mit der Abendröte.

Es scheint der Himmel leergefegt und bläßlich,
So leergefegt und bläßlich,
Und er erbarmt sich nicht des kranken Herzens,
Nicht meines kranken Herzens..

Ach, ich im namenlosen Leid verbrenne,
Im Leid verbrenne,
Ich strebe stets nach dem, was ich nicht kenne,
Ich nicht kenne.

Und dies Verlangen, weiß nicht, wie es mir gekommen,
Wie es mir gekommen …
Dem Herzen möchte wohl ein Wunder frommen,
Wunder frommen!

Oh, könnte geschehen, was nie zu erweisen,
Was nie zu erweisen:
Der bläßliche Himmel soll Wunder verheißen
Mir Wunder verheißen.

Doch tränenlos klag ich Versprechen, die leer sind,
Versprechen die leer sind.
Ich brauche das, was nicht ist auf Erden,
Nicht ist auf Erden. (3)
Das unerträglichste an neuzeitlichen Mystikern wie Mereschkowsksi und Sinaida Hippius ist, dass sie große Ideen der Vergangenheit, die einmal die Träume und Hoffnungen ganzer Völker oder sozialer Klassen zum Ausdruck gebracht hatten, als spirituelles Heilmittelchen für ihr kleines verletztes und verängstigtes Ego benutzen. So verkündete das Prophetenpärchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner Zeitschrift Novyj Put (Neuer Weg) den baldigen Anbruch eines "Dritten Zeitalters" – des Zeitalters des Heiligen Geistes, in dem sich alle Widersprüche der menschlichen Existenz auflösen würden. Diese Geschichtsphilosophie lag auch Mereschkowskis Romantrilogie Christ und Antichrist zugrunde, in dessen abschließendem Band Peter der Große und sein Sohn Alexej der Autor über das bevorstehende neue Äon orakelte:  
Es gab eine alte Kirche, die Kirche Petri, des Gottesfelsens. Es entsteht eine neue Kirche, die Kirche Johannis, des Donnersohnes ... Das erste Reich, das Alte Testament, ist das Reich des Vaters. Das zweite, das Neue Testament, ist das Reich des Sohnes. Das dritte, das Letzte Testament, ist das Reich des Heiligen Geistes. (4)
Moment mal! Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor ... Und tatsächlich! Diese Drei-Reiche-Lehre hatte Mereschkowski bei Joachim von Fiore geklaut, einem kalabresischen Abt des 12. Jahrhunderts. Jener hatte gleichfalls von einem "Dritten Zeitalter" gesprochen, einem Reich der absoluten Freiheit, in dem es keine hierarchischen Autoritäten mehr geben werde und sich alle Menschen in einer Gemeinschaft begierdeloser Liebe vereinigen würden. Doch wenn radikale Franziskaner des 13. Jahrhunderts wie Gerhard von Borgo San Donnino im Anschluss an Joachims Lehren den unmittelbar bevorstehenden Anbruch dieses Äons des Heiligen Geistes verkündeten, so sprachen aus ihnen die mit der volkstümlichen Armutsbewegung verbundene Hoffnung auf eine gerechtere Welt und der auf Grundlage der gesellschaftlichen Umwälzungen des 12. Jahrhunderts erwachsene Glaube an den geschichtlichen Fortschritt. (5) Welch gewaltige Wirkung diese Ideen auf die Menschen des Hochmittelalters hatten, lässt sich anhand einer Passage aus dem berühmten Roman de la Rose erahnen. Jean de Meun schreibt dort über die Einführung in das Ewige Evangelium des Gerhard von Borgo San Donnino: "In Paris gab es niemanden,/ der es auf dem Vorplatz von Notre-Dame/ damals nicht hätte erhalten können,/ um es abzuschreiben, wenn er Lust dazu gehabt hätte." Die herrschenden Klassen Europas sahen in der rasch um sich greifenden joachimitischen Lehre nicht ohne Grund eine ernstzunehmende Bedrohung. Als der bekannte Philosoph Bonaventura nach 1256 im Auftrag der Kurie den Franziskanerorden von allen radikalen Elementen säuberte, um ihn in ein Instrument päpstlicher Machtpolitik zu verwandeln, wandte er sich dabei in erster Linie gegen die Anhänger Joachims, die in Franziskus von Assisi den Vorboten des "Dritten Zeitalters" sahen. Gerhard von Borgo San Donnino erhielt Lehrverbot, um später auf Sizilien eingekerkert zu werden. Für Jean de Meun war Gerhards Werk – „diese[s] schreckliche Ungeheuer“ – nicht nur ein Machwerk des Antichrist, sondern ein direkter Aufruf zur Revolution: „Und wenn nicht die gute Hut/ der Universität gewesen wäre, die den Schlüssel/ der Christenheit bewahrt,/ dann wäre alles umgestürzt worden“ (6) Wenn Jean den Bettelmönchen um Gerhard vorwarf, sie wollten die gesamte Weltgeistlichkeit ermorden, so war dies zwar eine bösartige Verleumdung; doch als an der Wende zum 14. Jahrhundert der von den joachimitischen Ideen beeinflusste Fra Dolcino in den Piemonteser Alpen mit seinen Apostelbrüdern zum bewaffneten Aufstand gegen die Mächtigen der Erde überging, war eines der erklärten Ziele der Sekte tatsächlich die physische Ausrottung des verhassten Klerus.

Wie erbärmlich nimmt sich neben diesen gewaltigen Kämpfen des Mittelalters die individualistische Mystik eines Mereschkowski aus. Das "Dritte Zeitalter" sollte seinen russischen Propheten vor allem von den Widersprüchen seiner eigenen Seele erlösen – von dem Konflikt zwischen Sexualität und Asketismus, heidnischer Sinnenlust und christlicher Vergeistigung, Individuum und Gesellschaft, Religiosität und Skeptizismus. Den Zarismus hingegen verherrlichte er als eine gottgegebene "mystische Ordnung".
Als 1905 die Revolution ausbrach, ließen sich Sinaida Hippius und ihr Mann zwar von der Bewegung der Massen mitreißen, bewiesen dabei aber nur einmal mehr, wie fremd ihnen die wirklichen Gefühle des russischen Volkes waren. Denn während die Zeugen im Prozess gegen die Mitglieder des Petersburger Sowjets – einfache Arbeiter aus den Fabriken der Hauptstadt – sich größtenteils weigerten, den Eid auf die Bibel abzulegen – „’But aren’t you members of the orthodox faith?’ - ‘That’s what it says in the police books, but we dont’t hold with that kind of thing’“ (7) –, feierten diese lebensfernen Gottsucher die dramatischen Ereignisse von 1905 allen Ernstes als eine "religiöse Revolution" und predigten von nun an einen "Mystischen Anarchismus". Dieses bizarre Mischmasch aus Nietzsche, Bakunin, Byron, Dostojewski, dem revolutionären Panslawismus Aleksandr Herzens, dem christlichen Anarchismus Leo Tolstois und einer Reihe anderer Ingredienzien zeigte, dass sie die Revolution nur bejahen konnten, indem sie die Volksmassen nach ihrem eigenen Vorbild ummodelten. Für sie waren die revolutionären Kämpfe nicht Ausdruck sozialer und politischer Konflikte, sondern vielmehr Produkt der "russischen Seele". In dem 1908 herausgegebenen Buch Der Zar und die Revolution versuchten Mereschkowski, Sinaida Hippius und Dimitri Filosowow dem europäischen Publikum die russischen Ereignisse zu "erklären", gaben dabei aber lediglich einen Einblick in die Konfusion, die in ihren Köpfen herrschte: 
Kant würde sagen: unser Geist liege im Transzendentalen, der eurige aber im Phänomenalen. Nietzsche würde sagen: bei euch herrscht Apollo, bei uns Dionysos; euer Genius besteht im Maßvollen, der unsere im ungestümen Drang. [...] Wir gehen nicht, wir rennen. Wir laufen nicht, wir fliegen, wir fliegen nicht, wir stürzen dahin. Ihr liebt den goldenen Mittelweg, wir lieben die Extreme. Ihr seid gerecht, für uns gibt es keinerlei Gesetze; ihr könnt euer seelisches Gleichgewicht bewahren, wir streben immer danach, es zu verlieren. [...] Wir aber bleiben Empörer und Anarchisten, selbst wenn wir an Sklavenketten geschmiedet sind. Verstand und Gefühl führen uns bis zur äußersten Grenze der Verneinung, und dessen ungeachtet bleiben wir alle im tiefsten Grunde unseres Wesens und unseres Willens Mystiker. 
Selbstverständlich richtete sich dieses Werk nicht an die breiten Massen Westeuropas, sondern „nur an einzelne Geister von universaler Bildung, an Menschen, welche die Ansicht Nietzsches teilen, daß der Staat das kälteste von allen kalten ‘Ungeheuern’ ist“. (8)
"Mystischer Anarchismus", verwässertes Nietzscheanertum und Beschwörung der geheimnisvollen "russischen Seele" – dies mochte dem Geschmack jener westeuropäischen Feuilletonistem entgegennkommen, die nach einem spöttischen Ausdruck Rosa Luxemburgs dem Phänomen der Revolution mit „Phrasen von krachenden Eisschollen, unendlichen Steppen, stumpfen, weinenden, müden Seelen“ beizukommen versuchten und deren „ganze Wissenschaft über Rußland aus der jüngsten Theatervorstellung des Gorkischen ‘Nachtasyl’ oder aus ein paar Tolstoischen Romanen herrührt(e)“. (9) Mit den realen Kämpfen des Jahres 1905 hatte das jedenfalls herzlich wenig zu tun. Dafür jedoch um so mehr mit den Wünschen und Sehnsüchten der drei Verfasser. Wie gerne wären sie luziferische Empörer im Stile Lord Byrons gewesen und hätten sich dem dionysischen Rausch maßloser Leidenschaften hingegeben. Sinaida Hippius legte sich in diesen Jahren das Pseudonym "Anton Krajnyj" – "Anton der Extremste" – zu ... Doch in Wahrheit erschöpfte sich das Rebellentum der "mystischen Anarchisten" im Verfassen provokanter Gedichte und in einer skandalumwitterten sexuellen ménage-a-trois – nicht gerade übermäßig beeindruckend in einer Zeit, die den Blutsonntag, den revolutionären Oktoberstreik und den Moskauer Dezemberaufstand erlebt hatte. 

In seinem 1909 verfassten Aufsatz Die Zerstörung der Persönlichkeit teilt uns Maxim Gorki die interessante Beobachtung mit, dass unter den russischen Intellektuellen jener Jahre eine geradezu panische Angst vor dem Tod, dem Verlöschen der eigenen individuellen Existenz, grassierte. Mereschkowski bekannte ganz offen:
Ehrlich gesagt, ich möchte gern, daß mit meinem Tod alles zugrunde geht; übrigens wird es auch so sein: Wenn es keine persönliche Unsterblichkeit gibt, dann geht für mich mit meinem Tode alles zugrunde. 
Deutlicher hätte man den extremen Egozentrismus, der all den schönen Worten über die "göttliche Persönlichkeit" psychologisch zugrundelag, nicht ausdrücken können. Und wie die meisten Leute seines Schlages war auch Mereschkowski davon überzeugt, dass alle Menschen so empfinden müssten wie er selbst. Wer dies aber ganz offensichtlich nicht tat, der war irgendwie nicht "normal":
Ist Giordano Bruno etwa gestorben? Von wegen gestorben, verreckt ist er wie ein Hund, schlimmer als ein Hund, denn ein Tier weiß wenigstens nicht, was mit ihm geschieht, wenn es stirbt, aber Giordano Bruno wußte es. (10)
Dass Menschen wie Bruno bereit waren, für ihre Ideen in den Tod zu gehen, berührte ihn – der als "spiritueller Christ" doch eigentlich an die unsterbliche Seele hätte glauben sollen  – höchst unangenehm, denn er selbst wäre dazu natürlich niemals bereit gewesen. Mochte er sich zur Konstruierung seines eigenen Weltbildes auch bereitwillig bei Joachim von Fiore bedienen, nie hätte er Persönlichkeiten wie Fra Dolcino oder dessen Gefährtin Margherita verstehen können. Diese hatten für ihren Traum vom "Dritten Zeitalter" nicht nur voller Leidenschaft gekämpft, sondern konnten nach der Niederschlagung ihrer Bewegung durch päpstliche Kreuzfahrerheere selbst unter der grausamsten Folter nicht dazu gebracht werden, ihrem Glauben abzuschwören, und waren schließlich nach unzähligen sadistischen Marterungen auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.

Für einen kurzen Moment hatte die Revolution Mereschkowski, Sinaida Hippius und ihre Gesinnungsgenossen mit sich fortgerissen. Sie ließ sie den "Mystischen Anarchismus" erfinden und hauchte den gequälten Seelen vielleicht sogar ein wenig neues Leben ein. Doch eine dauerhafte Beziehung konnte sich daraus nicht entwickeln, denn auch der Prophet des "neuen religiösen Bewusstseins" musste sich in nüchternen Momenten ehrlicherweise eingestehen: „Es ist fast unmöglich, selbst nur den ersten Ansatzpunkt für die theokratische Aktion zu finden.“ (11) Und so verfielen die enttäuschten Gottsucher schon bald wieder in apokalyptische Weltuntergangsstimmungen (12) und bemühten sich, ihre Verbitterung gegenüber der Welt und dem Lauf der Geschichte in das Gewand eines tragisch-heroischen Fatalismus zu kleiden:
Komme, was kommt – ganz einerlei!
Längst gelangweilt spinnen die drei
Schicksalsnornen ihre Masche,
Asche war's und wird zu Asche. (13)
Doch was dann kam war das Jahr 1917 der Sturz des Zaren, der Untergang der alten Ordnung, die Machteroberung durch die Bolschewiki und diese Ereignisse waren den Intelligenzlern denn doch nicht so "einerlei". Die Nornen hatten sich mit ihrem Faden ganz übel verheddert und ähnelten in den Augen der arg gebeutelten Kleinbürger immer mehr den Schicksalsschwestern aus Shakespeares Macbeth: „Fair is foul and foul is fair“. Die Welt stand Kopf.

Die Tage des Februarregimes freilich waren noch einmal so etwas wie der Altweibersommer der bürgerlichen Intelligenzija. Zum letzten Mal durften ihre Vertreter den alten Traum träumen, die Blüte der Nation und die vom Schicksal berufenen Führer des russischen Volkes zu sein. Wie es Leo Trotzki in Literatur und Revolution beschrieben hat:
Trotz der Lektion von 1905 hegten die Intelligenzler in ihrer Seele immer noch die Hoffnung, sie könnten ihre geistige und politische Hegemonie über die Massen wiederherstellen. Der Krieg hatte sie in diesen Illusionen bestärkt. Die patriotische Ideologie war der psychologische Kitt, den das von Geburt an rachitische "neue religiöse Bewusstsein" natürlich nicht bieten konnte, und den der nebelhafte Symbolismus nicht einmal zu bieten versuchte. Die aus dem Krieg hervorgegangene und den Krieg unmittelbar abschließende demokratische Revolution gab [...] der Wiedergeburt des intellektuellen Messianismus den stärksten Impuls. (14) 
Zu ihrem Helden erkoren die Intellektuellen Aleksandr Kerenski – ehemaliger Provinzadvokat und Dumaabgeordneter, begeisterter Patriot und Kriegsbefürworter, ab Juli 1917 Ministerpräsident und Haupt der Provisorischen Regierung. Mit seinem weinerlichen, an Hysterie grenzenden Pathos verkörperte er wie kein anderer die an Phrasen reiche, an Taten arme erste Phase der Russischen Revolution.
Auch die Vertreter des "neuen religiösen Bewusstseins" erteilten dem bürgerlichen Regime bereitwilligst ihren Segen. Auf seine grotesken stilistischen Eigenheiten wollte Mereschkowski allerdings auch jetzt nicht verzichten. So verglich er z.B. das Verhältnis zwischen der Provisorischen Regierung und den Sowjets, die in den ersten Monaten von Menschewiki und Sozialrevolutionären dominierten wurden, mit demjenigen der alttestamentlichen Könige Israels zu ihren Propheten. Der Prediger des Mystischen Anarchismus wollte eben einfach nicht im 20. Jahrhundert heimisch werden.
Doch die Februartage bildeten nur ein kurzes Intermezzo. Was sich bereits 1905 gezeigt hatte, bestätigte sich nun aufs Neue: Das russische Bürgertum war nicht in der Lage, sich an die Spitze der Revolution zu stellen. In hohem Maße abhängig vom ausländischen Finanzkapital, ohne jede demokratische Tradition und voller Furcht vor den Volksmassen erwies es sich .als unfähig, auch nur eines der Probleme zu lösen, vor die sich die russische Gesellschaft gestellt sah. Die Liberalen waren weder ernsthaft gewillt, den Großgrundbesitz zugunsten der Bauernschaft zu zerschlagen noch das erschöpfte Land aus dem blutigen Wahnsinn des Weltkriegs herauszuführen. Kerenskis Herrlichkeit währte nur wenige Monate. Es folgte die Machtübernahme durch die Sowjets.
Der Oktoberrevolution begegneten die kleinbürgerlichen Intellektuellen beinahe ausnahmslos mit blindwütigem Hass. Sie erschien ihnen als die prophezeite Apokalypse, als neuer Mongolensturm, als Ende der menschlichen Kultur: „Sieg mit abgeschnittenen Händen ... Fest der Skythenschar“. (15)
In den ersten Monaten nach dem Umsturz bildeten die städtischen Mittelklassen den Hauptteil der antibolschewistischen Opposition, die sich um das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution scharte. Während die bewaffneten Truppen der Konterrevolution sich in erster Linie aus Offiziersschülern und Kosaken rekrutierten, griffen die Beamten, die Angestellten der Behörden und Banken, die Angehörigen der technischen Intelligenz zu den Waffen von Streik und Sabotage. In der Machtübernahme durch die Sowjets sahen sie lediglich den Putschversuch einer Handvoll politischer Abenteurer und Wirrköpfe, die sich an die Spitze des Straßenmobs gestellt hatten.
Die allermeisten Künstler und Literaten teilten diese Ansicht.
[W]hen People’s Commissar of Enlightenment Anatoly Lunacharsky extended a well-publicized invitation to Petrograd artists to come to the Smolnyi Institute to discuss prospective cooperation a few days after the revolutionary insurrection, only six persons showed up: the poet Aleksandr Blok, the publicist Larisa Reisner, painter David Shterenberg, Al’tman, Meyerhold and Mayakovsky – and the last-named broke off relations with the Bolsheviks shortly afterward and took off for Moscow.
The more conservative, pro-Kerensky intellectuals stayed away because of their obvious hostility to the Bolsheviks. They hoped the revolutionary government would be overthrown in a matter of days or weeks. Many of the extreme left artists refused to cooperate with the new regime because of their anarchist inclinations and their reservations about collaborating with government institutions of any kind. (16)
Selbst Gorki wandte sich anfangs in seiner Zeitung Novaja Zhizn (Neues Leben) gegen die Bolschewiki und bediente sich dabei der in den Kreisen der Intelligenz üblichen Ausdrücke zur Diffamierung der revolutionären Arbeiter: „Wir haben nicht gegen die Selbstherrschaft der Kanaillen gekämpft, damit sie durch eine Selbstherrschaft der Barbaren ersetzt werde.“ (17)
Nikolai Roerich besuchte im Januar 1918 zum letzten Mal Petrograd. Und obwohl ihn Freunde und Kollegen zum Bleiben und zur Zusammenarbeit mit der Sowjetregierung zu bewegen versuchten, kehrte er im Mai in das unabhängig gewordene Finnland zurück, wo inzwischen die Konterrevolution unter der Führung General Mannerheims und Ministerpräsident Svinhufvuds wütete. Ob auch im idyllischen Sartowala Massenhinrichtungen von Rotgardisten und sozialdemokratischen Arbeitern stattfanden? Keine Ahnung, jedenfalls verfasste Roerich hier das Theaterstück Miloserdie (Barmherzigkeit), das sich ganz offensichtlich nicht gegen Mannerheims Blutorgien richtete. Im Gegenteil – Jacqueline Decter fasst den Inhalt des Stückes, das sich in formaler Hinsicht an mittelalterlichen Mysterienspielen und dem Werk des Symbolisten Maeterlinck orientierte, so zusammen: 
Der Ort der Handlung ist ein Schloß, das sehr an Roerichs Dekor für Maeterlincks Stücke erinnert. Boten stürmen auf die Bühne, um den Ältesten die Kunde zu tun, daß die Städte und ihre Bewohner von einem schrecklichen Feind vernichtet werden. Auch die Kultur wird zerstört. Die wütenden Massen brennen Häuser nieder – auch Bücher verbrennen in den Flammen –, schlagen die jungen Bewohner, öffnen die Gefängnisse und befreien Mörder. Kriminelle führen die Menge an. (18)
Auch Roerich sah im Oktoberaufstand also das Werk von Verbrechern, Totschlägern und Wahnsinnigen. Finnland war für ihn der erste Schritt in die Emigration.
Dimitri Mereschkowski blieb auch weiterhin seinem pompösen, pseudoprophetischen Stil treu, wenn er die bolschewistische Machteroberung als "das Kommen von Ham" verfluchte. 1918 schrieb er in sein Tagebuch:
Peering into the October crowd, one sees that it's faceless. Not the ugliness of it, but facelessness is what's most disgusting. […] Strolling down Petersburg streets, I recognize at once a Communist face. What feature is most frightful in it – self-satisfaction of a satiated beast, animalistic obtuseness? No, the most horrible in this face is its dreariness, this transcendental dreariness, found only in Paradise that's been found on Earth, the Antichrist's Kingdom Come.
Woher dieser glühende Hass der gebildeten Mittelschichten auf die Arbeiterräte? Die Gräfin Panina – eine bekannte Philanthropin, die zu Kerenskis letztem Kabinett gehört hatte – ließ in einem Interview mit der amerikanischen Journalistin Louise Bryant ihrer Verachtung für Aleksandra Kollontai, die bolschewistische Volkskommissarin für das Sozialwesen, freien Lauf:
Diese Frau Kollontai pflanzt die einfachen Büroangestellten in die Sessel, fordert sie auf, an Sitzungen teilzunehmen. Unmöglich! Was verstehen diese Leute denn schon von sozialer Reform oder Ausbildungsmaßnahmen. Die Welt steht Kopf. Das ist es! (19)
Die Gräfin war Mitglied der liberalen Kadettenpartei und gehörte darüberhinaus zum Führungsstab des Komitees zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution, doch ihre Äußerungen entsprachen in vielem der Gefühlslage breiter Schichten der bürgerlichen Intelligenz. Dass die einfache Bevölkerung sich nicht länger der "wohlwollenden Führung" der "aufgeklärten Eliten" unterwerfen, sondern die Gesellschaft selbst gestalten wollte, erschien ihnen unerhört. In den höheren Kreisen der Intelligenz gesellten sich zu dieser ideellen Empörung selbstverständlich noch handfeste materielle Interessen.
Für die Künstler und Literaten – insbesondere, wenn sie der symbolistischen oder akmeistischen Schule angehörten – kam ein weiterer Grund hinzu, der dem Schicksal dieser zum Teil hochbegabten Männer und Frauen in der Tat eine gewisse Tragik verlieh. Die Revolution war ja nicht nur eine soziale und politische Umwälzung – sie bedeutete zugleich den Untergang eines ganzen kulturellen Kosmos. Nicht länger bildeten die Petersburger Salons und die berühmten "dicken Zeitschriften" (tolstoie dschurnaloi) die Achse, um welche sich das Universum drehte. Hilflos mussten die bürgerlichen Intellektuellen mit ansehen, wie ihre Welt in sich zusammenbrach. Alles, was ihrem Leben Sinn und Inhalt gegeben hatte, war auf einmal nichtig und wertlos. Voller Verzweifelung schrieb der berühmte Dichter Ossip Mandelstam in einem der Lyrikerin Anna Achmatowa gewidmeten Gedicht: „Im Jahre Siebzehn, im Dezember/ Verlorst du – liebend – alles, was du zählst.“ (20)
Und doch wie würdelos und hysterisch wirkte ihr geifernder Hass auf die Revolution, auf die Bolschewiki, auf Lenin den verfluchten „Günstling des Oktober“. Auch hatte es etwas unfreiwillig komisches an sich, wenn sie stattdessen Kerenski zum Mirabeau der Russischen Revolution und zu einem Heroen von antikem Format hochstilisierten: 
Im Staat die Stürme jetzt, die Larven wüten, 
Doch du gingst weiter unerschrocken 
In deinem feinsten Zorn, als freier Bürger
Wohin dich Psyches Stimme lockte. (21)
Dies war immerhin der Mann, der die rebellierenden Soldaten unter Androhung der Todesstrafe in die Hölle des Weltkriegs zurückgetrieben hatte. Ein "Held", der während seiner patriotischen Ansprachen nicht selten öffentlich in Tränen ausbrach und nach Angabe seiner eigenen Sekretärin ein krankhafter Hysteriker gewesen sein soll, der angesichts der immer feindseligeren Stimmung des Volkes „nur mit Morphium und Brandy“ (22) durchhielt. Kadettenführer Miljukow zeichnete folgendes wenig schmeichelhafte Bild von Kerenskis Auftritt auf der Moskauer Staatsberatung im August 1917: 
Viele Provinzler in diesem Saale sahen Kerenski zum erstenmal, und sie gingen teils enttäuscht, teils empört fort. Vor ihnen stand ein junger Mensch mit zerquältem, blassem Gesicht in einer angelernten Schauspielerpose ... Dieser Mensch wollte gleichsam jemand einschüchtern und bei allen den Eindruck von Kraft und Macht im alten Stile erwecken. In Wirklichkeit erregte er nur Mitleid. (23)
Jede Klasse oder Schicht schafft sich einen Helden nach ihrem eigenen Bilde. Kerenski bildete da keine Ausnahme ...
Unfähig die tiefere Bedeutung der Ereignisse zu erfassen, in deren blutigen Strudel sie geraten waren, sahen die Intelligenzler um sich herum nichts als Chaos und Verfall, Raub, Mord und Plünderung. Die revolutionären Volksmassen in ihren Augen nichts weiter als ein von bösartigen Demagogen aufgehetzter Mob: 
Auf einem Platz mit Panzerwagen, Reitern  
Ein Mensch, ich seh ihn, da: er hetzt 
Die Wölfe fort mit lodernd hellen Scheiten: 
Heißt Freiheit, Gleichheit und Gesetz! (24)
Und einmal mehr war es Sinaida Hippius, die in ihrer unnachahmlichen Art die geheimsten Wünsche so mancher ihrer Gesinnungsgenossen offen auszusprechen wagte und dabei zugleich den wahren Inhalt ihres Frömmlertums bloßlegte: „Und bald in deinen alten Koben wirst mit dem Knüppel du getrieben, o Volk, das seine Heiligtümer nicht mehr achtet.“ (25)
Wen wundert's, dass Mereschkowski und Hippius nach ihrer Flucht aus Sowjetrussland schließlich als Parteigänger des Faschismus endeten?

Es ist hier nicht der richtige Ort, um die Wege zu beschreiben, auf denen viele Künstler und Künstlerinnen schließlich doch ihren Platz in dem neuen Russland fanden. Und das galt nicht nur für Futuristen wie Majakowski, Konstruktivisten wie Meyerhold oder Suprematisten wie Malewitsch, sondern auch für akmeistische Poeten wie Mandelstam, der zwar wohl nie zu einem begeisterten Anhänger des Bolschewismus wurde, aber dennoch den Mut und die innere Stärke besaß, seine instinktive Feindschaft gegen den Oktober zu überwinden und sich langsam, schrittweise und vorsichtig der Revolution anzunähern: 
Nun los, versuchen wirs: das Steuer linkisch wenden
Wir um, und mags auch knirschen sehr!
Die Erde schwimmt. Nur Mut, ihr Männer!
Wir sind der Pflug, der in die Meere fährt
Daß wirs im Lethe-Frost noch wissen werden:
Zehn Himmel war uns diese Erde wert. (26)
Ebensowenig kann es meine Aufgabe sein, die faszinierende kulturelle Blüte im Sowjetrussland der 20er Jahre zu beschreiben – bevor die stalinistische Bürokratie alles künstlerische Leben unter der bleiernen Decke des "Sozialistischen Realismus" zu ersticken begann.
Dem bereits seit einiger Zeit kränkelnden Symbolismus jedenfalls versetzte die Oktoberrevolution endgültig den Todesstoß. Aleksandr Bloks 1918 entstandene Gedichte Die Skythen und Die Zwölf waren die letzten großen Beiträge der Schule zur russischen Literatur. Mit Ausnahme von Waleri Brjussow gingen die meisten ihrer Vertreter und Vertreterinnen ins Exil. Doch ganz gleich auf welcher Seite der Grenze sie sich schließlich wiederfanden, künstlerisch verstummten sie alle.


(1) Sinaida Hippius: Gesammelte Dichtungen (1889-1903). Vorwort. S. III. Zit. nach: G. W. Plechanow: Die Kunst und das gesellschaftliche Leben. In: Ders.: Kunst und Literatur. S. 274.
(2) Ebd. S. II. (Plechanow S. 273.)
(3) Sinaida Hippius: Lied. In: Christa Ebert (Hg.): Gamajun, kündender Vogel. S. 11.
(4) Zit. nach: Kindlers Literatur Lexikon. Bd. 17. S. 7415.
(5) Vgl: Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 240-43; 342/43. Die Lehre Joachims von Fiore stellte einen bedeutenden Schritt in der geistigen Entwicklung Europas dar, formulierte sie doch zum ersten Mal die Idee eines innerweltlichen Fortschritts. Die Menschheitsgeschichte war nicht mehr länger nur ein Warten auf den Jüngsten Tag.
(6)  Guillaume de Lorris/ Jean de Meun: Der Rosenroman. V. 11807-11810; 11830; 11791-11794. Guillaume de Lorris hatte um 1230 mit der Abfassung des Rosenromans einer allegorischen Liebesdichtung begonnen, ihn jedoch nicht beendet. Der größere Teil des uns heute vorliegenden Werkes wurde um 1270 von Jean de Meun verfasst. 
(8) Dimitri Mereschkowski/ Sinaida Hippius/ Dmitri Filosofow: Der Zar und die Revolution. S. 12; 6. Zit. nach: G. W. Plechanow: Die Kunst und das gesellschaftliche Leben. In: Ders.: Kunst und Literatur. S. 277/78.
(9) Zit. nach: Paul Frölich: Rosa Luxemburg Gedanke und Tat. S. 133.
(10) Vgl: Maxim Gorki: Die Zerstörung der Persönlichkeit. In: Ders.: Wie ich schreibe. Literarische Porträts, Aufsätze, Reden und Briefe. S. 281.
(11) Vgl.: Leo Trotzki: Mereschkowskij. Der kultivierte Egoist. In: Ders.: Literatur und Revolution. S. 277.
(12) Mereschkowski prophezeite allen Ernstes im Brustton prophetischer Überzeugung den alsbaldigen Untergang Petersburgs ... in einem Zeitungsartikel im liberalen Retsch! Wenn das der selige Johannes von Patmos gesehen hätte ...
(13) Mereschkowski zitiert nach: Maxim Gorki: Die sowjetische Literatur. In: Ders.: Wie ich schreibe. Literarische Porträts, Aufsätze, Reden und Briefe. S. 576.
(14) Leo Trotzki: Literatur und Revolution. S. 20.
(15) Ossip Mandelstam: An Kassandra. V. 11 und 22. In: Ders.: Tristia. S. 51.
(16) David Walsh: Bolshevism and the avant-garde artists. Part 2.
(17) Zit. nach: Jürgen Rühle: Theater und Revolution. S. 26.
(18) Jacqueline Decter: Nikolas Roerich - Leben und Werk eines russischen Meisters. Kap. 6: Übergang.
(19) Louise Bryant: Eine Amerikanerin in Russland. S. 60.
(20) Ossip Mandelstam: An Kassandra. V. 5 und 6. In: Ders.: Tristia. S. 51.
(21) Ossip Mandelstam: Als er das Joch von Bosheit und Gewalt [...]. V. 2; 13-16. In: Ders.: Tristia. S. 179.
(22) Vgl: Louise Bryant: Eine Amerikanerin in Russland. S. 57/58.
(23) Zit. nach: Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution. Bd. II. Kap. 7.
(24) Ossip Mandelstam: An Kassandra. V. 13-16. In: Ders.: Tristia. S. 51.
(25) Zit. nach: Leo Trotzki: Literatur und Revolution. S. 27. Heute wird uns Sinaida Hippius als politisch vorausschauende Frau verkauft: „[sie] erkennt früh die totalitären Züge des Bolschewismus, den sie zeitlebens bekämpft.“ (Christa Ebert [Hg.]: Gamajun, kündender Vogel. S. 217) In Wirklichkeit klingt aus ihren Versen nichts als elitäre Massenverachtung und Hass auf ein Volk, das seine Ehrfurcht vor den angestammten Eliten und den Gralshütern der Kultur verloren hat. 
(26) Ossip Mandelstam: Die Dämmerung der Freiheit. V. 19-24. In: Ders.: Tristia. S. 63.

Mittwoch, 27. August 2014

Es klingt wie ein Traum

Ein Film inspiriert von Edgar Allan Poe, H.P. Lovecraft, viktorianischen Geistergeschichten, Mario Bavas gotischen Horrorfilmen, dem Brit-Horror des House of Hammer und Jim Hensons Dark Crystal ... Ein phantastischer Film (fast) ohne CGI-Effekte, aber auch ohne menschliche Schauspieler ... Ein Puppenfilm ... Ein Film, an dessen Design u.a. Mike Mignola mitgewirkt hat und dessen weibliche Hauptfigur von Barbara Steele gesprochen wird ... Gütige Götter von Pegana, das klingt wie ein Traum. Und doch: Unter der Leitung von Kevin McTurk wird zur Stunde an der Fertigstellung eben dieses Filmes gearbeitet. Sein Titel: The Mill at Calder's End.

Nachdem ich gestern dank Mr. Jim Moon auf dieses Projekt aufmerksam geworden war, begab ich mich natürlich allsogleich auf die Suche nach etwas genaueren Informationen.

Kevin McTurk ist ein echter Veteran im SFX-Bereich. Seine erste professionelle Arbeit leistete er 1990 bei der Produktion von Dario Argentos & George A. Romeros Due occhi diabolici (1990). Dem folgten Filme wie Batman Returns (1992), Jurassic Park (1993), Interview with a Vampire (1994), Galaxy Quest (1999), Hellboy (2004), Spider-Man 2 (2004), Hellboy 2: The Golden Army (2008), X-Men: First Class (2011), Hansel & Gretel: Witch Hunters (2013) und Pacific Rim (2013). Als er sich 2011/12 daranmachte, zum ersten Mal einen Film in eigener Regie zu drehen, verband er dabei seine jahrzehntelange Erfahrung als Modellschöpfer und Puppenspieler mit seiner Liebe zu klassischem "gotischem" Horror. Unterstützung wurde ihm dabei u.a. von Jim Hensons jüngster Tochter Heather zuteil. Heraus kam der Kurzfilm The Narrative of Victor Karloch {den man sich bei Vimeo on Demand für $15 herunterladen kann, was ich bisher aber noch nicht getan habe.}



Zur Finanzierung seines zweiten, weitaus ehrgeizigeren Projektes startete McTurk 2013 eine Kickstarter-Kampagne, die statt der angepeilten $30.000 schließlich $65.073 einbrachte. Für die Aktion wurde mit folgendem Clip geworben, bei dem zumindest mir als einem Liebhaber von Phantastik, gotischem Horror und klassischer Tricktechnik erst recht das Wasser im Munde zusammenläuft:



Vor kurzem ist nun ein erster Trailer veröffentlicht worden:



Über die bei der Produktion des Filmes verwendeten Techniken schreibt McTurk:
The Mill at Calder's End is a gothic tale that will be told with the traditional Japanese theater puppetry technique known as bunraku. Each puppet figure is controlled by three (or more) puppeteers dressed in black and hidden behind each character. It is my goal to make a film that celebrates practical effects and therefore there will be almost no computer generated imagery in the final film. In my first film, The Narrative of Victor Karloch, I utilized several silent film era camera techniques, such as a shot of a miniature ship on a stormswept ocean (which, in fact, was made up of painted flowing garbage bags). I plan to continue to use many more of these techniques to give a hand crafted look to The Mill at Calder's End
Zur Story des Films scheint noch nicht mehr bekannt zu sein, als was wir in diesen Videos erfahren. Dafür liest sich die Liste der an dem Projekt beteiligten Künstlerinnen und Künstler ziemlich beeindruckend. Neben Barbara Steele und Jason Flemyng als Sprecher finden wir dort u.a. Kameraman Wyatt Garfield ("Oberbeleuchter"/"Gaffer" bei Beasts of the Southern Wild), Comic-Künstler Mike Mignola (Hellboy) und Guy Davis (The Marquis), Avantgarde-Cellistin Zoe Keating, E-Musik-Komponist Lustmord, Modelldesigner Arjen Tuiten (Schöpfer des "Bleichen Mannes" in Pan's Labyrinth) ...

Dem inzwischen ziemlich breit gewordenen Mainstream des phantastischen Kinos unserer Tage kann ich meist ja eher wenig abgewinnen. Um so erfreulicher zu erfahren, dass abseits davon Künstler und Künstlerinnen, deren Talent so oft von den großen Studios zur Produktion mediokrer Machwerke missbraucht wird, mit echter Leidenschaft und Liebe zum Genre an Projekten wie The Mill at Calder's End arbeiten. Ich hoffe bloß, dass ich nach Fertigstellung des Films auch die Möglichkeit erhalten werde, ihn zu sehen. In die Kinos wird er ja wohl kaum kommen ...

Sonntag, 24. August 2014

Bloß erschöpfte Irritation

Es ist wirklich traurig. Da erreicht mich die Nachricht, dass in absehbarer Zukunft zwei Filme über Mary Shelley produziert werden sollen, und ich fühle nichts, außer einer erschöpften Irritation. Sollte ich nicht begeistert oder wenigstens interessiert sein? Schließlich halte ich nicht nur Frankenstein für einen der ganz großen Klassiker der phantastischen Literatur, Mary Shelley selbst – ihr Leben, ihre Persönlichkeit, ihre Zeit, der Kreis von Künstlern und Intellektuellen, dem sie angehörte – könnten Stoff für einen wirklich großartigen und faszinierenden Film abgeben. Und doch, nichts als erschöpfte Irritation. Und ein bisschen Traurigkeit ...

Die allermeisten Biopics, die Hollywood in den letzten zwei Jahrzehnten oder so produziert hat, kranken in meinen Augen an einem extremen Mangel an historischem Verständnis. Fast nie gelingt es ihnen, das Leben ihrer Helden oder Heldinnen auf organische Weise mit den gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit, in der sie lebten, zu verbinden. Die Darstellung vergangener Epochen beschränkt sich im aktuellen Film ohnehin meist auf Äußerlichkeiten. Kaum ein Drehbuchautor oder Filmemacher scheint sich auf einer tieferen Ebene mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen oder auch nur wirkliches Interesse für sie aufzubringen. Je perfekter dabei die Imitation von Kleidern, Frisuren, Möbeldesign oder Musik der jeweiligen Epoche wird, desto deutlicher springt ins Auge, dass die Menschen, die sich vor dieser Kulisse bewegen, Menschen des 21. Jahrhunderts sind. Sie denken wie diese, empfinden wie diese und sehr oft sprechen sie auch wie diese. Und wenn es sich bei ihnen um Künstlerinnen oder Künstler handelt, dann werden sie erst recht sehr oft zu kostümtragenden Avataren westlicher Mittelklasseintelektueller unserer Zeit. Und es würde mir schwerfallen, eine soziale Gruppe zu finden, die in ihren Empfindungen und Gedanken langweiliger und banaler wäre als das, was man vielleicht als die gehobene Bohème unserer Zeit bezeichnen könnte.

Ein wirklich intelligenter Film über Mary Shelley – das wäre zugleich ein Film über ihre Zeit – eine Ära gescheiterter revolutionärer Hoffnungen und des Triumphs der Reaktion in Europa – sowie über die zweite Generation der englischen Romantiker – jene bewundernswerten Männer und Frauen, die in einer bleiernen Zeit ihre Ideale von Schönheit, Freiheit und Humanität hochzuhalten versuchten. Dabei ließe sich um die bereits für sich genommen sehr interessante Hauptfigur ein ganzes Ensemble faszinierender und eigenwilliger Persönlichkeiten gruppieren: Ihr Vater, der anarchistische Philosoph und Schriftsteller William Godwin; ihre Mutter, die Pionierin des Feminismus Mary Wollstonecraft*; Percy Bysshe Shelley natürlich; Lord Byron ... Der Stoff ist so reichhaltig, das er für eine ganze Reihe sehenswerter Filme ausreichen würde.

Doch was über die beiden sich derzeit in Vorbereitung befindenden Streifen bisher bekannt ist, deutet leider in eine ganz andere Richtung.
Da hätten wir zuerst einmal Haifaa al-Mansours A Storm in the Stars: 
Storm, written by Emma Jensen, tells the story of the passionate love affair between dangerously charismatic poet Percy Shelley and 17-year-old Mary Wollstonecraft, who would a year later write Frankenstein as Mary Shelley. ([Elle] Fanning will play the budding writer.) 
The script aims to tell of the tumult of first love of a young woman out of step with her time (Mary was well-educated and came from a family of intellectuals) who wrote one of the first pieces of literary genre fiction in modern times.
The project is seen as a perfect fit for Al-Mansour, who is the first female director out of Saudi Arabia and whose breakthrough film, Wadjda, tackled similar themes of a young woman out of step with her country’s culture.
Eine feministisch angehauchte Liebesgeschichte also. Na klasse ...
Man verstehe mich bitte nicht falsch. Als intelligente und selbstbewusste Frau hatte Mary Shelley selbstverständlich mit vielen Widerständen und Ungerechtigkeiten in der damaligen Gesellschaft zu kämpfen. Und diese Thematik verdient einen Platz in jeder filmischen Auseinandersetzung mit ihrem Leben. Doch leider tendiert man heute im allgemeinen dazu, das Thema Sexismus aus jedem weiteren gesellschaftlichen und historischen Kontext herauszulösen und auf ein zwischenmenschliches Problem zu reduzieren. Heraus kommt dabei meist ein Szenario, in dem wir auf der einen Seite die sensible, intelligente, unterdrückte Frau, auf der anderen die bornierten, unsensiblen und herrschsüchtigen Männer haben. Nicht nur führt das oft zu einer simplifizierten Charakterzeichnung (Idealisierung hier, Dämonisierung da), der Blick bleibt außerdem völlig auf den engen Kreis persönlicher Beziehungen beschränkt, wobei die beteiligten Personen nicht als Teil eines gesellschaftlichen Ganzen, sondern als völlig autarke Individuen betrachtet werden, die man dann einem moralischen Urteil unterwirft.
Der Grund für diese bornierte, wenig erhellende und meist auch schrecklich langweilige Darstellungsweise muss meiner Ansicht nach in der zugrundeliegenden Weltanschauung gesucht werden. Mary Wollstonecraft hatte in ihrem epochalen Werk A Vindication of the Rights of Woman den Kampf für die Emanzipation der Frau – ganz im Geiste von Aufklärung und Revolution – als Teil des allgemeineren Kampfes für eine von Gleichheit, Freiheit und Humanität geprägte Gesellschaftsordnung verstanden. Denn, "the more equality there is established among men, the more virtue and happiness will reign in society."** Der Hollywood-Feminismus unserer Tage {ja, so etwas gibt es} sieht das leider völlig anders. Nichts liegt ihm ferner, als die gesellschaftliche Ordnung als Ganzes in Frage zu stellen. Seine Vertreterinnen scheinen hauptsächlich damit beschäftigt, sich selbst einen privilegierten Platz innerhalb dieser Ordnung zu sichern, und das spiegelt sich in dem wider, was sie produzieren.
Mit Ausnahme der Regisseurin Haifaa al-Mansour weckt keine der mit dem Projekt verbundenen Personen bei mir besonders große Hoffnungen. Drehbuchautorin Emma Jensen scheint ihr Geld hauptsächlich mit irgendwelchen Historienromanzen zu verdienen, und als Produzentinnen bzw. Executive Producers zeichnen Amy Baer (Last Vegas), Joannie Burstein (Flypaper) und Rebecca Miller (The Ballad of Jack and Rose, The Private Lives of Pippa Lee) verantwortlich. Al-Mansours Wadjda habe ich zwar nicht gesehen, was ich darüber gelesen habe, klingt aber nicht uninteressant. Freilich wissen wir aus jahrzehntelanger Erfahrung, wie schnell ausländische Talente in Hollywood ihre künstlerische Individualität und Integrität einbüßen können, vor allem, wenn sie dem korrumpierenden Einfluss der großen Filmindustrie keine starken eigenen Überzeugungen entgegensetzen können.

Sehr viel schlimmer freilich klingt, was man aus dem Munde von Produzentin Rose Ganguzza über Coky Giedroyc' &  Deborah Baxtroms Mary Shelley’s Monster zu hören bekommt:
Monster envisions her life as “the story of the most extraordinary 19th century teenage heroine told in a visceral, sexy, contemporary way,” per producer Rose Ganguzza, who produced last year’s Beat Generation drama Kill Your Darlings. “Our film is not a period drama. It is a story of youth that transcends time, a gothic romance, a love triangle that involves a dark passenger and we are tremendously excited to have such an exciting cast onboard this wonderful project.”
Sorry, aber wenn ich so was lesen muss, stellt sich bei mir ein leichter Brechreiz ein. Wenn Künstlerinnen oder Künstler {ich fasse den Begriff hier sehr weit} anfangen, von "zeitlosen" Themen zu schwafeln, dann bedeutet das für gewöhnlich bloß, dass sie zu faul sind, um sich mit der konkreten Realität sei es ihrer eigenen, sei es einer vergangenen Zeit auseinanderzusetzen. Heraus kommt dabei entweder etwas fürchterlich Banales oder eine schlecht verhüllte Wiedergabe ihrer eigenen, meist schrecklich uninteressanten Gefühle und Problemchen. Wie so oft frage ich mich auch hier wieder: Wenn ihr eine Sexy-Gothic-Teen-Romanze im Geiste der heutigen Popkultur drehen wollt {was euch unbenommen ist}, warum müsst ihr dazu die Person von Mary Shelley verwenden? Ganz offensichtlich wird dieser Streifen absolut nichts mit dem realen Leben der Schriftstellerin zu tun haben. Es wird ja nicht einmal versucht, den Anschein zu erwecken, dass dem so sei. Ich kapier das einfach nicht ... 

Wie wunderbar wäre es, wenn uns statt dieser Filme eine Adaption von Helen Edmundsons Theaterstück Mary Shelley in Aussicht gestellt würde. Barbara Slaughters Besprechung einer Londoner Inszenierung aus dem Jahr 2012 und ihr Interview mit der Autorin machen deutlich, wie faszinierend eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Leben und der Person der Frankenstein-Schöpferin sein könnte. Aber es wäre wohl naiv, zu hoffen, etwas derartiges vom heutigen Hollywood präsentiert zu bekommen ...


* Wollstonecraft starb zwar bereits kurz nach der Geburt ihrer Tochter, doch sie war trotzdem eine wichtige "Präsenz" im Leben der heranwachsenden Schriftstellerin.
** Mary Wollstonecraft: A Vindication of the Rights of Woman. Kap. 1.

Samstag, 23. August 2014

Strandgut der Woche

Mittwoch, 20. August 2014

Goblin live

Die eher literarisch oder litetarisch-historisch ausgerichteten Posts der letzten Woche könnten den Eindruck erweckt haben, dass ich meine kleine Mario Bava - Reihe kurz nach Beginn bereits wieder eingemottet habe. Dem ist  nicht der Fall! Ich arbeite gerade an einer Besprechung von I tre volti della paura / Black Sabbath (1963), fürchte jedoch, dass ich sie heute Nacht nicht mehr zum Abschluss bringen werde. Und in den nächsten zwei Tagen wartet mal wieder Tagelöhnerarbeit auf mich ... Und so dachte ich mir, als kleine Überbrückung für alle Freundinnen & Freunde des italienischen Horrorfilms könnte ich ja ein paar Videoclips von der US-Tour der unvergleichlichen Prog-Rock-Band Goblin präsentieren, die diese 2013 in wiederhergestellter klassischer Formation unternommen hat. Zu jedem der Stücke bekommt man dabei Szenen aus den entsprechenden Filmen des großen Dario Argento zu sehen: Profondo Rosso (1975) * Suspiria (1977) * Tenebrae (1982) * Phenomena (1985)







Dienstag, 19. August 2014

Tolkiens Traumlandschaften

Michael Moorcock schreibt in seinem berühmt-berüchtigten Essay Epic Pooh:
It was best-selling novelists, like Warwick Deeping, who, after the First World War, adapted the sentimental myths (particularly the myth of Sacrifice) which had made war bearable (and helped ensure that we should be able to bear further wars), providing us with the wretched ethic of passive ‘decency’ and self-sacrifice, by means of which we were able to console ourselves in our moral apathy [...]. Moderation was the rule and it is moderation which ruins Tolkien's fantasy and causes it to fail as a genuine romance. The little hills and woods of that Surrey of the mind, the Shire, are ‘safe’, but the wild landscapes everywhere beyond the Shire are ‘dangerous’. Experience of life itself is dangerous. (1)
Wie beinahe überall in diesem Essay mischen sich auch hier scharfsinnige Einsichten mit einseitigen und letzlich falschen Verallgemeinerungen.
So ist es sicher richtig, dass Tolkiens Demutsmoral – die ich in meinem letzten Aufsatz zu beschreiben versucht habe – nicht bloß ein Produkt christlicher Tradition war, sondern mindestens ebensosehr Ausdruck der von Hoffnungslosigkeit gespeisten Apathie eines Gutteils der englischen Mittelklasse angesichts der Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre Väter waren noch die stolzen Bürger eines Reiches gewesen, das dazu ausersehen schien, die Welt zu beherrschen. All diese arrogante Macht zerbröckelte nun auf höchst unrühmliche Weise, und sie verspürten nicht einmal mehr die Kraft, um sich dagegen aufzulehnen. Was blieb ihnen anderes übrig, als die Geschichte als das Produkt einer undurchschaubaren Vorsehung zu betrachten und vielleicht noch im stillen Kämmerlein auf eine plötzliche Eukatastrophe zu hoffen? – Natürlich hätten sie nicht diese Begriffe verwendet, aber das Lebensgefühl war dasselbe. (2)
Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Tolkiens Werk ist vielschichtiger und auch widersprüchlicher. Nehmen wir das Beispiel des Auenlandes. Einerseits ist die Heimat der Hobbits in der Tat ein "Surrey of the Mind", ein sentimentales, kleinbürgerliches Idyll, in das sich der Autor vor der Wirklichkeit des modernen Lebens flüchtet. In einem Brief an Deborah Webster schrieb er 1958:
Ich bin tatsächlich selber ein Hobbit (in allem bis auf die Größe). Ich liebe Gärten, Bäume und Ackerland ohne Maschinen; ich rauche Pfeife, esse gern gute, einfache Sachen (nichts aus dem Kühlschrank) und verabscheue die französische Küche; ich getraue mich, in dieser grauen Zeit dekorative Westen zu tragen. Ich mag Pilze (vom Felde); habe einen sehr einfachen Humor (den sogar meine wohlwollenden Kritiker störend finden); ich gehe spät zu Bett und stehe spät auf (wenn möglich). Ich reise nicht viel. (3)
Aber wie ich an anderer Stelle bereits einmal dargelegt habe, verheimlicht der Herr der Ringe nicht, dass das spießige, selbstzufriedene Dasein der Hobbits auch seine Schattenseiten besitzt. Völlig falsch ist deshalb die Behauptung, die "Außenwelt" erscheine ausschließlich als bedrohlich. Trotz allem – der Lord of the Rings ist nicht The Wind in the Willows.

Tolkien führte sein Leben lang eine geradezu vorbildlich kleinbürgerliche Existenz, in der das größte Abenteuer vermutlich aus einem dritten Glas Bier im Eagle and Child bestand. Aber es spricht sehr vieles dafür, dass ihn diese farblose und kleinkarrierte Lebensweise in Wirklichkeit ganz und gar nicht befriedigte, dass er sie oft genug ebenso verabscheute wie die trostlosen englischen Badeorte, in denen die Familie nicht selten den Sommerurlaub verbrachte. Wer würde keine Sympathie für einen würdigen Oxford-Don empfinden, der als angelsächsischer Krieger kostümiert, mit einer Streitaxt in der Hand einen erstaunten Nachbarn die Straße im gutbürgerlichen Norden der Universitätsstadt entlangjagen konnte, wie es von Tolkien überliefert ist? (4)  Wie sein Held Bilbo träumte wohl auch er im tiefsten Herzen davon, aus diesem kleinbürgerlichen Universum auszubrechen. In seinem Werk ist eine Sehnsucht nach Weite und Ferne spürbar, die mehr ist als bloß der Wunsch, der modernen "Maschinengesellschaft", dem „Mordor mitten unter uns" (5), zu entfliehen. Am Horizont dieser Sehnsucht lassen sich zwei Fluchtpunkte ausmachen: Die Berge und das Meer.

Im Sommer 1911 hatte Tolkien zusammen mit seinem Bruder Hillary und seiner Tante Jane eine Tour durch die Schweizer Alpen unternommen. Die Reise hatte einen tiefen und bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Das galt sowohl für die ehrfurchtgebietende Szenerie des Wallis als auch für den Umstand, dass die kleine Gruppe beinahe von einem Steinschlag in die Tiefe gerissen worden wäre. Die Alpen wurden zur realen Vorlage für eine der beiden tolkienschen "Traumlandschaften", und hinter der kalten Majestät der drei Gipfel von Moria – Caradhras (Rothorn), Fanuidhol (Wolkenkopf) und Celebdil (Silberzinne) – verbirgt sich ohne Zweifel die erhabene Schönheit von Eiger und Mönch, Jungfrau und Silberhorn. Wie sich Tolkien 1967/68 in einem Brief an Michael erinnerte:
Von dem Blick auf die Jungfrau konnte ich mich nur schwer trennen: ewiger Schnee, der in ewigem Sonnenschein eingraviert zu sein schien, und das Silberhorn stand scharf gegen den dunkelblauen Himmel: das Silvertine (Celebdil) meiner Träume. (6)
Die schneebedeckten, sturmumtosten Gipfel des Nebelgebirges bilden den radikalen Gegensatz zur friedvoll-kultivierten Felder- und Hügellandschaft des Auenlandes. Immer wenn Tolkiens Helden sich daranmachen, diese mächtige Gebirgskette zu überqueren, bricht ein wüstes Unwetter über sie herein. Hier ist das Reich der Riesen, der ungezügelten Elementargewalten: 
Die Blitze zersplittern auf den Gipfeln, und die Felsen erzittern, ein riesiges Getöse zerreißt die Luft und dringt grollend und dröhnend in jede Höhle und in jedes Loch. Die Finsternis ist erfüllt von überwältigendem Lärm und plötzlichen Lichtflammen. Niemals hatte Bilbo so etwas gesehen, niemals hatte er sich so etwas vorgestellt. Sie waren hoch an einer engen Stelle mit einem schrecklichen seitlichen Abfall tief hinab in ein düsteres Tal. Dort hatten sie unter einem überhängenden Felsen für die Nacht Schutz gesucht. Bilbo lag unter seiner Decke und zitterte von Kopf bis Fuß. Wenn er während eines Blitzes drunter hervorlugte, sah er jenseits des Tales die Steinriesen, die herausgekommen waren und sich zum Spaß Felsblöcke zuschleuderten. Die Riesen fingen die Felsen auf und warfen sie in die Finsternis, wo sie tief unten Bäume zerschmetterten oder krachend in tausend Stücke zersprangen. Dann rauschten die Winde, dann peitschten Regen und Hagel in jedwede Richtung. (7)
Und doch ist es diese Wildnis, nach der sich Bilbo sehnt und um derentwillen er die bierselige Gemütlichkeit von Hobbingen verlässt: „Ich habe das Gefühl, ich brauche Ferien, sehr lange Ferien, wie ich dir schon früher gesagt habe. [...] Ich will wieder Berge sehen, Gandalf – Berge" (8) Wie sympathisch Tolkien das spießbürgerliche Idyll des Auenlandes auch immer gewesen sein mag, letztenendes wusste er, dass es eben auch ein Gefängnis ist. Das wahre Leben – gefahrvoll, unkontrollierbar, frei – liegt jenseits seiner Grenzen.

Allerdings bleibt die Reise ins Gebirge stets nur ein zeitlich begrenztes Abenteuer. Urlaub vom Alltag. Die wahre, grenzenlose Freiheit – das ist das Meer.
Schon in den ältesten Schichten der Mythologie spielt die See eine zentrale Rolle. Die Erzählung von Tuor aus Dor-lomin, seinen Wanderungen, seiner Ankunft in der verborgenen Stadt Gondolin und deren tragischem Untergang ist der älteste, abgeschlossene Teil des späteren Silmarillion-Zyklus. In ihr findet die Sehnsucht nach dem Meer ihren bewegenden Ausdruck in einer Reihe von Szenen, die sich von der ältesten Fassung (1917/20) bis zur letzten ausführlichen Überarbeitung (1951) beinahe unverändert erhalten haben:
Einer göttlichen Eingebung gehorchend gelangt der Geächtete Tuor in eine tief ins Gebirge eingeschnittene Klamm, der er mehrere Tage flussabwärts folgt. Als er eines nachts zu den Klängen seiner Harfe ein Lied anstimmt, weckt die Musik ein vielfältiges Echo in den umliegenden Bergen.
Ein wundersames Staunen regte sich in Tuor, ließ sein Lied verstummen, und allmählich verklang die Musik zwischen den Bergen, und es wurde still. Da vernahm er inmitten des Schweigens hoch in der Luft einen seltsamen Schrei, und er wußte nicht, von welch einem Wesen er stammte. Zuerst sagte er: "Es ist eine Feenstimme", dann meinte er: "Nein, es muß ein kleines Tier sein, das in der Einöde klagt." Doch als er den Schrei zum dritten Mal hörte, sagte er: "Sicherlich ist es der Schrei eines Nachtvogels, den ich nicht kenne." Doch obwohl er ihm vorkam wie ein Klageruf, verspürte er das Verlangen, ihm zuzuhören und ihm zu folgen, denn der Schrei galt ihm und rief ihn an einen unbekannten Ort. Am nächsten Morgen hörte er über sich wieder diesen Ruf, und aufblickend gewahrte er drei große weiße Vögel, die gegen den Westwind in die Schlucht hinabstießen. Ihre mächtigen Schwingen schimmerten im Licht der aufgehenden Sonne, und als sie über ihn hinwegflogen, stießen sie laute Klagerufe aus. So erblickte er zum ersten Mal die großen Möwen, welche die Teleri [die Elben der Küste] so liebten. Darauf erhob sich Tuor, um ihnen zu folgen, und um besser erkennen zu können, in welche Richtung sie flogen, erkletterte er die Klippen zu seiner Linken. Er stand auf der Spitze, spürte wie ein kräftiger Westwind ihm ins Gesicht blies und sein Haar um den Kopf flattern ließ. In tiefen Zügen sog er die prickelnde Luft ein und sagte: "Das erfrischt das Herz wie ein Trunk kühlen Weins." Doch wußte er nicht, daß dieser frische Wind geradewegs vom Großen Meer kam. [...]
Endlich und unerwartet (denn die Spitzen der Klippen am Rand des Landes waren höher als die Abhänge dahinter), gelangte er unvermittelt an das steil abfallende, schwarze Ufer Mittelerdes und erblickte das Große Meer, Belegaer, das Uferlose. Und in dieser Stunde versank hinter dem äußersten Rand der Welt die Sonne wie ein riesiges Feuer. Tuor stand mit ausgebreiteten Armen allein auf der Klippe, und eine tiefe Sehnsucht erfüllte sein Herz. Es heißt, er sei der erste Mensch gewesen, der bis ans Große Meer vordrang, und niemand, die Eldar ausgenommen, habe jemals tiefer jenes Verlangen verspürt, das von diesem Meer ausging. (9)
Wie für das Nebelgebirge gibt es auch für diese zweite tolkiensche "Traumlandschaft" ein reales Vorbild: Die Steilküste von Cornwall. Er hatte sie zum ersten Mal während eines Urlaubs im Sommer 1914 kennengelernt und war sofort ihrem rauen Charme verfallen. In einem Brief an Edith beschrieb er voller Begeisterung die Szenerie der Lizard-Halbinsel:
Wir gingen über das Heideland auf den Klippen nach Kynance Cove. Nichts, was sich in einem öden, alten Brief sagen ließe, könnte es Dir beschreiben. Die Sonne knallt auf Dich herunter, und eine mächtige Atlantikdünung tobt und schäumt über die Zacken und Riffe. Das Meer hat unheimliche Windlöcher und Röhren in die Klippen gefressen, die Töne wie von Trompeten ausstoßen oder Schaum speien wie ein Wal, und überall siehst Du schwarze und rote Felsen und weiße Gischt gegen Violett und durchsichtiges Meeresgrün. (10)
Dies war die Landschaft, die Tuor auf seiner Wanderung durch die Cirith Ninniach (Regenbogenspalte) zum Fjord von Drengist kennenlernt, dies die karge Schönheit von Nevrast mit seinen unzähligen Seevögeln, wo der Geächtete eine Zeit lang lebt.
Wenn Tolkien von der Sehnsucht nach dem Meer schrieb, dann dachte er dabei nicht an die braven englischen Badeorte oder an paradiesische Palmenstrände unter einer tropischen Sonne, sondern an die wütende Brandung, die sich schäumend und brüllend an den Klippen der Nordlande bricht. Ein wildes und gefährliches Element, das Ehrfurcht einflößt.

Anders als das Gebirge besitzt das Meer neben seiner elementaren Urgewalt aber auch einen beinahe spirituellen Charakter. Die Schöpfungsgeschichte im Silmarillion erzählt, wie die Welt von Gott und seinen Engeln durch eine gewaltige Musik erschaffen wurde.
Und die Eldar sagen, mehr als in jedem anderen Stoff auf dieser Erde sei im Wasser das Echo von der Musik der Ainur lebendig; und viele der Kinder Iluvatars lauschen noch immer unersättlich den Stimmen des Meeres und wissen doch nicht, auf was sie lauschen. 
Von Ulmo, dem Vala, dessen Herrschaftsbereich das Wasser ist und der in den Tiefen des Ozeans lebt, heißt es:  
Zuweilen kommt er an die Küsten von Mittelerde, ungesehen, oder wandert die Fjorde hinauf weit ins Landesinnere und spielt dort auf seinen großen Hörnern, den Ulumuri, die aus weißen Muscheln geschliffen sind; und jene, zu denen diese Musik dringt, die hören sie immerdar in ihrem Herzen, und nie mehr verläßt sie die Sehnsucht nach der See. (11) 
Das Verlangen nach dem Meer ist also aufs engste verknüpft mit der für Tolkien so typischen Melancholie, dem Heimweh nach dem verlorenen Paradies. Wenn wir dem Rauschen der Brandung lauschen, dann hören wir den Nachklang der himmlischen Schöpfungsmusik und in uns erwacht das Verlangen nach dem göttlichen Urquell allen Seins, das nach christlich-neoplatonischer Sicht im Herzen aller Wesen schlummert. Doch obwohl dieser Gedanke sicher sehr wichtig ist, glaube ich nicht, dass man das Meeresmotiv auf das religiöse Element reduzieren sollte. Der Hinweis auf die "göttliche Musik" dient in erster Linie der "theologischen" Adelung eines Gefühls, das in seinem Ursprung überhaupt nichts mit Religion zu tun hat.

So wichtig das Motiv der Sehnsucht nach dem Meer in Tolkiens Werk ist, so auffällig ist auch, dass kaum je beschrieben wird, wie jemand dieser Sehnsucht nachgibt. Auf die große Ausnahme Earendil werden wir gleich noch ausführlich zu sprechen kommen. Zuvor jedoch wollen wir uns kurz den ältesten Entwürfen zum späteren Silmarillion zuwenden – dem Buch der Verschollenen Geschichten (Book of Lost Tales) und der Figur des Ælfwine/Eriol.
Tolkien hatte ursprünglich beabsichtigt, die Geschichten von der Altvorderenzeit in eine Rahmenerzählung einzubetten, in der ein Seefahrer nach vielen Mühen und Gefahren die Elbeninsel Tol Eressea erreicht und dort in der Hütte des Verlorenen Spiels den Berichten von den alten Tagen lauscht. Vorbild hierfür war vermutlich William Morris’ gewaltiger Gedichtzyklus The Earthly Paradise (1868-70), mit dem der zum Offizier gewandelte Oxford-Don Wade-Garry Tolkien während des Krieges in Frankreich bekannt gemacht hatte. (12) Dieser Zyklus hebt mit einem The Wanderers betitelten Prolog an, in dem berichtet wird, wie eine kleine Schar Männer Mitte des 14. Jahrhunderts von Norwegen aus in See sticht, um die sagenumwobene Insel der Seligen – das Irdische Paradies – im Westmeer zu finden. Nach vielen Abenteuern gelangen die Überlebenden schließlich zu einem friedvollen Inselreich, wo dann jene Geschichten erzählt werden, die den eigentlichen Inhalt des Zyklus ausmachen.
Es gäbe so manches über die Beziehung zwischen Morris und Tolkien zu berichten, doch das muss warten, bis ich es {hoffentlich} schaffe, meine seit langem abgebrochene Artikelreihe (13) über Tolkien und das Erbe der Englischen Romantik fortzusetzen. Für den Moment muss es genügen festzuhalten, dass  The Earthly Paradise zu einer Zeit geschrieben wurde, als der Dichter sich in seinem Kampf gegen die viktorianische Gesellschaft, die er aus tiefstem Herzen verabscheute, immer stärker auf verlorenem Posten fühlte. E. P. Thompson spricht in seiner Morris-Biographie sehr treffend von einer „poetry of despair". (14) Die Fahrt über das Meer ist hier Symbol für die Flucht aus der Realität in das Reich der Märchen und Träume. In der berühmten Apology, die dem ersten Band vorangestellt ist, stilisiert Morris sich selbst zum „idle singer of an empty day": 
Dreamer of dreams, born out of my due time,
Why should I strive to set the crooked straight?
Let it suffice me that my murmuring rhyme
Beats with light wing against the ivory gate,
Telling a tale not too importunate
To those who in the sleepy region stay,
Lulled by the singer of an empty day.
[...]
So with this Earthly Paradise it is,
If ye will read aright, and pardon me,
Who strive to build a shadowy isle of bliss
Midmost the beating of the steely sea,
Where tossed about all hearts of men must be;
Whose ravening monsters mighty men shall slay,
Not the poor singer of an empty day. (15)
In späteren Jahren würde Morris sich daranmachen, die Ungeheuer der "stählernen See" aktiv zu bekämpfen, doch zu dieser Zeit beschränkte er sich auf ein verträumtes Klopfen an das "elfenbeinerne Tor" von Faërie.
Tolkiens Geschichte von Eriol/Ælfwine wurde immer wieder neu überarbeitet und gelangte eigentlich nie über ein skizzenhaftes Stadium hinaus. Die einzige einigermaßen ausgearbeitete Version entstand ungefähr 1920. Hier ist Ælfwine ein Bewohner des frühmittelalterlichen England, Sohn von Déor dem Sänger und Éadgifu aus Lionesse, einem Land, das die Artus-Tristan-Tradition in der Nachbarschaft Cornwalls verortet. Geboren in Warwick erlebt er die Eroberung der Stadt durch die aus dem Norden einfallenden Wikinger mit, bei der seine Eltern erschlagen werden. Er selbst wird für viele Jahre zum Sklaven der Nordmänner. (16) Während dieser Zeit der Knechtschaft erwacht die Sehnsucht nach dem Meer in ihm:
[E]s war fürwahr wie ein Wunder, daß Ælfwine, obgleich er das Meer nicht kannte und es nie gesehen, dennoch seine gewaltige Stimme tief in seinem Herzen sprechen hörte, und zwischen Wachen und Schlaf vernahm er in seinem Inneren immerfort des Meeres murmelnde Chöre." „Ælfwine trug das Joch der Sklaverei bis zur Schwelle des Mannesalters, hing Träumen nach und war vom Verlangen nach dem Meer erfüllt. (17) 
Traum und Meer hängen in dieser Geschichte aufs engste miteinander zusammen. Der Fall Warwicks, die Ermordung der Eltern, die Jahre der Knechtschaft zeichnen das Bild einer von Gewalt und Grausamkeit beherrschten Welt, aus der sich der junge Ælfwine in seine Träume flüchtet.
In den frühesten Entwürfen zu Tolkiens Mythologie erscheint der Traum mehrfach als Zugang zum Reich der Feen und Götter. So wird uns an anderer Stelle vom Olóre Malle berichtet, dem Pfad der Träume, über den schlafende Menschenkinder nach Tol Eressea zur Hütte des Vergessenen Spiels, ja vielleicht sogar bis nach Valinor gelangen können. Aus diesen Kindern werden dann später die „Dichter der Großen Lande" (18).  Solche etwas süßlich anmutenden Motive verschwanden später völlig, doch die ihnen zugrundeliegende Tendenz zur romantischen Weltflucht blieb natürlich stets ein Teil des tolkienschen Werkes. William Morris hatte sich als „dreamer of dreams, born out of my due time" bezeichnet. Tolkien sah sich ganz ähnlich, und diese Empfindung findet in Ælfwine aus England ihren Ausdruck in der Sehnsucht nach dem Meer. In einem anderen Teil des Buchs der Verschollenen Geschichten wird der Name des Seefahrers, der dort Eriol heisst, als „Einer, der für sich träumt" gedeutet. (19) Kann man noch deutlicher werden?
Als es Ælfwine schließlich gelingt, der Sklaverei zu entfliehen, denkt er bezeichnenderweise nicht einen Moment lang daran, für die Befreiung seiner Heimat von der Tyrannei der Nordmänner zu kämpfen. Vielmehr kehrt er der Welt der Menschen mit ihren Wirren und Leiden den Rücken zu und wandert in die Heimat seiner Mutter, um bald darauf mit sieben Gefährten in See zu stechen und sich auf die Suche nach den elbischen Zauberinseln im Westen zu machen. Ähnlich wie Morris’ "Wanderer" irren sie lange Zeit erfolglos über das Meer und erleben manches Abenteuer, doch gerade als sie endgültig aufgeben und in die Heimat zurückkehren wollen, flammen in der Nacht plötzlich die Lichter von Tol Eressea auf:
Da kam Musik sehr sachte über die Wasser gezogen, und sie war von ungeahnter Sehnsucht durchtränkt, daß Ælfwine und seine Gefährten sich auf ihre Ruder stützten und leise weinten; und ein jeder beweinte sein halb erinnertes Herzeleid, die Erinnerung an die Schönheit lange verlorener Dinge, und ein jeder weinte aus Sehnsucht nach der reinen Schönheit, die jedes Kind der Menschen erfüllt, Schönheit, die es sucht und die es nicht findet.
Die Insel der Elben wird hier zur Verkörperung jener "reinen", außerweltlichen Schönheit, nach der es die Romantiker immer verlangt hat. Das gibt den folgenden Zeilen besondere Bedeutung: 
[U]nd mit einem gewaltigen Schrei sprang er [Ælfwine] plötzlich nach vorn ins dunkle Meer, und die Wasser, die ihn umschlossen, waren warm, und ein freundlicher Tod, so schien ihm, nahm ihn in seinen Armen auf. (20)
Ganz sicher hat Tolkien dies nicht beabsichtigt, aber dennoch deutet diese Szene die innere Verwandtschaft zwischen der Sehnsucht nach einer absoluten Schönheit, die nicht von dieser Welt ist, und der Sehnsucht nach dem Tode an. John Keats, der vielleicht feinfühligste Dichter der englischen Romantik, hatte dies sehr genau erkannt und in seiner berühmten Ode of the Nightingale aufs Wunderbarste zum Ausdruck gebracht.

Ist die Fahrt über das Meer hier also Ausdruck der Abwendung von der Wirklichkeit und damit vom Leben, so erschöpft sich darin doch nicht die Bedeutung dieses Motivs im tolkienschen Werk. Älter noch als Eriol/Ælfwine nämlich ist die Figur des Earendil. (21) Bereits im September 1914 – direkt nach seinem Aufenthalt in Cornwall – hatte Tolkien ein Gedicht über den Seefahrer verfasst, das zusammen mit drei weiteren Gedichten zu dem selben Thema, die im Verlaufe der nächsten zehn Monate entstanden, so etwas wie die Keimzelle der Arda-Mythologie bildet. In der Gestalt des Seefahrers, der sich auf die Suche nach Valinor macht und schließlich mit seinem Schiff hinausfährt in die Weiten des Himmels, wo er nun als Abend- und Morgenstern seine Bahnen zieht, finden sich der religiöse Aspekt des Meeresmotivs mit der Sehnsucht nach Weite und Ferne vereinigt.
Inspiriert wurde Tolkien dabei von einigen Zeilen aus der altenglischen Bibeldichtung Christ:
Eala earendel, engla beorhtast,
ofer middangeard monnum sended,
ond soðfæsta sunnan leoma,
torht ofer tunglas, þu tida gehwane
of sylfum þe symle inlihtes!
Swa þu, god of gode gearo acenned, 
sunu soþan fæder, swegles in wuldre
butan anginne æfre wære,
swa þec nu for þearfum þin agen geweorc
bideð þurh byldo, þæt þu þa beorhtan us
sunnan onsende, ond þe sylf cyme
þæt ðu inleohte þa þe longe ær,
þrosme beþeahte ond in þeostrum her,
sæton sinneahtes; synnum bifealdne
deorc deaþes sceadu dreogan sceoldan.
Nu we hyhtfulle hælo gelyfað
þurh þæt word godes weorodum brungen,
þe on frymðe wæs fæder ælmihtigum
efenece mid god, ond nu eft gewearð
flæsc firena leas, þæt seo fæmne gebær
geomrum to geoce. (22)
In Charles Kennedys neuenglischer Prosaübersetzung: 
Hail Day-Star [earendel]! Brightest angel sent to man throughout the earth, and Thou steadfast splendour of the sun, bright above stars! Ever Thou doest illumine with Thy light the time of every season. As Thou, begotten God of God, Son of the True Father, without beginning abodest ever in the splendour of heaven, so now for need Thy handiwork beseecheth boldly that Thou send the bright sun unto us; that Thou come and shed Thy light on those who long ere this, compassed about with mist and in the darkness, clothed in sin, sit here in the long night, and must needs endure the dark shadow of Death. Now are we full of hope and put our trust in Thy salvation, heralded to the hosts of men by the word of God, which in the beginning was with God, with the Almighty Father coeternal, and afterward was made flesh unstained of sin, which the Virgin bare, a solace unto wretched men. (23)
Im Christ bezeichnet "Earendel" den Morgenstern und steht symbolisch für Johannes den Täufer, der als Herold der Wahren Sonne Christus vorangeht. (24) Tolkien war überzeugt davon, dass es sich bei dem Wort ursprünglich um einen germanischen Eigennamen gehandelt habe, der in einem nur noch bruchstückhaft zu erkennenden Zusammenhang mit einem alten stellaren Mythos gestanden habe. (25) Was Tolkien dazu veranlasste, Earendil in seine eigene Mythologie zu übernehmen, war zwar in erster Linie die klangliche Schönheit des Namens und der mit ihm verbundenen Verszeile „Eala earendel, engla beorhtast". Dennoch ist der christlich-angelsächsische Ursprung – wie wir noch sehen werden – nicht ohne Bedeutung.
Die Identifikation mit einem Stern stammte also aus der altenglischen Vorlage, doch fügte Tolkien dem das Motiv des rastlosen Seefahrers hinzu.

Als Sohn Tuors und der Elbenprinzessin Idril wurde Earendil von Beginn an fest eingebunden in den sich entfaltenden Kosmos des späteren Silmarillion. Allerdings war die Rolle, die er in der Geschichte Mittelerdes spielt, einer Reihe interessanter Veränderungen unterworfen. Nach ihrer Flucht aus dem von Melkors Armeen eroberten Gondolin lassen sich Earendils Eltern mit ihrem Sohn an der Mündung des großen Flusses Sirion nieder. Von Jugend an ist Earendil erfüllt von einer großen Liebe zum Meer. Eines Tages macht sich sein Vater Tuor in einem Schiff auf, und „mit Idril Celebrindal fuhr er in den Sonnenuntergang nach Westen hinaus und verschwand aus den Liedern und Erzählungen." (26)
Ähnlich wie in den antiken Heldenepen Odysseus und Jason die besondere Gunst der Pallas Athene genießen, kann Earendil sich (wie bereits zuvor sein Vater) der Huld Ulmos, des Herrn der Wasser, erfreuen. Er steht unter seinem Schutz, wird von ihm aber auch als Instrument zur Ausführung seiner göttlichen Pläne verwendet.  Mit Hilfe der Elben baut er sein Schiff Vingilot, die Schaumblüte, und sticht in See, dem Ruf des Meeres folgend und dabei hoffend, seine Eltern wiederzufinden oder einen Weg in das verborgene Segensreich Valinor zu entdecken. Denn seit Feanor gegen die Autorität der Valar rebelliert und einen Teil seines Volkes gegen den Willen der engelsgleichen Hüter Ardas nach Mittelerde zurückgeführt hat, ist ja selbst den Elben der Zugang zum Fernen Westen versperrt. 
Jahrelang streift Earendil über die Weltmeere und bereist ferne und exotische Länder, ohne jedoch den Weg ins Irdische Paradies finden zu können.

In der ursprünglichen Konzeption der Erzählung sollte diesen Fahrten ein wichtiger Platz zukommen. Tolkien plante ein langes Versepos mit dem Titel Lay of Earendel, zu dem wenigstens zwei der 1914/15 entstandenen Gedichte gehören sollten, das jedoch schon bald beiseite gelegt wurde. Die Bitte an den Sänger, die als Auftakt des Epos gedacht war und in der vom „raunenden Dämmer abends auf fernen Ozeanen" und dem „Murmeln tropischer Wasser, die nie schlafen,/ Sondern wohltönend unter dem runden Kiel erklingen" die Rede ist, lässt uns noch erahnen, wie das „Lied vom ewig nach dem Meere Begehrenden" wohl geklungen hätte. (27) Auch die spätere Prosafassung ist nie über das Stadium erster Skizzen hinausgekommen. Tolkiens Notizen lassen aber noch erkennen, dass die Erzählung sich motivisch offenbar an mittelalterlichen Quellen wie den Indienkapiteln der Alexanderromane oder Reisebüchern wie John de Mandeville orientieren sollte. Da ist die Rede von Feuerbergen, Baum-Wesen, Pygmäen, „Sariqindi oder Kannibalen-Ogern", Sonnenbewohnern und Gewürzen, außerdem von der „Heimstatt der Nacht" und den „roten Palästen, wo die Sonne wohnt". Auch sollte Earendil auf seinen Irrfahrten Ungolianth, der Großen Spinne, der fürchterlichen Ahnherrin Shelobs/Kankras begegnen. (28)
Wäre diese Geschichte je geschrieben worden, Tolkien hätte jene Regionen verlassen müssen, die vom „heimischen Anhauch (vom Himmel und der Erde des Nordwestens)" (29)  geprägt waren. Dies scheint mir von besonderer Bedeutung zu sein. Nirgends sonst zeigt der Autor das Verlangen, sich über den "europäischen2 Raum hinauszuwagen. Außer ein paar Namen wie Umbar, Harad und Khand erfahren wir nichts über die Reiche der Südländer und Ostlinge. Anders als etwa die farbenprächtigen Traumgeschichten Lord Dunsanys enthalten Tolkiens Erzählungen keine Exotik. Doch die Wogen des Meeres schlagen an alle Ufer. Die Figur des Seefahrers impliziert notwendigerweise das Überschreiten von Grenzen, den Vorstoß ins Unbekannte, die Begegnung mit dem Fremden. Denkbar, dass die Geschichte aus eben diesem Grunde nie fertiggestellt wurde. Dennoch muss der rastlose Wanderer der Meere Ausdruck eines tiefen Bedürfnisses gewesen sein, das seine Befriedigung nicht in der Kleinbürgerlichkeit von Tolkiens realem Leben finden konnte und das meilenweit entfernt war von der engen Behaglichkeit eines Auenlandes. Andernfalls wäre Earendil wohl kaum eine so zentrale Gestalt der Mythologie geworden.

Wichtigster Teil der Geschichte des Seefahrers war freilich schon immer die Fahrt nach Valinor. Denn schließlich gelingt es ihm tatsächlich, an den Dämmerinseln vorbei bis zur Küste der Unsterblichen Lande vorzustoßen. Auf den ersten Blick mag man dies für eine bloße Wiederholung des Eriol/Ælfwine - Themas halten, dem ist aber nicht so. Earendils Reise endet nicht mit dem Erzählen alter Geschichten am heimeligen Kaminfeuer Vaires und Lindos. Hier knüpft Tolkien nicht an die romantische Tradition des Earthly Paradise, sondern an ältere und mächtigere Mythen an.
Dass das Irdische Paradies bei ihm anders als in der mittelalterlichen Tradition nicht im Osten, sondern im Westen liegt, hat mit der ursprünglichen Verwurzelung des Mythos in England zu tun. Als "seo unwemmede leg" (ags. "die unbefleckte Insel") stellte England in der ältesten Fassung eine Art Vorposten Valinors dar, wie später die Einsame Insel (Tol Eressea), mit der es ganz zu Anfang auch identifiziert worden war.
Mit der Idee eines westlichen Segensreiches konnte Tolkien natürlich an die keltische Überlieferung von Avalon und anderen Feeninseln anknüpfen. Von dort war das Gläserne Schiff gekommen, das in der altirischen Heldensage Condla den Roten, den Sohn von König Conn Hundertkampf, mit seiner elbischen Geliebten davonträgt in das Land ewiger Jugend und Schönheit, wo es weder Leid noch Elend gibt. Dorthin war Bran, der Sohn Febals, mit seinen Mannen gesegelt, und dort hatte Manannan mac Lir seinen Sohn Mongan sechzehn Jahre lang behütet und aufgezogen, bevor dieser den Thron Ulsters bestieg und den Tod seines Adoptivvaters Fiachna Finn rächte. Von noch größerer Bedeutung als Quelle der Inspiration war jedoch sicher die im 10. Jahrhundert entstandene Navigatio Sancti Brendani Abbatis (Seefahrt des heiligen Abtes Brendan). Irische Überlieferungen aufgreifend erzählt die Navigatio davon, wie der Abt Brendan zusammen mit einigen seiner Mönche sieben Jahre lang das große Meer im Westen bereist und dabei nicht nur eine Reihe geheimnisvoller Inseln entdeckt, sondern auch Seeungeheuern, Dämonen, heiligen Eremiten, dem auf ewig verdammten Judas Iskariot und den "neutralen Engeln" begegnet, die sich beim Kampf zwischen Gott und Luzifer für keine Seite entschieden haben und deshalb auf die Erde verbannt wurden. Schließlich erreicht Brendan das Irdische Paradies, die Terra Repromissionis Sanctorum (Land der Verheißung der Heiligen), das offenbar als künftige Zuflucht für die Gläubigen während der Herrschaft des Antichrists dienen wird. Nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Wächterengel des Paradieses kehrt er nach Irland zurück. Tolkien verarbeitete einen Teil der Legende in einem Gedicht mit dem Titel Imram (gälisch "Reise"), das erstmals 1955 in der Zeitschrift Time & Tide veröffentlicht wurde. Die Parallelen zur Geschichte von Earendil sind unverkennbar. 
Die Navigatio Sancti Brendani Abbatis gehört in die Tradition geographischer Utopien Der Traum von einem Ort, wo die Welt so ist, wie sie sein sollte, wo das Goldene Zeitalter nie zuende gegangen ist, findet sich bei vielen Völkern: Die Unsichtbare Stadt Kitesch der russischen Sage, das Shambala der Tibeter und Mongolen, die "Festung der Weiden" des chinesischen Volksglaubens und natürlich der Garten Eden des mittelalterlichen Christentums. Ein letzter Abglanz dieses alten Traumes fällt auch auf Earendils Fahrt in den Verborgenen Westen. Dem Verlangen nach dem Meer gesellt sich so die Sehnsucht nach einem Ort hinzu, "wo guten Morgen wirklich noch guten Morgen bedeutet" – wie es in Vittorio de Sicas Wunder von Mailand so hübsch heißt. Zwar ist mit der Vernichtung der Zwei Bäume durch Melkor und Ungolianth das Goldene Zeitalter auch in Valinor zuende gegangen. Dennoch bleibt das Segensreich ein Irdisches Paradies und am Leben jener Elben, die nicht an Feanors Aufruhr teilgenommen haben und aus Valinor verbannt wurden, scheint sich nichts wesentliches geändert zu haben.

Betrachtet man sich Tolkiens Segensreich im Rahmen diser Tradition, so stößt man allerdings auf ein vielsagendes Detail. In einer mittelhochdeutschen Versbearbeitung der Brendan-Geschichte finden wir die folgende Beschreibung der paradiesischen Insel der "neutralen Engel":
der weize ungebuwet wuhs do,
der win ungearbeit so,
do was alles des genuc
daz die erde ie getruc,
swaz ouch ieman solde han.
da vluzen wazzer suze und wol getan.
vische unde vederspil
des was da uzermazen vil.
da was daz wilt allez zam,
der wolf da nie niht genam. (30)
Dort wuchs der Weizen, ohne dass man die Felder bestellen musste, und der Wein gedieh ebenso mühelos; dort gab es von allem genug, was die Erde je hervorgebracht hat, was auch immer ein jeder haben wollte. Da flossen süße und hübsch anzuschauende Bäche. Es gab unermessliche Mengen an Fischen und Vögeln. Alles Wild war dort zahm, der Wolf riss dort kein einziges Tier."
Felder, die von selbst gedeihen und Frucht hervorbringen, gehören zu jedem ordentlichen Irdischen Paradies oder Goldenen Zeitalter, ganz gleich ob bei Hesiod, Ovid, im mittelalterlichen Roman de la Rose, der Völuspa oder Cervantes’ Don Quijote. Selbst in den Verborgenen Tälern (beyuls) der tibetischen Buddhisten im fernen Himalaya „the crops grow without anyone planting and tending them". (31) In Tolkiens Schilderung des Segensreiches hingegen  ist zwar von „Gold unter dem hohen Weizen der Götter" die Rede, und Yavanna – die Demeter unter den Valar – „bestimmte [...] die Zeiten, zu denen alles in Valinor wuchs, blühte und reifte" (32), doch findet man nichts, was der klassischen Formulierung „Frucht gewährte das nahrungsprossende Erdreich/ Immer von selbst, vielfach' und unendliche" (33)  entsprechen würde.
Die Vision vom Goldenen Zeitalter war der Traum einer Agrargesellschaft, für die der Ackerbau ein Synonym für menschliche Arbeit schlechthin und eine Welt, in der die Felder nicht bebaut werden müssen, folglich eine Welt war, in der Arbeit und Mühsal nicht länger existieren. Fällt die Notwendigkeit der Arbeit, so verschwinden zugleich auch die Klassenunterschiede, es gibt keine Herren und keine Knechte mehr. (34)  Derartige Gedanken lagen Tolkien bei der Beschreibung seines Irdischen Paradieses fern. Und das trifft nicht nur auf Valinor, sondern im Großen und Ganzen auch auf die Elbenreiche in Mittelerde zu. Wovon leben die Bewohner Lóriens, eines Reiches, das ausschließlich aus Waldland besteht? Woher stammen all die Köstlichkeiten auf Elronds reichgedeckter Tafel? Auf solche Fragen gibt es keine befriedigende Antwort. Die Elbenreiche besitzen keine wie auch immer geartete ökonomische Grundlage, wie Tolkien selbst einmal auf eine kritische Anmerkung Naomi Mitchisons hin eingestehen musste. (35) Nicht dass sich der sonst so penible Weltenschöpfer hier einen fauxpas geleistet hätte. Es handelte sich um eine ganz bewusste Entscheidung. Insoweit die Elben ein Ideal verkörpern, handelt es sich dabei um das Ideal des vollkommenen Künstlertums. Alle anderen Bereiche des menschlichen Lebens werden dabei völlig ausgeblendet. Tolkien versuchte nicht, seine Vision einer wahrhaft ästhetischen Existenz in einen gesellschaftlichen Rahmen einzubetten. Natürlich wusste auch er, dass in der Realität eine Gemeinschaft nicht nur aus Künstlern bestehen kann. Doch er konnte sich nicht vorstellen, wie er sein Ideal mit den Profanitäten der Ökonomie in Einklang hätte bringen können. Insofern er ein soziales Ideal besaß, kam das Auenland dem am nächsten. Doch eine solch kleinbürgerliche Existenz ist unvereinbar mit dem hehren Anspruch des elbischen Künstlertums. Sie ist viel zu kleingeistig und auch materiell zu arm. Tolkien wusste einfach nicht, wie er dieses Problem hätte lösen können, also verschloss er ganz bewusst die Augen vor ihm. Dadurch erhielt sein Ideal einen ausgesprochen lebensfremden, abstrakten Charakter und zugleich fielen bei der Beschreibung der Elbenreiche und des Segensreiches alle wirtschaftlichen Aspekte notwendigerweise weg. Wozu dann also noch die von selbst gedeihenden Felder des Elysiums?

Doch kehren wir zurück zu Earendil. In den ältesten Entwürfen war die Rolle, die seine Fahrt nach Valinor und die anschließende Verwandlung in den Morgenstern im Gesamtzusammenhang des Mythos spielen sollten, merkwürdig unklar. Bald jedoch erhielten sie eine zentrale, wenn man so will heilsgeschichtliche Bedeutung. Damit entfernte sich der Seefahrer noch weiter vom Typus Eriol/Ælfwine. War dieser ausschließlich Chronist gewesen, so wurde Earendil nun zu einem wichtigen Akteur im Weltendrama, zum Mittler zwischen den Völkern Mittelerdes und den göttlichen Mächten. Er, der selbst Sohn eines Menschen und einer Elbin ist, wird zum Fürsprecher für die von Melkor-Morgoth bedrängten "Kinder Ilúvatars". Nach Feanors Aufruhr, dem Sündenfall der Elben, hatten die Valar sich von Mittelerde abgewandt und griffen – mit Ausnahme Ulmos – nicht mehr in dessen Geschicke ein. Erst Earendils selbstlose Fahrt durch das Schattenmeer macht die Versöhnung zwischen den engelhaften Mächten und den "Kindern Ilúvatars" möglich. Entsprechend wird er von Eonwe, dem Herold der Valar, in den Unsterblichen Landen willkommen geheißen: 
Gegrüßt seist du, Earendil, der Seefahrer ruhm-reichster, Erwarteter, der unversehens da ist, Ersehnter jenseits allen Hoffens! Gegrüßt seist du, Earendil, der du das Licht trägst, das älter ist als Sonne und Mond! Licht der Erdenkinder, Stern in der Dunkelheit, Juwel in der Abendsonne, Strahlenkranz am Morgen! (36)
Diese Worte weisen natürlich auf Earendils Verwandlung in den Morgenstern voraus. Das Licht, das er bei sich trägt und das "älter ist als Sonne und Mond", ist einer der Silmaril, jener magischen Juwelen, in denen das Licht des Goldenen Zeitalters eingefangen wurde. Doch auch wenn die Symbolik ganz die des tolkienschen Mythos ist, besitzt Eonwes Gruß einen unverkennbar biblischen Klang. Der Seefahrer verwandelt sich hier in eine beinahe messianische Gestalt.
Greift Tolkien damit nicht das Motiv des "echten" Earendel aus dem Christ wieder auf? Sicher, in einem Brief aus dem Jahr 1967 hat er dazu geschrieben: 
Die Verwendung von earendel in ags.-christlicher Symbolik als Vorbote des Aufgangs der wahren Sonne in Christo ist meiner Verwendung des Namens vollkommen fremd. Der Sündenfall des Menschen liegt in der Vergangenheit und steht nicht mehr auf der Tagesordnung; die Erlösung des Menschen liegt in ferner Zukunft. Wir sind in einer Zeit, wo die Existenz Erus, des Einen Gottes, zwar den Weisen bekannt ist, wo es aber keinen Zugang zu ihm gibt, es sei denn über oder durch die Valar, obwohl von jenen, die numenorischer Abkunft sind, immer noch in (unausgesprochenen) Gebeten Seiner gedacht wird. (37)
Dass Menschwerdung und Opfertod Christi keine Rolle in einer Geschichte spielen können, die in einer fiktiven Vorzeit angesiedelt ist, versteht sich von selbst. Dennoch scheint mir der Bezug zum "earendel" des angelsächsischen Gedichtes jetzt wieder enger zu sein. Im Christ erscheint der Morgenstern Johannes als Zeichen der Hoffnung für „those who long ere this, compassed about with mist and in the darkness, clothed in sin, sit here in the long night, and must needs endure the dark shadow of Death". Dass Tolkien die Lage der Menschheit nicht viel anders beurteilt hätte als der altenglische Dichter, dürfte klar sein. Und wie dieser sah auch er im gnädigen Eingreifen Gottes die einzige Hoffnung auf Rettung. Nun kündigt der Morgenstern Earendil zwar nicht die Geburt des Gottessohnes an, der die Menschheit von der Erbsünde befreien soll, doch ließe sich durchaus argumentieren, die Versöhnung mit den Valar stelle in ähnlicher Weise die Wiedergutmachung eines Sündenfalles dar. Noch wichtiger scheint mir allerdings zu sein, dass der Seefahrer mit seiner Verwandlung in einen Stern zu einem eschatologischen Symbol wird: 
Als nun Vingilot zum ersten Mal die Meere des Himmels befuhr, da stieg er unverhofft auf, hell und funkelnd, und die Völker von Mittelerde sahen es von fern, und sie nahmen es als ein Zeichen der Hoffnung und nannten es Gil-Estel, den Stern der Hohen Hoffnung. (38)
Was folgt ist der Feldzug der Heere Valinors gegen Morgoth, der mit dessen Niederwerfung und Verbannung aus den "Kreisen der Welt" endet. Diese letzte große Schlacht des Ersten Zeitalters besitzt eindeutig apokalyptische Züge. Nicht zufällig trägt sie keinen elbischen Namen, wie die übrigen großen Schlachten, sondern wird nur "Krieg des Zorns" ("War of Wrath") genannt, eine kaum verhüllte Anspielung auf den "Tag des Zorns" ("Dies Irae" – "Day of Wrath") der christlichen Mythologie. Auf dem Höhepunkt des Kampfes greift Earendil selbst in das Geschehen ein und tötet Ancalagon, den mächtigsten der Drachen, „und stieß ihn vom Himmel herab." Ist es so abwegig, dabei an die Szene aus der Offenbarung des Johannes zu denken, in der der Erzengel Michael den Drachen, „die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt" (Off 12,9), auf die Erde herabschleudert? Zumal Tolkiens Lieblingszeile aus dem Christ "earendel" ja ausdrücklich "engla beorhtast", also "den strahlendsten der Engel" nennt. Der hinabgestoßene Ancalagon bringt die mächtigen Thangorodrim zum Einsturz – drei Berge, die sich über dem Tor von Morgoths "Eisenhölle" erheben. Das heisst "Berge" ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Die „Donnertürme der Thangorodrim" sind vielmehr gewaltige Schornsteine, von Melkor erbaut 
aus der Asche und der Schlacke seiner unterirdischen Öfen und den Schuttmassen von seinen Grabungen. Sie waren schwarz und kahl und stiegen über alle Maßen hoch; und aus ihren Spitzen quoll schwarzer, stinkender Rauch in den nördlichen Himmel. 
Selbst hinter dem mythischen Szenario des Silmarillion verbirgt sich also einmal mehr der Hass auf die "Maschinengesellschaft2, der hier nun allerdings wahrhaft apokalyptische Formen annimmt. Der Krieg des Zorns ähnelt einem Probelauf für Armageddon; eine Art kleiner Jüngster Tag, der zwar nicht gleich die ganze Welt, aber doch beträchtliche Teile Mittelerdes der Vernichtung anheimgibt: 
Denn so heiß tobte die Schlacht dieser Feinde, daß die nördlichen Gegenden der westlichen Welt zerrissen wurden und das Meer durch viele Spalten hereinbrach; und es herrschten Verwirrung und großer Lärm, und Flüsse versiegten oder suchten sich einen neuen Lauf, und Täler wurden gehoben und Berge niedergetreten. (39) 
Nun gehörte Tolkien wohl nicht zu den christlichen Fanatikern, die jeden Tag erwarten, den Menschensohn auf den Wolken des Himmels kommen zu sehen. Dennoch waren ihm chiliastische Hoffnungen nicht fremd: 
[Ich] glaube [...] an ein ‘Millenium’, das prophezeite Tausendjährige Reich der Heiligen, d.h. derjenigen, die sich bei all ihren Unvollkommenheiten am Ende doch niemals mit Herz und Willen der Welt oder dem bösen Geist gebeugt haben. (40)
Zwar entsteht mit der Niederwerfung Melkors kein messianisches Friedensreich in Mittelerde (höchstens ließe sich dabei an das für die Dúnedain reservierte Númenor denken), doch das ebenso unerwartete wie machtvolle Eingreifen einer himmlischen Gewalt zur Erlösung einer vom Bösen beherrschten Welt ist ein verbindendes Motiv. 
Auf den ersten Blick ist der Inhalt dieses Traumes von Apokalypse und Tausendjährigem Reich durchaus reaktionär. Der „böse Geist", dem die Heiligen sich widersetzt haben, ist ja „die Mechanik, der ‘wissenschaftliche’ Materialismus, der Sozialismus", und Melkor, der im apokalyptischen Krieg des Zorns gestürzt wird, verkörpert wie alle satanischen Widersacher des tolkienschen Mythos die Moderne, das pervertierte Schöpfertum, die Herrschaft der "Maschine". Doch gerade die Figur des Earendil verleiht dem Ganzen noch eine etwas andere Note, und das in zweierlei Hinsicht:
1)  Der Krieg des Zorns ist eine mustergültige Eukatastrophe, aber der Seefahrer ist kein Frodo. Zwar bezeichnet er selbst seine Fahrt in den Fernen Westen als „mein Schicksal" und Ulmo erklärt im Rat der Valar: „Dazu ward er in die Welt geboren" (41), aber seine Bestimmung ist ihm von keinem Gandalf offengelegt worden, woraufhin er sie demütigst angenommen hätte. Sein aus Mitleid für die von Melkor unterdrückten Völker Mittelerdes unternommener Versuch, Valinor zu erreichen, bedeutet vielmehr einen direkten Verstoß gegen ein "göttliches2 Gebot. Und doch konnte nur auf diese Weise der Feldzug gegen den Herrn von Angband in die Wege geleitet werden. Wenn die Rettung der Welt also auch hier nur durch die himmlischen Mächte herbeigeführt werden kann, haben wir in Earendil doch das Bild eines Menschen vor uns, der aus eigener Initiative ein ungeheures Wagnis auf sich nimmt und eine Grenze zu überschreiten versucht, die als unüberwindlich gilt und zudem auch noch mit einem quasi religiösen Tabu belegt ist. Der mutige und rastlose "Liebhaber des Meeres" eignet sich ganz und gar nicht als Exempel der Demut. Dabei steht ihm seine Gattin Elwing zur Seite, und auch wenn diese ganz nach dem Ideal des liebenden Eheweibs gezeichnet ist, bleibt es doch bemerkenswert, dass er ohne sie Valinor allem Anschein nach nie erreicht hätte. Wie schon in der Geschichte von Beren und Lúthien ist es auch hier so, dass die größten Heldentaten nur von Mann und Frau gemeinsam vollbracht werden können. Ein Gedanke, der sich im Herr der Ringe leider so gar nicht wiederfindet.
2) Unabhängig von der Handlung sollte man die Figur des Seefahrers stets in jener weiteren Perspektive sehen, in der er ursprünglich stand: Der klagende und lockende Schrei der Möwen; das Donnern der Brandung an den Klippen von Nevrast-Cornwall; das leise Geräusch der Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schlagen, während über dem Mast die fremden Sternbilder weitentfernter Weltregionen am Nachthimmel funkeln. Diese Atmosphäre und die mit ihr verbundenden Gefühle und Sehnsüchte bleiben mit Earendil verknüpft, auch wenn er zum Stern und eschatologischen Zeichen der Hoffnung geworden ist. In ihm verkörpert sich das Verlangen nach einer Freiheit, die nichts mit der biederen Gemütlichkeit von Beutelsend oder der ästhetisch-aristokratischen Pracht von Elronds Haus gemein hat.

Im Herr der Ringe gelangen Tolkiens Helden erst ganz am Ende an die Ufer des Ozeans, aber eigentlich ist das Meer bereits den ganzen Roman über präsent, wie ein fernes Panorama, vor dem sich die eigentliche Handlung entfaltet. Schon ganz zu Beginn seiner Fahrt, in der letzten Nacht, die er im Auenland verbringt, hat Frodo einen eigenartigen Traum:
Dann hörte er ein Geräusch in der Ferne. Zuerst dachte er, es sei ein starker Wind, der durch die Blätter des Waldes rauschte. Doch merkte er, daß es nicht Blätter waren, sondern das Rauschen des fernen Meeres, ein Geräusch, das er in seinem Leben, wenn er wach war, nie gehört hatte, obwohl er es oft in seinen Träumen vernommen hatte. Plötzlich stellte er fest, daß er im Freien war. Es waren überhaupt keine Bäume da. Er war auf einer dunklen Heide, und es lag ein seltsamer Salzgeruch in der Luft. Als er aufschaute, sah er einen großen weißen Turm vor sich, der für sich auf einem hohen Bergrücken stand. Ein starkes Verlangen überkam ihn, auf den Turm zu steigen und das Meer zu sehen. Er begann, den Berg zu erklimmen, um zu dem Turm zu gelangen: aber plötzlich zuckte ein Blitz über den Himmel, und es donnerte. (42)
 Es existiert kein erkennbarer Zusammenhang zwischen dieser Vision und der Reise zum Schicksalsberg. Dennoch hat sie ihre Berechtigung an dieser Stelle. Das Unternehmen, an dessen Beginn Frodo steht, wird kein zeitlich begrenzter ‘Abenteuerurlaub’ sein wie einst bei Bilbo – "There and Back Again". Es wird ihn für immer herausreißen aus dem heimeligen Universum des Auenlandes. Es wird ihm zeigen, dass die Welt sowohl großartiger als auch grausamer ist, als er sich je am knisternden Kaminfeuer von Beutelsend hätte träumen lassen. Gezeichnet vom verführerisch-zerstörerischen Einfluss des Ringes wird er seinen Frieden letztenendes nicht mehr in den grünen Gauen seiner Heimat, sondern nur dort draußen in jener fremden Weite finden können, in der sich das Rauschen der Wellen verbindet mit der Verheißung einer Rückkehr zum Goldenen Zeitalter.
Ein langes Gedicht, das Bilbo in Bruchtal vorträgt, führt das Earendil-Motiv in den Roman ein. (43) Wir hören von seiner Irrfahrt über das Meer, seiner Ankunft in Valinor und seiner Verwandlung in den Morgenstern – als bleibendes Zeichen der Hoffnung für die Völker Mittelerdes,
for ever still a herald on
an errand that should never rest
to bear his shining lamp afar,
the Flammifer of Westernesse.
Und diese Rolle spielt er auch im weiteren Verlauf der Handlung, ist es doch sein Licht, das in Galadriels Phiole eingefangen ist. Wenn Frodo in der alles erstickenden Dunkelheit von Kankras Lauer das Geschenk der Königin hervorholt, ruft er dabei: „Aiya Earendil Elenion Ancalima". (44) Der elbische Ausruf, der "Heil Earendil, hellster der Sterne!" bedeuten soll, ist eine deutliche Anspielung auf das „Eala earendel, engla beorhtast" aus dem Christ und betont in seiner stoßgebetartigen Form die religiöse Dimension des Geschehens. (45)
Das Meer wird hier zwar nicht erwähnt, doch sollten wir es stets mitdenken, wenn von Earendil die Rede ist. Noch als Stern ist er "der Seefahrer", der mit seinem Schiff Vingilot nunmehr den Ozean des Himmels befährt. Im Vordergrund steht freilich das stellare Motiv. Es findet seine Fortsetzung in dem Lied, das Sam in einem Moment tiefster Verzweifelung im Turm von Cirith Ungol anstimmt.
Though here at journey’s end I lie
in darkness buried deep,
beyond all towers strong and high,
beyond all mountains steep,
above all shadows rides the Sun
and Stars for ever dwell:
I will not say the Day is done,
nor bid the Stars farewell.
Das in einem Zustand der "Inspiriertheit" gesungene Lied findet seine reale Erfüllung während einer späteren Nachtwache Sams in der unwirtlichen Ödnis von Mordor:
Hoch über dem Ephel Duath im Westen war der Nachthimmel noch schwach erhellt und bleich. Dort, zwischen dem Gewölk über einem dunklen Felsen hoch oben im Gebirge, sah Sam eine Weile einen weißen Stern funkeln. Seine Schönheit griff ihm ans Herz, als er aufschaute aus dem verlassenen Land, und er schöpfte wieder Hoffnung. Denn wie ein Pfeil, klar und kalt, durch-fuhr ihn der Gedanke, daß letztlich der Schatten nur eine kleine und vorübergehende Sache sei: es gab Licht und hehre Schönheit, die auf immer außerhalb seiner Reichweite waren. (46)
Ob es sich tatsächlich um den Abendstern Earendil handelt, wird nicht gesagt, ist aber eigentlich auch unwichtig. Der symbolische Bezug zumindest ist klar.
Konzentriert sich bei Frodo und Sam alles auf das religiöse Element und die damit verbundene Hoffnung auf eine unbefleckte Schönheit jenseits der industriellen Hölle von Mordor, so wird die unmittelbare Sehnsucht nach dem Meer vor allem mit der Figur des Legolas verbunden. Die Liebe zur See scheint in der Brust eines jeden Elben zu schlummern und nur auf einen äußeren Anlass zu warten, um zu einem unstillbaren Verlangen anzuschwellen. Und genauso ergeht es auch dem Sohn Thranduils, als er zum ersten Mal in die Nähe der Küste gelangt und das Kreischen der Seevögel vernimmt. Nie wieder wird er Frieden in Mittelerde finden können. Und als wäre es Tolkien darum gegangen, dem Leser die alte Geschichte von Tuors Ankunft in Nevrast ins Gedächtnis zu rufen, finden sich hier ganz die selben Details: Die Schreie der Möwen, der Seewind, der Sonnenuntergang:
To the Sea, to the Sea! The white gulls are crying,
The wind is blowing, and the white foam is flying.
West, west away, the round sun is falling.
Grey ship, grey ship, do you hear them calling.
In der Logik des Mythos geht nur deshalb eine so große Anziehungskraft vom Meer aus, weil es den Weg ins Irdische Paradies bildet. Doch die Bilder sprechen eine andere Sprache. Nicht was sich jenseits des Ozeans befindet ist von Interesse, sondern die See selbst in ihrer unendlichen Weite und ungezügelten Elementargewalt. Die mythologische Einkleidung will nicht recht zu der Sehnsucht passen, die das Meer in Tolkien weckt, und die offenbar auf anderes gerichtet ist, als auf das in Valinor verkörperte Ideal einer geordneten, ästhetischen Welt unter Gottes Gesetzen. Worauf? Dass hätte wohl Tolkien selbst nicht zu sagen vermocht. Aber man hat das Gefühl, als beunruhige ihn dieses Verlangen, als spüre er die Gefahr, die es für die kleinbürgerliche Ordnung seines Lebens bedeutet. Die Warnung Galadriels scheint auch für ihn ausgesprochen zu sein:
Legolas Greenleaf long under tree
In joy thou hast lived. Beware of the Sea!
If thou hearest the cry of the gull on the shore,
Thy heart shall then rest in the forest no more.
All das bleibt zugegebenermaßen äußerst vage. Wir spüren ein unbestimmtes Verlangen nach Ferne und Weite, alles übrige bleibt Spekulation. Aber vielleicht ist die mangelnde Konkretheit in diesem Fall sogar von Vorteil, denn überall da, wo Tolkien seinen Sehnsüchten bewusste Form zu verleihen versucht, setzt sich der Kleinbürger in ihm durch und schwärmt entweder von idyllischer Ländlichkeit oder gibt sich melancholischen Träumen von einer eigenartig leblosen elbischen "Schönheit" hin. Die Stimme des Meeres aber ist bei ihm die Stimme des Un- oder zumindest des nur Halbbewussten.


(1) Michael Moorcock: Wizardry and Wild Romance. S. 127.
(2) Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Tolkien allem Anschein nach nicht eben viel für das britische Empire übrig hatte. In einem Brief an seinen Sohn Christopher beschrieb er 1943 seine patriotischen Gefühle so: „[I]ch liebe England (aber nicht Großbritannien, geschweige denn das britische Commonwealth (grr!))"  {Brief an Christopher Tolkien [9. Dezember 1943]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe Nr. 53. S. 89f.} Und auch die folgende Bemerkung dürfte sich wohl auf das Empire beziehen: „Das römische Reich hätte ich seinerzeit gehaßt (ich hasse es jetzt noch) und wäre doch ein patriotischer römischer Bürger geblieben, obwohl mir ein freies Gallien lieber gewesen wäre und ich auch an Karthagern Gutes gefunden hätte."  {Brief an Christopher Tolkien [31. Juli 1944]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 77. S. 121.} Im Klartext: Ich hasse das Empire, bleibe aber trotzdem ein treuer englischer Patriot, obwohl mir ein freies Indien lieber wäre und ich auch an den Deutschen manches Gute zu entdecken vermag. Ob man Tolkiens Abneigung gegen das britische Weltreich allerdings als Antikolonialismus auslegen darf, ist eher fraglich. Vermutlich sah er im Empire vor allem einen Ausdruck des von ihm gehassten "Kosmopolitismus", worunter er jede Tendenz verstand, die die Auflösung regionaler und nationaler Eigenheiten begünstigte. Diese Einstellung richtete sich gegen den Internationalismus ebenso wie gegen den Kolonialismus. Sie war nicht progressiv, sondern konservativ. Allerdings schrieb er 1945 über den Pazifikkrieg: „Obendrein bringe ich in diesem Fall, in diesem restlichen Krieg, keine Spur von Patriotismus auf, denn über den britischen oder amerikanischen Imperialismus im Fernen Osten weiß ich nichts, das mich nicht mit Bedauern und Ekel erfüllte. Keinen Penny würde ich dafür hergeben, geschweige denn einen Sohn, wenn ich ein freier Mann wäre." {Brief an Christopher Tolkien [29. Mai 1945]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe Nr. 100. S. 155.} Ich glaube, manches an der Geschichte von Númenór ließe sich als eine Kritik am britischen Imperialismus interpretieren. Doch das wäre Stoff für einen anderen Essay.
(3) Brief an Deborah Webster [24. Oktober 1958]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 213. S. 378.
(4) Vgl.: Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie. S. 152f.
(5) Brief an Rayner Unwin [24. Oktober 1952]. In: J:R:R: Tolkien: Briefe. Nr.135. S. 220.
(6) Brief an Michael Tolkien [1967/68]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 306. S. 510f.
(7) J.R.R. Tolkien: Der kleine Hobbit. S. 70f. Die Riesen der Mythologie als Verkörperungen von Naturgewalten zu interpretieren, war in der Literatur- u. Religionswissenschaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. üblich.
(8) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 48f.
(9) J.R.R. Tolkien: Tuor und seine Ankunft in Gondolin. In: Ders.: Nachrichten aus Mittelerde. S. 38f. Für die älteste Version vgl.: Das Buch der Verschollenen Geschichten. Bd. II. S. 164f. Das entsprechende Kapitel im Silmarillion gibt nur einen äußerst gerafften Bericht von den Wanderungen Tuors, dem die Details fehlen, auch wenn das Meeres- und Sehnsuchtsmotiv kurz berührt wird.
(10) Zit. nach: Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie. S. 86.
(11) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 25; 33.
(12) Vgl.: George P. Landow: Morris and Tolkien.
(13) Teil 1 - Teil 2 - Teil 3
(14) Vgl.: E. P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary. S. 114-34.
(15) William Morris: The Earthly Paradise (March-August). S. 1f.
(16) Die Wikingerinvasion lässt vermuten, dass die Geschichte im 9. Jahrhundert spielen soll, doch vermittelt sie den Eindruck, als gäbe es kein Christentum. An einer Stelle sprechen Ælfwines Gefährten sogar wie selbstverständlich von "Göttern". Tolkien wollte wohl von Anfang an alle offen christlichen Bezüge aus seiner Mythologie aussparen, was hier zu einem etwas eigentümlichen Ergebnis geführt hat. 
(17) J.R.R. Tolkien: Das Buch der Verschollenen Geschichten. Bd. II. S. 322.
(18) Ebd. Bd. I. S. 25.
(19) Ebd. Bd. I. S. 18.
(20) Ebd. Bd. II. S. 331.
(21) Zu Beginn noch "Earendel"; ich benutze im Folgenden stets die letztgültige Form des Namens, wie sie im Herr der Ringe und im Silmarillion verwendet wird.
(22) Christ. V. 104-124.
(23) Cynewulf: Christ. Translated by Charles W. Kennedy. S. 4. Inzwischen hat sich scheinbar die Ansicht durchgesetzt, dass dieser Teil des Christ nicht von Cynewulf stammt.
(24) Die altenglischen Blickling Homilien (10. Jh.) bezeichnen Johannes den Täufer ausdrücklich als "se niwa eorendel", was meist als "die neue Morgendämmerung" oder "der neue Morgenstern" übersetzt wird: „Nu seo Cristes gebyrd at his aeriste, se niwa eorendel Sanctus Johannes; and nu se leoma thaere sothan sunnan God selfa cuman wille." „And now the birth of Christ [was] at his appearing, and the new day spring (or dawn) was John the Baptist. And now the gleam of the true Sun, God himself, shall come." (The Blickling Homilies. Translated by R. Morris. S. 83.)
(25) De facto existieren offenbar nur sehr wenig Belege für den mythologischen Hintergrund des Namens. Snorri Sturluson erwähnt in seiner Prosa-Edda (Skaldskaparmal XVII) im Zusammenhang mit einem der zahlreichen Kämpfe Thors gegen die Riesen einen gewissen Aurwandil, den Unverzagten, dessen abgebrochener Zeh von dem Gott als Stern bzw. Sternbild an den Himmel versetzt wird. Bei Saxo Grammaticus (Gesta Danorum, III) erscheint Horvendil als jütländischer Held, der die Krone Dänemarks erringt und dessen Sohn Amleð (Shakespeares Hamlet) ist. In dem mittelhochdeutschen "Spielmannsepos" Orendel schließlich hat er sich in einen gnadenlosen Kreuzritter und Liebling der Jungfrau Maria verwandelt, dessen Geschichte mit der Legende des Heiligen Rocks von Trier verknüpft wird. Früher wollte man in all dem Spuren eines Frühlingsmythos erkennen. Inzwischen ist man in Bezug auf solch fantasievolle Konstruktionen vorsichtiger geworden.
(26) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 271. In den ersten Entwürfen wird er nicht von seiner Gattin begleitet.
(27) J.R.R. Tolkien: Das Buch der Verschollenen Geschichten. Bd. II. S. 286.
(28) Vgl.: Ebd. S. 274ff.
(29) Brief an Milton Waldman [1951]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 131. S. 192.
(30) Von sente Brandan. V. 1117-1126.
(31) A Description of the Route to the Beyul of Khembalung, Which is Called Thongwa Tungden (Meaningful to See) [...]. Zit. nach: Johan Reinhard: Khembalung: The Hidden Valley. In: Kailash, Bd. 6, Nr.1 [1978]. S. 20.
(32) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 86f.
(33) Hesiod: Hauslehren. I, 118f.
(34) Die spätmittelalterlichen Erzählungen vom Schlaraffenland oder Cocagne sind nur parodistisch überzogene Versionen des alten Irdischen Paradieses. Das Land of Cockaygne der irischen Überlieferung ist übrigens gleichfalls eine Insel im Westen. 
(35) Vgl. Brief an Naomi Mitchison [25. September 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 154. S. 259f. Eine der ganz seltenen Schilderungen elbischen Ackerbaus findet sich im leider unvollendet gebliebenen Stabreimepos über die Kinder Húrins, wo die verlassenenen Felder und Obstgärten Nargothronds beschrieben werden: „And they came to a country   kindly tended;/ through flowery frith   and fair acres/ they fared, and found   of folk empty/ the leas and leasows   and the lawns of Narog,/ the teeming tilth   by trees enfolded/ twixt hills and river.   The hoes unrecked/ in the fields were flung,   and fallen ladders/ in the long grass lay   of the lush orchards;" (The Lay of the Children of Húrin. V. 1794-1801. In: J.R.R. Tolkien: The Lays of Beleriand. S. 78.) 
(36) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 275.
(37) Entwürfe zu einem Brief an „Mr. Rang" [August 1967]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 297. S. 504.
(38) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. 277.
(39) Ebd. S. 278; 133; 279.
(40) Brief an Christopher Tolkien [30. Januar 1945]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 96. S. 148.
(41) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 274f.
(42) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 139f.
(43) Bilbos Ballade stellt eigentlich eine heroisch-mythische "Überarbeitung" des geschickt gebauten und klanglich sehr hübschen Gedichtes Errantry dar, das erstmals 1933 im Oxford Magazine veröffentlicht und später in The Adventures of Tom Bombadil (1962) aufgenommen wurde. Die Übertragung dieses "nonsense rhyme" auf Earendil passt sehr gut zur Figur des alten Hobbits, der zwar bewandert ist in den Überlieferungen der Elben, aber dennoch der schlichten Tradition seines Volkes verhaftet bleibt. Doch vielleicht steckt in ihr auch ein Stück tolkienscher Selbstironie. Der "Professor" nahm sich und seine Schöpfung bei weitem nicht immer so ernst, wie viele seiner Bewunderer dies immer noch tun.
(44) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. II. S. 380.
(45) Die Mordorkapitel stecken ohnehin voller religiöser Symbole: Da wären z.B. die wiederholte Anrufung Elbereths, die starke Betonung der Licht-Finsternis-Motivik, die"eucharistische2 Wegzehrung Lembas und nicht zuletzt die mehrfache Bezugnahme auf die madonnenhafte "Lady" Galadriel. Der Titel lässt nicht nur an das christliche "Our Lady" denken, sondern macht die Elbenkönigin auch zum Widerpart Shelob-Kankras, die von den Orks halb ironisch, halb furchtsam "Her Ladyship" genannt wird – die Spinne ist ja nicht bloß ein widerliches Monstrum wie in Jacksons Film, sondern die Tochter Ungolianths, der "Weberin der Finsternis", einer wahrhaft dämonischen Kreatur, die selbst von Melkor gefürchtet wurde.
(46) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 223.