"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Montag, 30. Juli 2012

Einmal anders

Wenn ich hier über kommende Filme schreibe, dann gebe ich ja meistens den Miesepeter und erwecke vermutlich den Eindruck, ich könne mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die heutige Filmindustrie etwas gutes hervorzubringen in der Lage sei. Doch dem ist mitnichten so, auch wenn ich zugegebenermaßen kein sonderlich positives Bild von ihr habe. Darum heute also einmal ungetrübte Vorfreude statt Meckerei.

Vor allem dank El Espinazo del Diablo (The Devil's Backbone) und El Laberinto del Fauno (Pans Labyrinth) gehört Guillermo del Toro zu meinen verehrten Lieblingen unter den lebenden Filmemachern. Entsprechend ungeduldig warte ich seit Jahren auf ein neues Werk des Mexikaners. Doch bekanntlich verstrickte er sich nach der Fertigstellung des eher mittelmäßigen Hellboy II (2008) mit dem Hobbit und At the Mountains of Madness für Jahre in zwei Projekte, die letztlich entweder ohne ihn oder überhaupt nicht fertiggestellt werden sollten. Nun erwartet uns dieses nächstes Jahr mit Pacific Rim wohl einer Art Hommage an die klassischen japanischen Monsterflicks – endlich wieder ein Film von Del Toro. Doch ist es nicht das, was mein Herz höher schlagen lässt. Mit Begeisterung erfüllt mich vielmehr das Wissen, dass er sich unmittelbar danach an die Umsetzung seines seit langem geplanten Pinocchio-Projektes machen wird.

Natürlich sieht Guilleromo del Toro, der auch für das Drehbuch verantwortlich sein wird, in der klassischen Geschichte von Carlo Collodi mehr als den Stoff für einen herzigen Kinderfilm. In einem Interview für Inside Movies erklärte er auf der diesjährigen Comic-Con: "In a strange way, two of the stories that fascinate me the most are kind of related, which is Frankenstein and Pinocchio. They are both about creatures that are created and then get lost in a world they don’t understand. And they are both journeys of understanding, and journeys of evolution of the spirit. When we started working on Pinocchio we knew very clearly that we wanted to make it different in the sense that it is not just a fairy tale but a fairy tale that actually moves you and emotionally affects you. It deals with ideas that are relevant to everyone, to all mankind in a way." Im Unterschied zu der allseits bekannten Disney-Version werde dieser Film "more adolescent, more teenage. I hesitate to say just darker, because it’s not just darker. It is a tale that is adapted to a more complex reality, more complex ethical questions. It’s more a tale for youth than a tale for just kids." Seine Adaption werde, wie er an anderer Stelle betonte, "take advantage of all the allegorical aspects of the tale".

Die Ästhetik des Films wird selbstverständlich einmal mehr ganz dem entsprechen, was wir von diesem Liebhaber des Grotesken erwarten. Zumal sich Del Toro diesmal mit dem Illustrator Gris Grimly zusammengetan hat. Aber es wird noch besser. Zum einen wird der Film in Kooperation mit der Jim Henson Company entstehen, was für mich bereits ein Garant für Qualität darstellt. Zum anderen wird man sich einer Mischung aus Animation und Stop-Motion bedienen. Also keine sterile CGI-Zauberei, sondern – um Lisa Henson zu zitieren – "a hand-crafted style [...] which [...] requires a high level of artistry and craftsmanship". Und als wäre das noch nicht genug, wird auch noch Nick Cave die Musik beisteuern! Ich glaube, ich schwebe grade in irgendwelchen überirdischen Sphären ...

Nein, das phantastische Kino ist nicht tot!


PS: Da der Hobbit hier kurz Erwähnung gefunden hat, noch eine Neuigkeit, die viele in der Fantasy-Community vielleicht begeistern wird, mich jedoch völlig kalt lässt: Peter Jackson wird offenbar noch einen dritten Hobbit-Film drehen.

Freitag, 27. Juli 2012

Dr. Dr. Weinreich und die Politik des "Herr der Ringe" (IV)

X

Nicht dass Frank Weinreich leugnen würde, dass es in Tolkiens Werk zumindest auch ein ständisches oder hierarchischs Ideal gibt. Wie er mit diesem umgeht, finde ich dann allerdings erstaunlich. In seinem Essay Das Gute bei Tolkien erklärt er ganz selbstverständlich, man habe darin die Sehnsucht des englischen Bourgeois nach einem idealisierten viktorianischen Zeitalter zu sehen:

"Das Ideal des untergehenden Empires [war] die viktorianische Zeit und das war eine Zeit, in der die gesellschaftliche Ordnung und der Frieden durch tief verwurzelte Hierarchien und durch Ständedenken garantiert waren. Da es zudem eine Zeit wirtschaftlichen wie intellektuellen Fortschritts war, die sich durchaus positiv von den davor liegenden Jahrhunderten abhob – zumindest für das Bürgertum –, war es nur natürlich, das viktorianische Zeitalter und die Gründe, aus denen es funktionierte, zu idealisieren und zur Grundlage gesellschaftlicher Ideale der erfundenen Welt Mittelerde zu machen: Also ist Mittelerde hierarchisch organisiert und eben keine Basisdemokratie schweizerischer Art. Also hat Mittelerde starke und primär auf Grund ihrer Herkunft legitimierte Führer wie Aragorn und Elrond und wird eben nicht von demokratisch gewählten Abgeordneten regiert."

Natürlich 'funktionierte' das viktorianische Zeitalter in Wirklichkeit nicht deshalb, weil die Gesellschaft hierarchisch organisiert, sondern in erster Linie weil die britische Industrie die fortschrittlichste und produktivste der Welt war. Aber lassen wir das einmal beiseite. So oder so leistet Weinreich seinem Idol hier einen echten Bärendienst. Denn wenn seine Sicht in diesem Punkt korrekt wäre, dann müsste unser Urteil über Tolkien und sein Werk vernichtender ausfallen als alles, was Moorcock in Epic Pooh geschrieben hat. Dann wäre dessen  feudale Romantik ja tatsächlich nicht mehr als das zu epischer Größe aufgeblähte Gejammer eines Spießers um die kleinbürgerliche Sattheit und Selbstzufriedenheit vergangener Tage – als die Welt noch in Ordnung und London das Caput Mundi war, der Proletarier gehorsam in Kohlegrube und Fabrik malochte und Britannia ‘die Wogen beherrschte’. Eine solche Interpretation würde jedoch meiner Ansicht nach viel zu kurz greifen. Tolkiens Träume reichten weit hinaus über die Grenzen der bürgerlichen Ordnung, die für den erklärten Liberalen Weinreich das non plus ultra darstellt. Mehr noch – sie waren geboren aus einem instinktiven Abscheu vor eben dieser Ordnung. Wie hätte ausgerechnet Tolkien die viktorianische Ära verherrlichen sollen, in welcher doch jene 'Maschinengesellschaft', die er so leidenschaftlich hasste, zu ihrer ersten großen Blüte gelangt war? Diese Vorstellung ist in meinen Augen schlicht absurd! Vielmehr bin ich fest davon überzeugt, dass man den Schöpfer Mittelerdes in der Tradition von Carlyle und Ruskin (in gewisser Hinsicht auch in der von William Morris) sehen sollte. Als jemanden, der angesichts der bürgerlichen Gesellschaft seinen Blick zurück auf den Feudalismus lenkte, weil er glaubte, dort menschlichere Formen des Zusammenlebens finden zu können. Weinreichs Bemühen, den 'Professor' zu einem liberalen Demokraten zu machen, nimmt diesem viel von seiner Radikalität. Es stellt den Vetsuch dar, aus ihm einen Schriftsteller zu machen, der sich problemlos mit den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen verträgt, was meiner Meinung nach ganz und gar nicht der Fall ist.

XI

Wir können Tolkiens politisches Ideal zusammen mit China Miéville spöttisch als ‘feudalism lite’ bezeichnen, sollten dabei aber nicht vergessen, dass es ihm weniger um die Romantisierung autoritärer Herrschaftsformen, als vielmehr um einen humaneren Gegenentwurf zur ‘anonymen They-ocracy’ des bürgerlichen Staates und letztlich zum Kapitalismus und den mit ihm verbundenen Wertvorstellungen ging. Einen kleinen Funken utopischen Geistes wollen wir seinem literarischen Werk deshalb auch in dieser Hinsicht nicht absprechen. Gar zu weit sollte man dabei allerdings nicht gehen. Denn sobald die feudale Romantik die Gefilde des poetischen Traums verlässt und die Bühne des politischen Kampfes betritt, wird sie unweigerlich zum Schildknappen der reaktionärsten gesellschaftlichen Kräfte. Das biedere Auenland wie das edle Gondor verkörpern gleichermaßen einen ebenso rückwärtsgewandten wie unerfüllbaren Traum, und Tolkien selbst dachte natürlich nie an eine praktische Umsetzung seiner Wunschvorstellungen. Doch andere betrieben mit ähnlichen Ideen handfeste Politik. Und so gesehen erscheint es dann eben doch mehr als nur ein klein bisschen bedenklich, dass im Herr der Ringe die Rückkehr des rechtmäßigen Königs mit der Wiederherstellung der ‘guten’ Ordnung in Eins fällt, wie es der Adler, der dem Volk von Gondor die Nachricht vom Sturz Sauons überbringt, verkündet:

Sing and be glad, all ye children of the West,
for your King shall come again,
and he shall dwell among you
all the days of your life.
And the Tree that was withered shall be renewed,
and he shall plant it in the high places,
and the City shall be blessed.
Sing all ye people.

Tolkien bedient sich hier einer eindeutig an der Bibel orientierten Sprache und Symbolik, und er tut dies selbstverständlich nicht ohne Grund. Aragorn ist eine quasi messianische Gestalt – der von Gott gesandte König. Bezeichnenderweise findet er den Schößling des Weißen Baumes, das lebendige Symbol seiner Herrschaft, an einer alten Weihestätte oberhalb von Minas Tirith, "wo nur die Könige hinzugehen pflegten" (1), um – so dürfen wir wohl annehmen – wie ihre Vorfahren auf dem Meneltarma in Númenor dem einen wahren Gott zu huldigen.

Um die außergewöhnliche Bedeutung von Aragorns Thronbesteigung zu verstehen, ist es nötig, sich klarzumachen, dass Gondor nicht einfach ein Königreich unter vielen in Mittelerde ist. Wie die Akkalabêth ganz unmissverständlich erklärt, waren die númenórischen Könige Herrscher von Gottes Gnaden. Es waren die Valar gewesen, die Elros Tar-Minyatur "zum ersten König der Dúnedain" (2) ernannt hatten. Für lange Zeit hatte das Inselreich in direktem Kontakt zum Irdischen Paradies gestanden, von wo die Schiffe der Elben über das Meer zu ihm gekommen waren. Die vielleicht wichtigste Aufgabe der Könige hatte in ihrer Rolle als Mittler zwischen Gott und dem Volk bestanden, der sie in alljährlichen Zeremonien an der Weihestätte auf dem Berg Meneltarma nachgekommen waren: "[D]reimal in jedem Jahr sprach der König: In den ersten Tagen des Frühlings, am Erukyerne [‘Gebet an Eru’], betete er für das kommende Jahr, am Erulaitale [‘Lob Erus’] im Mittsommer sprach er ein Lobgebet für Eru Ilúvatar, und am Ende des Herbstes, am Eruhantale [‘Danksagung an Eru’], richtete er ein Dankgebet an ihn. An diesen Tagen bestieg der König zu Fuß den Berg, gefolgt von einer großen Menschenmenge, weiß gekleidet und bekränzt, doch schweigend." (3) Darin hatte der König von Númenor ganz dem des frühen Mittelalters geglichen. Wie dieser war auch er ein Herrscher, "dessen Autorität aus dem Überirdischen erwuchs und dessen Dienst in erster Linie in der Versöhnung beider Welten, der sichtbaren und der unsichtbaren, bestand, in der kosmischen Harmonie zwischen Himmel und Erde, wie es in den laudes regiae feierlich besungen wurde." (4) Mit dem Untergang Númenors und der Gründung der "Reiche in der Verbannung" (5) war diese besondere gottgegebene Würde auf Arnor und Gondor übergegangen. Man könnte in Anlehnung an die mittelalterliche Reichsideologie von einer translatio imperii [‘Übertragung der Herrschaft’] sprechen. Diese Kontinuität findet sich verkörpert im Weißen Baum von Minas Tirith der "aus dem Samen Nimloths des Schönen entsprossen [war], der in den Königsgärten von Armenelos in Númenor stand, bis ihn Sauron verbrannte; Nimloth wieder stammte von dem Baum von Tirion ab, und der war ein Abbild des Ältesten Baumes, Telperions des Weißen, den Yavanna im Lande der Valar hatte wachsen lassen." (6) In Übereinstimmung mit Tolkiens pessimistischer Geschichtsauffassung war die "Wissenschaft und Kunst" Arnors und Gondors zwar "nur ein Nachhall dessen [...], was einst gewesen, ehe Sauron nach Númenor kam" (7), aber inmitten der Finsternis Mittelerdes bildeten die beiden Reiche doch (neben den Refugien der Elben) die letzte Bastion des Wissens um die Altvorderenzeit und den wahren Gott. All jene Elemente der Kultur Gondors, die nur wenig zum feudalen Charakter des Reiches zu passen scheinen, erklären sich aus seiner Rolle als Bewahrer des númenórischen Erbes. Denn das Inselreich müssen wir uns tatsächlich mehr nach dem Vorbild des alten Ägypten oder (oh Wunder!) des platonischen Atlantis vorstellen. Und so wecken z.B. die Kolossalstatuen von Argonath eher Assoziationen zu den riesigen Standbildern Ramses II. in Abu Simbel, als zu irgendetwas, was das mittelalterliche Europa hervorgebracht hätte. Zur Frodos Zeiten waren dies allerdings nur noch Relikte einer fernen, beinahe schon mythischen Vergangenheit, die "schweigenden Hüter eines längst verschwundenen Königreichs" (8), vergleichbar etwa dem Kolosseum oder dem Pantheon im mittelalterlichen Rom. Wie die Könige Númenors waren auch Elendil und seine Erben sakrale Gestalten, "Priesterkönige". (9) Das zeigt nicht nur die Szene mit Weihestätte und weißem Baum, sondern auch das Motiv der ‘heilenden Hände’ – "Life to the dying/ In the king’s hand lying!" –, das Tolkien direkt aus der christlichen Herrscherideologie des Mittelalters entlehnt hat. Um 1040 schrieb Helgaud von Saint-Benoît-sur-Loire über König Robert von Frankreich: "Gottes Macht [...] verlieh diesem vollendeten Mann eine solche Gabe zur Heilung des Körpers, daß er die Kranken von allem Übel erlöste, sobald er den Ort ihres Leidens unter dem Zeichen des Kreuzes mit seiner frommen Hand berührte." (10) Ein Aberglaube, der sich noch bis weit in die Neuzeit erhielt. Nun mögen Aragorns Kräfte nicht ganz so beeindruckend sein – immerhin benötigt er zu ihrer Anwendung das Heilkraut Athelas –, aber die Ähnlichkeit ist doch mehr als offensichtlich und wohl kaum unbeabsichtigt.

Da das Nördliche Königreich zur Zeit, in der der Herr der Ringe spielt, bereits seit über tausend Jahren untergegangen ist, kommt Gondor eine einzigartige Bedeutung für das Schicksal Ardas zu. Neben den Elben, einem schwindenden Volk, sind die Dúnedain die einzigen Verteidiger des Glaubens an den wahren Gott gegen eine Welt des Heidentums mit dem satanischen Gottkönig Sauron an ihrer Spitze. Reichsgeschichte ist deshalb immer auch Heilsgeschichte. Unter diesem Blickwinkel ist der allmähliche Niedergang Gondors im Verlaufe des 3. Zeitalters zu betrachten, der der Rückkehr des Königs vorangeht.

Dieser äußert sich auf vielgestaltige Weise. Da wäre natürlich zunächst einmal der simple Verlust von Macht und Territorien unter dem beständigen Druck feindseliger Völker und Reiche im Osten und Süden. Doch dies ist nur ein äußerliches Symptom. Hinzu kommt ein innerer Verfall. Mehrfach wird auf den ‘biologischen’ Niedergang der Dúnedain-Aristokratie hingewiesen: "[D]urch die flüchtigen Jahre von Mittelerde ermüdet, vefiel Gondor, und die Linie von Menedil, Anárions Sohn, erlosch. Denn das Blut der Númenórer vermischte sich vielfach mit dem anderer Menschen, und ihre Macht und Weisheit schwanden, sie wurden kurzlebiger, und die Wache gegen Mordor wurde nachlässig." (11) Auch wenn man versucht sein könnte, bei diesen Worten an die reaktionären Schreckensvisionen von Sozialdarwinisten und Rassisten zu denken, sollte man Tolkien denk ich zugutehalten, dass in der mittelalterlichen Weltsicht die virtus der Adelsgeschlechter, ihre ‘Tatkraft’ und ‘Tugend’, gleichfalls von der Reinheit ihres ‘Blutes’ abhängig war. Und bezeichnenderweise entspringt das ‘erste große Unheil’, das über Gondor kommt – der Bürgerkrieg des Sippenstreits –, gerade dem ‘rassischen’ Hochmut der Dúnedain, die die Ehe ihres Königs Valacar mit Vidumavi, der Tochter eines Fürsten der Nordmenschen, als Schmach und Bedrohung empfinden: "Denn die edlen Menschen von Gondor sahen schon scheel auf die Nordmenschen unter ihnen; und bisher hatte es das noch nicht gegeben, daß der Erbe der Krone oder irgendein Sohn des Königs eine Frau aus einem geringeren und fremden Geschlecht heiratete.[... Die] Königin war eine schöne und edle Frau gewesen, aber kurzlebig, wie es das Schicksal geringerer Menschen war, und die Dúnedain fürchteten, daß es mit ihren Nachkommen genauso sein könnte und sie die Hoheit der Könige der Menschen mindern würden." (12)  Eigentlich ein eklatanter Widerspruch in Tolkiens Werk, werden die Dúnedain doch einerseits für ihre ‘rassische’ Arroganz getadelt, ihre Befürchtungen hinsichtlich der Folgen einer ‘Verunreinigung’ ihres ‘Blutes’ andererseits bestätigt. Eine wirklich befriedigende Auflösung lässt sich nirgends finden. Tolkien beschreibt eine Welt, in der es eine auf dem ‘Blut’ basierende Aristokratie tatsächlich gibt, doch zugleich schätzte er keinesfalls den Standesdünkel und die Verachtung für die ‘Gemeinen’, welche einer solchen Adelskaste naturgemäß eigen sind. Sein Ideal ähnelte in dieser Hinsicht vermutlich dem paternalistischen Kolonialismus, wie ihn die Númenórer vor ihrer Hinwendung zum Bösen betrieben hatten. (13)
Unter heilsgeschichtlicher Perspektive betrachtet ist die abnehmende Lebensdauer der Dúnedain jedoch ohnehin von völlig anderer Bedeutung. Sie ist Anzeichen dafür, dass sich in Gondor wiederholt, was in Númenor schon einmal zur Katastrophe geführt hat, wie es der klarsichtige Faramir ganz richtig erkannt hat: "Der Tod war allgegenwärtig, weil die Númenórer immer noch, wie sie es auch im alten Königreich getan und es deshalb verloren hatten, nach einem sich niemals ändernden Leben trachteten. Die Könige ließen Grabmäler bauen, die prächtiger waren als die Häuser der Lebenden, und schätzten alte Namen ihres Stammbaumes höher ein als die Namen der Söhne. Kinderlose Fürsten saßen in altersgrauen Hallen und grübelten über Ahnenkunde. In geheimen Kammern mischten verwelkte Greise starke Zaubertränke oder befragten auf hohen, kalten Türmen die Sterne. Und der letzte König von Anarions Stamm hatte keinen Erben." (14) Dieser Wunsch, dem Tod entgehen zu können, ist der erste und entscheidende Schritt in der Abwendung von Gott, eine Art zweiter Sündenfall. Nun ist die Entwicklung in Gondor zwar noch nicht so weit gediehen, dass die Dúnedain sich wie ihre Vorfahren dem Satanskult zuwenden würden. Aber in der Person Denethors zeigt sich doch sehr deutlich, wie weit das Reich bereits vom ‘rechten Weg’ abgekommen ist. Und der Umstand, dass "durch irgendeinen Zufall [...] das Blut von Westernis fast unverfälscht in seinen Adern" (15) rinnt, belegt, dass es dabei letztenendes eben nicht auf die ‘biologische Reinheit’ ankommt. Entscheidend ist vielmehr, dass der Truchsess die besondere Rolle, die Gondor im Weltendrama zukommt, nicht mehr erkennt. Für ihn ist die Auseinandersetzung mit Mordor und seinen Vasallen lediglich ein politischer Konflikt, ein "Zweikampf zwischen dem Herrn des Weißen Turms und dem Herrn von Barad-dûr" (16) – ein Kampf um die Macht, nicht um die Wahrheit. In Sauron sieht er nicht länger den satanischen Widersacher, der sich die Rolle eines irdischen Gottes anmaßt, sondern einen politischen und militärischen Konkurrenten. Blind für den wirklichen Inhalt des Ringkriegs – "Gott und Sein alleiniges Anrecht auf göttliche Ehre" (17) – geht es ihm letzlich nur noch um die Verteidigung seiner eigenen Herrschaft und der seiner Sippe. Doch da, wo es einzig um Machterhalt geht, ist der erste Schritt zum offenen Despotismus bereits getan. Und so erweist sich Denethor nicht nur im Umgang mit seinen Ratgebern und Vasallen als selbstherrlich, er misstraut auch allen, "die Sauron Widerstand leisteten, sofern sie nicht ihm allein dienten". (18)  In Gandalf sieht er bloß einen geschickten Intriganten, dessen Ziel darin bestehe "an meiner Statt zu herrschen" und "hinter jedem Thron zu stehen, im Norden, Süden oder Westen." Aragorn ist für ihn nicht der ersehnte Messiaskönig, sondern ein von Gandalf geschickt ins Spiel gebrachter Thronräuber. Unmittelbar vor seinem Tod erklärt er: "Ich bin Truchseß aus dem Hause Anárions. Ich will mich nicht erniedrigen und der schwachsinnige Kämmerer eines Emporkömmlings sein. Selbst wenn mir sein Anspruch bewiesen würde, so stammt er dennoch nur aus Isildurs Geschlecht. Ich will mich nicht einem solchen beugen, dem letzten aus einem zerlumpten Hause, seit langem der Herrschaft und Würde beraubt." Dass wir hier nicht bloß einen verbitterten alten Tyrannen vor uns haben, sondern einen Herrscher, der an seiner eigenen Gottverlorenheit zugrunde geht, zeigt sich vor allem darin, dass er in der materiellen Macht von Schwert und Speer den alles entscheidenden Faktor im Kampf zwischen Mordor und Gondor sieht. Dieser Glaube führt zu seinem ebenso tragischen wie sündigen Untergang. Frodos Versuch, den Ring zum Schicksalsberg zu bringen und zu zerstören, ist in seinen Augen offensichtlicher Irrsinn. Gandalf hingegen vertraut der göttlichen Vorsehung. Andernfalls müsste er wie Denethor der Verzweifelung anheimfallen, denn was dieser im Palantír erblickt hat, ist ja kein bloßes Trugbild des Dunklen Herrschers: "[G[egen die Macht, die sich jetzt erhebt, gibt es keinen Sieg. Gegen diese Stadt ist nur der erste Finger seiner Hand ausgestreckt worden. Der ganze Osten ist in Bewegung." Die militärische Überlegenheit Saurons vor Augen, an der auch der Sieg auf den Pelennor-Feldern und der Fall des Hexenkönigs nichts ändern können, wählt der in Wahnsinn versinkende Truchsess den Selbstmord, wobei er seinen schwer verletzten Sohn Faramir mit in den Tod zu nehmen gedenkt. Gandalf – hier ganz religiöse Autoritätsperson – versucht ihn aufzuhalten: "Ihr seid nicht befugt, Truchseß von Gondor, die Stunde Eures Todes zu bestimmen [...] Und nur die götzendienerischen Könige unter der Herrschaft der Dunklen Macht verfuhren so, töteten sich selbst in Stolz und Verzweifelung, ermordeten ihre Sippe, um ihren eigenen Tod zu erleichtern". (19) Das Wort ‘pagan’ (‘götzendienerisch’, ‘heidnisch’) ist eines der ganz seltenen Beispiele für die Verwendung eines eindeutig religiös-christlich konnotierten Begriffes im Herr der Ringe. Und wieder einmal unterstreicht ein kleines Detail, um was es eigentlich geht. Gondors Niedergang, Denethors Hochmut und Verzweifelung, sein sündiges Ende – all dies darf nicht isoliert betrachtet, sondern muss als ein unauflöslicher Motivkomplex verstanden werden.

XII

Stände die Figur des tyrannischen Denethor für sich allein, wäre ihre Charakterisierung sozusagen Tolkiens letztes Wort über die Alleinherrschaft, so ließe sie sich als eine Kritik an der Monarchie interpretieren, ohne dass dazu eine im Rahmen der Erzählung völlig unglaubwürdige ‘demokratische’ Alternative beschrieben werden müsste. Doch dies ist nicht der Fall. Auf Denethor folgt Aragorn, auf den drohenden Despotismus die Herrschaft des guten Königs. Ist mit dem Selbstmord des Truchsessen der gottfernste Punkt in der Entwicklung Gondors erreicht, so leitet Elessars Krönung die Wende ein. (20) Die Szene an der alten Weihestätte auf dem Mindolluin ist dafür das klarste Zeichen, und dort ist es auch, wo Gandalf – der ja kein Mensch, sondern ein Abgesandter der Valar und damit letztlich Gottes ist – die Aufgabe des zurückgekehrten Königs beschreibt: "Das Dritte Zeitalter der Welt ist zu Ende, das neue Zeitalter hat begonnen; und es ist deine Aufgabe, seinen Beginn zu ordnen, und das zu bewahren, was bewahrt werden kann." (21)
Neben dem falschen, auf Veränderung ausgerichteten Ordnungsstreben Sarumans und Saurons gibt es also auch das gute, gottgefällige, konservativ-bewahrende Ordnungsamt des Königs. Dieses findet im Wiedervereinigten Königreich, dem sich in den folgenden Jahrzehnten die Völker des Ostens und Südens mehr oder weniger freiwillig unterordnen werden, seinen vollkommenen Ausdruck. Mit Aragorn hat das Reich zu seiner ursprünglichen Bestimmung als Erbwalter Númenors zurückgefunden, was sich bereits im Augenblick seiner Krönung deutlich offenbart: "Doch als Aragorn aufstand, starrten ihn alle, die ihn sahen, stumm an, denn es schien, daß sie ihn jetzt zum ersten Mal erblickten. Groß wie die See-Könige von einst, überragte er alle, die um ihn standen. Hochbetagt erschien er, und doch in der Blüte der Manneskraft; und Weisheit lag auf seiner Stirn, und Kraft und Heilung waren in seinen Händen, und ein Licht war um ihn." (22)

Selbst Weinreich scheint das Pathos hier etwas unheimlich zu werden, und so schreibt er, dass "Aragorn [...] spätestens im Rahmen der Krönungszeremonie in Die Rückkehr des Königs von Tolkien kitschig überhöht" werde.
Allerdings halte ich diese Beurteilung bei näherer Betrachtung für ziemlich unfair. Da er das weltanschaulich Fragwürdige in Tolkiens Darstellung des wiedergekehrten Königs auf Teufel komm raus nicht erkennen will, begibt sich Weinreich auf das sehr viel ungefährlichere Terrain des Stilistischen. Natürlich steht es jedem frei, Tolkiens archaisierende Sprache und sein Pathos ungelenk oder sogar peinlich zu finden, dann aber darf man sich nicht auf die Krönungsszene beschränken. Der ‘hohe Stil’ dominiert schließlich den ganzen ‘heroischen’ Handlungsstrang des Herr der Ringe, von dem die ‘Saga von Aragorn, Arathorns Sohn’ nur ein Teil ist. Worin unterscheiden sich die oben zitierten Sätze von Passagen wie etwa dem letzten Ausfall Théodens an der Hornburg – "Weiß wie der Schnee war sein Pferd, golden sein Schild und lang sein Speer. Zu seiner Rechten ritt Aragorn, Elendils Erbe, und hinter ihm die Ritter des Hauses von Eorl dem Jungen. Licht wurde der Himmel. Die Nacht verging."(23) – oder den Hörnern der Rohirrim zu Beginn der Schlacht auf den Pelennor-Feldern – "Damit nahm er [Théoden] ein großes Horn von Guthláf, seinem Bannerträger, und er blies so schmetternd, daß es zerbarst. Und sogleich erschallten alle Hörner des Heeres wie in einem einzigen Wohllaut, und das Blasen der Hörner von Rohan in jener Stunde war wie ein Sturm über der Ebene und wie ein Donner im Gebirge"? (24) Natürlich sind die ‘heroischen’ Figuren überlebensgroß gezeichnet, sonst wären sie nicht länger ‘heroisch’. Aber wie stets benutzt Tolkien auch in Bezug auf den im wahrsten Sinne des Wortes krönenden Abschluss der ‘heroischen’ Erzählung die Hobbits und ihre Sicht der Dinge, um das Pathos aufzubrechen. Betrachten wir uns nur einmal die Szene auf dem Feld von Cormallen, wenn Frodo und Sam nach ihrer Rettung vom Schicksalsberg vor die Heerführer des Westens geführt werden: "[M]it vor Staunen glänzenden Augen gingen Frodo und Sam weiter und sahen, daß inmitten des lärmenden Heers drei Hochsitze aus grünen Rasensoden aufgebaut waren. Hinter dem Sitz zu Rechten schwebte Weiß auf Grün ein großes Pferd, das frei lief; auf der Linken war ein Banner, Silber auf Blau, ein Schiff, den Bug in Gestalt eines Schwans, zur See fahrend; aber hinter dem höchsten Thron in der Mitte von allen entfaltete sich in der Brise eine große Standarte, und dort blühte ein weißer Baum auf einem schwarzen Feld unter einer schimmernden Krone und sieben glitzernden Sternen. Auf dem Thron saß ein Mann im Panzerhemd, ein großes Schwert lag auf seinen Knien, aber er trug keinen Helm. Als sie näherkamen, stand er auf. Und da erkannten sie ihn, so verändert er auch war, mit einem so edlen und frohen Gesicht, königlich, Herr der Menschen, dunkelhaarig und die Augen grau." Das Bild wirkt leblos und gravitätisch wie die Miniatur aus einem mittelalterlichen Codex. Doch was folgt zerstört augenblicklich die weihevolle Atmosphäre "Frodo rannte ihm entgegen, und Sam kam hinterdrein. ‘Na, wenn das nicht allem die Krone aufsetzt!’ sagte er. ‘Streicher, oder ich schlafe immer noch!’‘Ja, Sam, Streicher’, sagte Aragorn. ‘Es ist ein weiter Weg, nicht wahr, von Bree, wo du mich nicht leiden konntest?’" (25) Man beachte die Ironie in der Wortwahl: ‘Wenn das nicht allem die Krone aufsetzt!’ (‘If that isn’t the crown of all!’). Von Sams Seite her ist das natürlich unbeabsichtigt, aber nicht unbedingt auch von der des Autors. Wie schon der Heldenkönig Théoden wird auch der majestätische Elessar durch die ebenso schlichte wie menschliche Sichtweise der Hobbits aus der Sphäre epischer Überhöhung auf die Erde zurückgeholt. Nicht nur erscheint er selbst dadurch humaner, zugleich wird auch eine gewisse Distanz zwischen der Leserin oder dem Leser und der pathetischen Schilderung des Königtums geschaffen.
Doch auch wenn dieser Kunstgriff meiner Meinung nach Weinreichs Vorwurf des Kitsches entkräftet, ändert er leider nichts an dem sehr viel gravierenderen Problem, dass der König trotz allem als eine Art Heilsbringer dargestellt wird, der ‘altes Recht’ und ‘alte Sitte’ wieder aufrichtet, der wahren Religion neues Leben verleiht –  "Es ist anzunehmen, daß mit der wiedererstandenen Linie der Priesterkönige [...] die Verehrung Gottes erneuert wurde und daß Sein Name (oder Titel) nun wieder öfter zu hören war." (26) und das Reich auf die ihm heilsgeschichtlich zugedachte Position zurückführt. Und dieses Bild ist eben nicht allein auf Vorbilder aus der mittelalterlichen Literatur, sondern ebenso auf bestimmte weltanschauliche Positionen Tolkiens zurückzuführen. Ganz ohne Zweifel verkörpert die Herrschaft Elessars eine Reihe seiner gesellschaftlichen und ‘politischen’ Ideale: Eine starke persönliche Autorität, göttliche Begnadung, die Wiederherstellung der überkommenen Ordnung und damit verbunden der religiösen ‘Wahrheit’.

Aragorns Aufgabe ist es, "zu bewahren, was bewahrt werden kann." Mit der Abfahrt der Hochelbenfürsten von den Grauen Anfurten verlassen all jene Mittelerde, die die Ereignisse der Altvorderenzeit noch selbst miterlebt haben. Das lebendige Band ist zerschnitten, was bleibt sind Überlieferungen. Sie – und damit Bruchstücke einer höheren Kultur, wahrer Schönheit und des Wissens um den Einen Gott – zu behüten und weiterzugeben, ist die ‘heilige’ Mission des Reiches. Denn trotz Saurons Sturz ist Mittelerde auf längere Sicht hin eine dunkler werdende Welt. Auch weiterhin werden dem König des ‘Westens’ dabei die heidnischen Völker des Ostens und Südens gegenüberstehen, denen zwar ihr teuflischer Gottkönig abhanden gekommen ist, die aber durch Jahrtausende der ‘Unwissenheit’ und des Götzendienstes geprägt worden sind. Und in dieser Hinsicht finden sich tatsächlich erstaunliche Parallelen zwischen Tolkiens Mythologie und seiner Sicht der realen Welt.

Fortsetzung folgt ...


ß à


(1) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 280.
(2) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 287.
(3) J.R.R. Tolkien: Eine Beschreibung der Insel Númenor. In: Ders.: Nachrichten aus Mittelerde. S. 226.
(4) Georges Duby: Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980-1420. S. 27.
(5) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Anhänge. S. 18.
(6) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 320.
(7) Ebd. S. 308.
(8) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 473.
(9) Brief an Robert Murray, S.J. (Entwurf) [4. November 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 156. S. 273.
(10) Zit. nach: Georges Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 34.

(11) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 325.
(12) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Anhänge. S. 29.
(13) "Und bisweilen kamen die Dúnedain an die Ufer der Großen Lande, und sie erbarmten sich der verlassenen Welt von Mittelerde. In den Dunklen Jahren der Menschen setzten die Herren von Númenor wieder den Fuß auf die westlichen Ufer, und noch wagte keiner ihnen zu widerstehen. Denn die meisten Menschen jenes Zeitalters unter dem Schatten waren nun schwach und furchtsam geworden. Vieles lehrten sie die Númenórer, als sie zu ihnen kamen. Den Weizen und den Wein brachten sie mit, und sie unterwiesen die Menschen, wie die Saat auszusäen und das Korn zu mahlen, wie das Holz zu schnitzen und der Stein zu meißeln sei, und wie sich das Leben ordnen lasse, so gut es ging in den Ländern frühen Tods und dürftigen Glücks. Da waren die Menschen von Mittelerde gestärkt, und hier und da an den westlichen Küsten wichen die hauslosen Wälder zurück, und Menschen schüttelten das Joch von Morgoths Sprößlingen ab und verlernten die Angst vor dem Dunkel. Und sie hielten das Andenken der hochgewachsenen Seekönige in Ehren und nannten sie Götter, nachdem sie wieder abgefahren und hofften auf ihre Rückkehr". (J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 289f.)
(14) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. II. S. 328.
(15) Ebd. Bd. III. S. 30.
(16) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Anhänge. S. 40.
(17) Anmerkung zu W.H. Audens Besprechung des Return of the King. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 183. S. 320.
(18) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Anhänge. S. 40.
(19) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 143; 143; 142.
(20) Da der Umgang mit der eigenen Sterblichkeit der Prüfstein des Charakters von Völkern und Individuen ist, bildet die würdevolle und versöhnte Haltung, in der Aragorn dem Tod gegenübertritt, den Gegenpunkt zum verzweifelten Selbstmord des Truchsessen. In ihr offenbart sich das ganze Wesen des Königs: "[Z]uletzt spürte er das Herannahen des Alters und wußte, daß die Spanne seines Lebens ihrem Ende zuging, so lang es auch gewesen war. Da sagte Aragorn zu Arwen: ‘Nun, Frau Abendstern, Schönste in der Welt und Geliebteste, vergeht meine Welt. Sehet! Wir haben eingenommen und wir haben ausgegeben, und nun nähert sich die Zeit der Bezahlung! [...] Daher will ich jetzt schlafen. Ich spreche Euch keinen Trost zu, denn es gibt keinen Trost für solchen Schmerz in den Kreisen der Welt. [...] In Kummer müssen wir gehen, aber nicht in Verzweiflung. Schaut! Wir sind nicht für immer an die Kreise der Welt gebunden, und jenseits von ihnen ist mehr als nur Erinnerung. Lebt wohl!’ ‘Estel, Estel!’ rief sie, und als sie eben seine Hand nahm und sie küßte, fiel er in Schlaf. Da wurde eine große Schönheit in ihm offenbar, so daß alle, die nachher kamen, ihn voll Staunen anblickten; denn sie sahen, daß die Anmut der Jugend und die Kraft seiner Mannesjahre und die Weisheit und königliche Würde seines Alters miteinander verschmolzen waren." (J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Anhänge. S. 48.)
(21) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 281.
(22) Ebd. Bd. III. S. 277.
(23) Ebd. Bd. II. S. 164.
(24) Ebd. Bd. III. S. 124.
(25) Ebd. Bd. III. S. 260f.
(26) Brief an Robert Murray, S.J. (Entwurf) [4. November 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 156. S. 273.

Donnerstag, 26. Juli 2012

"It's a queer business"

Meine bisherigen Abstecher in die Welt des britischen Horrorfilms beschränkten sich ja ausschließlich auf Produktionen von Amicus. Ich denke, es ist nun an der Zeit, dass wir uns endlich auch einmal Hammer, der eigentlichen Geburtsstätte des Brit-Horrors, zuwenden.*

Im Unterschied zu seinem jüngeren Konkurrenten konzentrierte man sich dort vornehmlich auf die Wiederbelebung der klassischen Figuren aus der goldenen Universal-Ära der 30er und 40er Jahre: Graf Dracula, Frankenstein & sein Monster, die Mumie, das Phantom der Oper, Dr. Jekyll & Mister Hyde usw. Einige wie Dracula und Frankenstein beglückte man über die 60er Jahre mit einer nicht enden wollenden Reihe von Sequels. Erst Anfang der 70er nahm man sich dann mit Le Fanus Carmilla eines klassischen Stoffes an, der aufgrund seines für damalige Verhältnisse heiklen Themas (die lesbische Vampirin) bisher noch nie verfilmt worden war. Daneben versuchte man auch altbekannten Geschichten einen neuen Dreh zu verleihen. In beiden Fällen diente ein Bisschen nacktes Fleisch als zusätzlicher Publikumsköder.  Das bekannteste Beispiel für die letztere Masche dürfte Roy Ward Bakers Dr. Jekyll and Sister Hyde aus dem Jahre 1971 sein.

Keine Angst, der Film besitzt keinerlei Ähnlichkeit mit David Price' misogynem Mist Dr. Jekyll and Ms. Hyde. Allerdings bleibt die Idee, dem bösen zweiten Ich des Doktors die Gestalt einer Frau zu verleihen, so oder so reichlich abstrus, wie bereits der Trailer zu Bakers Streifen zeigt:


Und dennoch ist dies ein recht neckischer Hammer-Film, dessen Kultstatus mir zwar nicht ganz verständlich ist, den anzuschauen jedoch keinen verschwendeten Abend bedeutet. Verantwortlich dafür sind nicht nur Bakers erfahrene Regie, an der wir uns ja bereits bei The Vault of Horror erfreuen durften, sowie die hübsch düstere Atmosphäre eines nebligen viktorianischen London, sondern vor allem die hervorragenden schauspielerischen Leistungen praktisch aller Beteiligten.

Mit Robert Louis Stevensons Geschichte hat das Ganze freilich nur noch wenig zu tun. Jekylls Ziel ist es nicht, das Böse und das Gute im Menschen voneinander zu trennen, sondern eine Art Unsterblichkeitsserum zu entwickeln. Den Grundstoff hierfür glaubt er in den weiblichen Hormonen gefunden zu haben. Dabei stellen sich sehr schnell zwei Probleme ein. Zum einen braucht er immer mehr Leichen junger Frauen zur Rohstoffgewinnung, zum anderen verlängert das Serum nicht bloß die Lebenserwartung, sondern verändert für eine gewisse Zeit auch das Geschlecht eines männlichen Probanten. Wie jeder ordentliche verrückte Wissenschaftler unternimmt natürlich auch der gute Doktor Selbstversuche, was zur 'Geburt' von Edwina Hyde führt, die er bei Nachbarn und Freunden im Nachhinein als seine Schwester einführt. Im Unterschied zu Stevensons Mr. Hyde ist sie kein brutales, triebgesteuertes Ungeheuer. Gleichen tun sich die beiden allerdings insofern, als auch Edwina schon bald die alleinige Kontrolle über Jekyll/Hyde zu gewinnen versucht. Das eigentliche Problem stellt jedoch vorerst der nötige Nachschub an toten Frauen dar, den das örtliche Leichenschauhaus schon bald nicht mehr zu liefern vermag. Fürs erste wendet sich Jekyll dafür an Burke und Hare, zwei berüchtigte historische Mörder und Leichenräuber, deren Treiben der Film vom Edinburgh der 1820er Jahre ins spätviktorianische London verlegt hat. Als dann allerdings Burke von der Bevölkerung von Whitechapel gelyncht und Hare geblendet wird, sieht sich der gute Doktor gezwungen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und beginnt, junge Prostituierte zu ermorden und auszuweiden. Kurz gesagt: Er wird Jack the Ripper! Jaaa, dieser Film ist schon recht bizarr ... Um den Verdacht seines Freundes Professor Roberston von sich abzulenken, lässt Jekyll die Morde schließlich von 'Sister Hyde' verüben. Die hat dabei keine Skrupel (schließlich geht es um ihre fortgesetzte Existenz), sondern schickt kurzerhand auch den Professor in die Ewigen Jagdgründe. Wie jede Jekyll & Hyde - Geschichte kulminiert auch diese am Ende in einem Kampf zwischen den beiden Persönlichkeitshälften und im Tod des Protagonisten.

Wie gesagt sind es vor allem die Schauspielerinnen und Schauspieler, die diesen Film zu einer amüsanten Unterhaltung machen. Als Führungsquintett hätten wir da Ralph Bates, der nach The Horror of Frankenstein einmal mehr den fanatischen und gequälten Wissenschaftler spielt; Martine Beswick (wohl am bekanntesten aus From Russia with Love und dem 'Caveman'-Flick One Million Years B.C.) als eiskalte, verführerische und wunderbar bösartige Edwina Hyde; Susan Brodrick, die in Countess Dracula die Kammerzofe der blutsaugenden Ingrid Pitt gespielt hatte, gibt Jekylls naive und fürchterlich 'unschuldige' Nachbarin Susan, die sich natürlich unsterblich in den guten Doktor verliebt; Lewis Fiander, Veteran zahlreicher TV-Serien der 60er, brilliert als deren reichlich widerlicher Bruder Howard; und der erfahrene Gerald Sim schließlich gibt Professor Roberston als einen schleimigen, eingebildeten Widerling, was so gar nicht zu dessen 'offizieller' Rolle als 'Streiter wider das Böse' passen will.

Mit der Verwandlung von Hyde in eine Frau nimmt sich der Film allerdings von vornherein die Möglichkeit, das eigentliche Thema von Stevensons Erzählung aufzugreifen. 'Sister Hyde' kann nicht für Jekylls von einer repressiven und heuchlerischen Moral unterdrückten Triebe stehen. Sie eröffnet ihm nicht die Möglichkeit, all jene Begierden auszuleben, die er sich als viktorinanischer Gentleman versagen muss. Es sei denn, wir würden annehmen, der gute Doktor setze mit seiner Wunderdroge eine unterdrückte Transsexualität frei. Und tatsächlich gibt es einige Szenen, die einer solchen Interpretation entgegenkommen würden, so etwa, wenn die 'weibliche' Hyde-Persönlichkeit kurzzeitig auch im männlichen Körper die Oberhand gewinnt und Jekyll sich entsprechend verhält und von sich selbst als Edwina spricht. Natürlich ließe sich dieses Element einfach als Beispiel für die von Hammer zu Beginn der 70er Jahre verfolgte Strategie verstehen, ihre Filme ein bisschen 'anrüchig' und 'sexy' zu machen, um auf diese Weise den zurückgehenden Umsatz an den Kinokassen neu zu beleben. Aber ist diese zynische Erklärung zwingend? Könnte sich daneben nicht vielleicht doch etwas mehr hinter all dem verbergen? Ich bin mir nicht sicher, auf jedenfall ist das Motiv wenn überhaupt nur angedeutet, nicht ernsthaft ausgearbeitet worden. Und so verhält es sich im Grunde mit allen ernsthafteren Ideen, die hie und da in Doctor Jekyll and Sister Hyde aufscheinen.

Naheliegenderweise spielen Genderverhältnisse eine wichtige Rolle. Es dürfte wohl kaum ein Zufall sein, dass praktisch alle männlichen Figuren extrem unsympathisch gezeichnet sind, insbesondere was ihr Verhalten gegenüber Frauen betrifft. So unternimmt Professor Roberston wie für einen Gentleman der Zeit nicht unüblich offenbar regelmäßig Abstecher in die Bordelle von Whitechapel. Daneben hat man den Eindruck, dass ihm beim Anblick jeder hübschen Frau – ganz gleich, ob es sich dabei um die tugendhafte Susan oder um die verruchte Edwina handelt – der Speichel aus den Mundwinkeln zu fließen beginnt. Nicht viel besser benimmt sich Susans Bruder Howard, dem es zudem großen Spaß zu bereiten scheint, seine Schwester abwechselnd zu verspotten und zu bevormunden. Am gruseligsten aber wirkt in dieser Hinsicht der von Philip Madoc ganz wunderbar gespielte Byker, der im Leichenschauhaus arbeitet, und auf den weibliche Leichen ganz offenbar eine erotische Anziehung ausüben. Wenn hier also scheinbar alle Männer in Frauen ausschließlich 'Beute' sehen, so erscheint Jekylls mörderisches Treiben als Jack the Ripper im Grunde nurmehr als eine Extremform dieses 'ganz norrmalen' Verhaltens, und man beginnt sich zu fragen, ob Edwina nicht eigentlich die sympathischere der beiden ist? Sie ist ohne Zweifel skrupellos und manipulativ, aber anders als die übrigen Fauen, lässt sie sich nicht zum Opfer oder zum Spielobjekt machen. Und schließlich ist es Jekyll, nicht sie, der für die meisten Mordtaten verantwortlich ist. Aber letztenendes ist auch dieses Motiv nicht konsequent ausgeführt worden.

Dem ganzen Film haftet etwas irgendwie amorphes und unvollständiges an. Ihm fehlt eine zentrale Idee, um die herum die Handlung hätte angeordnet werden und aus der heraus sie ihre Dynamik hätte beziehen können. Doch der erste Eindruck, Baker habe das Potential seiner Geschichte verschwendet, erweist sich bei genauerem Überlegen als falsch. Es ist die Jekyll & Hyde - Story selbst, die jeder ernstzunehmenderen Beschäftigung mit Genderfragen einen Riegel vorschiebt. Sie ist einfach nicht das geeignete Vehikel hierfür. Und so bleibt Edwina am Ende doch bloß ein etwas absurder Einfall, der dem alten Klassiker zwar eine neue Wendung verpasst, aber keine neuen Möglichkeiten der Interpretation eröffnet. Viel mehr als einen nett unterhaltsamen Filmeabend wird einem Dr. Jekyll and Sister Hyde deshalb nicht bescheren können.     

 
* In der aktuellen Ausgabe des Clarkesworld Magazine befindet sich nebenbei bemerkt ein interessanter Artikel von Mark Cole über den Beitrag, den Hammer im SciFi-Genre geleistet hat. Nicht, dass ich mit allem, was darin gesagt wird, übereinstimmen würde ...

Mittwoch, 25. Juli 2012

"Pala Tute"

Ich habe vor einigen Monaten hier kurz erwähnt, wie ich dank der wunderbaren Catherynne M. Valente die Band Gogol Bordello kennengelernt habe. Und wie ich schon damals vemutete, bin ich zu einem feurigen Fan geworden. Das folgende Video der Truppe sollte aber eigentlich allen Freundinnen & Freunden der Phantastik sympathisch sein, oder?


Still Battling the Powers That Be

Es ist schön, wenn man weiß, dass Ursula K. Le Guin nicht nur nach wie vor unter uns weilt, sondern dass sie mit ihren bald dreiundachtzig Jahren immer noch genauso intelligent und unangepasst, so warmherzig und kämpferisch ist, wie eh und je. John Joseph Adams & David Barr Kirtley haben die große Schriftstellerin, Anarchistin und Feministin für die neueste Episode von Geek's Guide to the Galaxy  interviewt.

Le Guin erzählt von ihren Kämpfen mit Google und dem SciFi - Channel, dessen Verfilmung von Earthsea eine Beleidigung für Autorin wie Fans darstellte; erklärt, wie stolz sie darauf sei, dass einige der Schilde, mit denen sich die Demonstrantinnen & Demonstranten von 'Occupy Oakland' im letzten Herbst gegen die Übergriffe der Polizei verteidigten, dem Cover von The Dispossessed nachempfunden waren; entwirft ein ziemlich pessimistisches Bild des aktuellen Literaturbetriebs, der immer mehr von bloßen Profitinteressen beherrscht werde; kommt auf ihre Bekanntschaft mit  Philip K. Dick zu sprechen, wobei sie auch ihre Kritik an dessen meist sehr eindimensionalen Frauenfiguren erwähnt – eine sehr berechtigte Kritik, der Dick in seinen späten Büchern gerecht zu werden versuchte.

Was mich persönlich aber am meisten fasziniert hat, war zu erfahren, dass Le Guins Erzählung Paradises Lost im Auftrag der Universität von Illinois zu einer Oper verarbeitet wurde. Ohne groß Zeit zu verlieren, habe ich mir sofort die Auszüge aus dem Ersten Akt angehört, die im Januar dieses Jahres vom Third Angle Ensemble unter Leitung des Komponisten Stephen Andrew Taylor und mit einer Einleitung durch die Librettistin Marcia Johnson aufgeführt wurden. Ich kann bloß sagen: Ich wünsche mir sehnlichst, dass von diesem Werk so bald wie möglich eine vollständige Inszenierung – Musik & Schauspiel zugänglich sein wird!

Dienstag, 24. Juli 2012

Ein Hoch auf die Hensons

Es ist schon seit langem kein Geheimnis mehr, dass die 'bibeltreue' US-amerikanische Fastfood-Kette Chick-Fil-A christliche Propagandaorganisationen, die Hass gegen Homosexuelle schüren und aggressive Kampagnen gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe organisieren, mit Millionenbeträgen unterstützt. Offiziell behauptete das Unternehmen natürlich dennoch, nicht 'antihomosexuell' eingestellt zu sein. Doch vor einigen Tagen ließ ihr Chef Dan Cathy dann endlich die Maske auch öffentlich fallen und erklärte sich in Interviews für die Baptist Press und die Ken Coleman Show zu einem kompromisslosen Gegner der 'Homo-Ehe', wobei er sich dem für christliche Fundamentalisten typischen bigotten Pathos bediente:

"I think we are inviting God's judgment on our nation when we shake our fist at him and say, 'We know better than you as to what constitutes a marriage [...] And I pray God's mercy on our generation that has such a prideful, arrogant attitude to think that we have the audacity to define what marriage is about."

Die extrem homophobe National Organization for Marriage (NOM) erklärte ihn daraufhin selbstverständlich sofort zum Helden und kürte den 25. Juli zum 'nationalen Bei-Chick-Fil-A-Essen-Tag':

"Imagine the potential impact of the message that companies favoring the radical redefinition of marriage risk fallout with their customers—combined with the message that heroes who stand for marriage and family cannot be silenced!
Imagine how clearly that message would be heard across the nation if Chick-fil-A reported record sales this Wednesday!
Well, let's not just imagine it—let's make it happen."

Aber es gibt auch andere Reaktionen. Die Jim Henson Company hat erklärt, sie werde in Zukunft keinerlei geschäftliche Beziehungen mehr mit dem Fastfood-Unternehmen unterhalten. Sämtliche Gelder, die ihr von Chick-Fil-A zufließen, würden umgehend an die Gay & Lesbian Alliance Against Defamation (GLAAD) weitergeleitet. Nicht  nur sei CEO Lisa Henson, die Tochter des Muppets-Schöpfers, eine erklärte Befürworterin der gleichgeschlechtlichen Ehe, die christlich-fundamentalistische Bigotterie von Cathy und seinen Gesinnungsgenossen stehe auch im totalen Widerspruch zum Geist des Unternehmens. Man habe "celebrated and embraced diversity and inclusiveness for over fifty years".

Wieder einmal haben die Erben des großen Puppenmeisters damit bewiesen, dass der Name Jim Henson immer für Humanismus, Offenheit und Toleranz stehen wird. Emily Asher-Perrin hat dazu einen sehr schönen Artikel auf Tor veröffentlicht. Ich weiß schon, warum ich Henson und seine Kreationen liebe ...


Donnerstag, 19. Juli 2012

Dr. Dr. Weinreich und die Politik des "Herr der Ringe" (III)

VII

Nachdem wir nun einen ungefähren Eindruck von der Gesellschaft Gondors bekommen haben, dürfte es nicht mehr schwerfallen, die Rolle des Königs zu bestimmen. Er steht nicht nur an ihrer Spitze, in seiner Person finden auch ihre Wertvorstellungen und Ideale die vollkommenste Verkörperung. Und so ist es kaum verwunderlich, dass die Schilderung von Aragorns Herrschaft voller Reminiszenzen an das Herrscherbild des Mittelalters steckt.

Wie bei einem mittelalterlichen König gehen seiner Krönung ‘Wahl’ und Akklamation durch ‘das Volk’ voraus: "Da stand Faramir auf und sprach mit heller Stimme: ‘Menschen von Gondor, hört jetzt den Truchseß dieses Reiches! Sehet! Hier ist Aragorn, Arathorns Sohn, Stammeshaupt der Dúnedain von Arnor, Heerführer des Westens, Träger des Sterns des Nordens und des neu geschmiedeten Schwerts, siegreich in der Schlacht, dessen Hände Heilung bringen, der Elbenstein, Elessar aus dem Hause Valandils, Isildurs Sohn, Elendils Sohn von Númenor. Soll er König sein und die Stadt betreten und hier wohnen?’ Und das ganze Heer und alles Volk rief einstimmig Ja." (1)
Dass diese ‘Wahl’ reine Formsache ist, wird aus der Schilderung deutlich. Und wenn Gandalf, der als Sendbote der Valar ja in gewisser Weise eine geistliche Figur ist, dem niedergeknieten Aragorn die Krone aufs Haupt setzt, fühlt man sich unwillkürlich an die Krönung des Kaisers durch den Papst erinnert.

Als Herrscher entspricht Elessar völlig dem mittelalterlichen Ideal des rex iustus et pacificus – des gerechten und friedenstiftenden Königs.

Seine erste Amtshandlung ist es, öffentlich Recht zu sprechen. In diesem Zusammenhang ist interessant, was Tolkien in einem seiner Briefe über das Königsamt schreibt: "Ein númenórischer König war ein Monarch, mit der Macht der unangefochtenen Entscheidung in einer Debatte; doch regierte er das Reich im Rahmen des alten Rechtes, dessen Wahrer (und Interpret), aber nicht Schöpfer er war. Zu allen strittigen Fragen jedoch, ob inneren oder äußeren, berief sogar Denethor eine Ratsversammlung ein und hörte sich zumindest an, was die Lehnsfürsten und die Kommandanten der Streitkräfte zu sagen hatten. Aragorn stellte den Großen Rat von Gondor wieder her [...]". (2)

Die Vorstellung vom Recht als quasi ewigem und durch das Herkommen geheiligtem Prinzip, das vom Herrscher nur ausgelegt oder ‘wiederhergestellt’, aber nicht verändert oder neu geschaffenen werden darf, entspricht ganz der mittelalterlichen Weltsicht: "Das Recht kann keine Neuschöpfung sein – es existiert von jeher, ebenso wie es die ewige Gerechtigkeit gibt. [...] [Es] wird nicht neu erarbeitet, es wird ‘gesucht’ und ‘gefunden’. Doch das Alter des Rechts ist weniger ein Hinweis auf die Zeit seiner Entstehung, sondern ein Kennzeichen seiner Unanfechtbarkeit und Güte. Altes Recht bedeutet gutes, gerechtes Recht." (3)

Die erneute Einberufung des Großen Rates wiederum verweist einmal mehr auf die feudale Struktur des Reiches. In wichtigen Fragen hat sich der Herrscher zuerst einmal mit seinen mächtigsten Vasallen zu beraten, bevor er eine endgültige Entscheidung fällt. Im Herr der Ringe finden wir dies lediglich angedeutet in der Beratung Aragorns mit Éomer, Imrahil und den übrigen Heerführern vor dem Marsch auf das Schwarze Tor. Einen klareren Beleg dafür sehen wir ex negativo in Denethors Verhalten. Zwar versammelt auch dieser die wichtigsten Vasallen des Reiches um sich, aber er "beherrschte seinen Rat" (‘was master of his council’) (4), d.h. er zwingt ihm seinen Willen auf. Gemäß der feudalen Moral ist dies das Verhalten eines schlechten Herrschers. Was das für Frank Weinreichs Argumentation bedeutet, die ja ganz auf einer Definition des Königtums als Herrschaft "von in ihrer Macht uneingeschränkten Einzelmenschen" basiert, ist wohl offensichtlich. Mit seiner Behauptung, das Reich der Dúnedain sei eine ‘absolute Monarchie’, hat er zwar juristisch gesehen völlig recht, doch in einer Feudalgesellschaft spielen Sitte und Tradition eine kaum zu unterschätzende Rolle, und diese schränken die faktische Macht des Monarchen nicht unbeträchtlich ein. Allerdings kommt dem consilium in Tolkiens Welt zugegebenermaßen kein so hoher Stellenwert zu wie in vielen Werken der mittelalterlichen Literatur.

Soviel zum rex iustus. Und was das pacificus angeht, so darf man diese Tugend nicht so verstehen, als würde der ideale Herrscher keine Kriege führen. Vielmehr geht es dabei um die ‘Befriedung’ und das ‘Ordnen’ der Welt – und das macht man in Mittelerde ebenso wie im mittelalterlichen Europa mit dem Schwert in der Hand. Das glückliche Zeitalter des Königs Elessar, in dem alles "heil und gut gemacht" (5) wird, ist zumindest anfangs eine Ära des Krieges: "Denn obwohl Sauron dahingegangen war, waren der Haß und das Unheil, die er erzeugt hatte, nicht ausgelöscht, und der König des Westens mußte viele Feinde unterwerfen, ehe der Weiße Baum in Frieden wachsen konnte. Und wo immer König Elessar in den Krieg zog, ging König Éomer mit ihm; und jenseits des Meeres von Rhûn und auf den fernen Feldern des Südens war das Donnern der Reiterei der Mark zu hören". (6) Allerdings bemüht sich Tolkien, seinen Entwurf eines idealen Königtums von der mittelalterlichen Weltherrschaftsidee zu distanzieren, und dass, obwohl er in einem seiner Briefe schreibt, der "wiederbelebte númenórische Staat Gondor" werde schon bald nach Aragorns Thronbesteigung "imperiale Macht und Ansehen erlangen". (7) Wie so oft ist auch in dieser Frage Faramir das Sprachohr des Autors: "[I]ch möchte den Weißen Baum wieder in Blüte sehen in den Höfen der Könige, und daß die Silberne Krone zurückkehre und Minas Tirith Frieden habe: daß es wieder das Minas Anor von einst sei, voll von Licht, erhaben und lieblich, schön wie eine Königin unter anderen Königinnen: nicht eine Gebieterin über viele Hörige, nein, nicht einmal eine gütige Herrin williger Höriger. [...] [I]ch möchte, daß sie geliebt werde wegen ihrer Erinnerungskraft, ihre Alters, ihrer Schönheit und jetzigen Weisheit. Nicht gefürchtet soll sie werden, es sei denn so, wie Menschen die Würde eines alten und weisen Mannes fürchten." (8) Tatsächlich bemüht sich Aragorn, nach dem Sturz Saurons Frieden mit dessen ehemaligen Verbündeten zu schließen, hat dabei aber scheinbar keinen bleibenden Erfolg.

VIII

Inzwischen sollte klar geworden sein, wie weit Frank Weinreichs Gedankengänge von denen Tolkiens entfernt sind. So wenig das Auenland eine ‘elementare Republik’ jeffersonscher Prägung ist, so wenig ist Gondor ein ‘monolithisches Staatsgebilde’. Trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen der beschaulichen Heimat der Hobbits und dem stolzen Königreich der Dúnedain, weisen die beiden doch in entscheidenden Punkten deutliche Parallelen auf. Beide sind gekennzeichnet durch die Abwesenheit bürokratischer (also im modernen Sinne staatlicher) Institutionen und durch die vorherrschende Rolle persönlicher Bande. Im Auenland sind dies in erster Linie Familien- und Herr-Diener-Verhältnisse (beide exemplarisch vertreten in der Ring-Gemeinschaft), in Gondor die Feudalbande zwischen Lehnsherrn und Vasall. Sie garantieren den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sind Ausdruck einer patriarchalen oder ständischen Hierarchie und mit starken Emotionen verbunden.
Wenn das Auenland dabei in sozioökonomischer Hinsicht dem ‘distributistischen Staat’ Bellocs und Chestertons ähnelt, so lässt sich gleiches nicht ohne weiteres auch über Gondor sagen, denn über die Verteilung des Eigentums im Reich erfahren wir leider wenig, und seine ökonomischen Kernlande südlich des Weißen Gebirges und an der Bucht von Belfalas lernen wir überhaupt nicht kennen. Doch sowohl die Schilderung des Umlands von Minas Tirith mit seinen ‘townlands’ – "reich an ausgedehnten Äckern und vielen Obstgärten" (9) –, als auch die der zur Verteidigung der Stadt herbeigeeilten Truppen lassen uns die Existenz eines starken, mehr oder weniger selbstständigen Bauerntums zumindest erahnen. Ganz sicher jedenfalls gibt es hier nichts, was Mordors Plantagenwirtschaft am Núrnen-Meer ähneln würde.

Der Herr der Ringe ist bekanntlich kein Thesenroman, aber wenn wir aus der Darstellung des Auenlandes und Gondors eine politische Philosophie ableiten wollen, so hat diese sicher nichts mit "Wertschätzung politischer Freiheit und des Pluralismus" zu tun. In seinem sehr lesenswerten dreiteiligen Aufsatz über den Herr der Ringe vertritt Matthew David Surridge die Ansicht, "the book is better read as an anarchist parable than as a call for monarchy". Die Ironie besteht darin, dass es beides zugleich ist.

Rufen wir uns noch einmal den Anfang jenes Briefes in Erinnerung, in dem Tolkien seine Ansichten über den Staat darlegt: "Meine politischen Meinungen neigen mehr und mehr zur Anarchie hin (philosophisch verstanden, als Ab-schaffung von Herrschaft – (nicht Männer mit Bomben und Vollbärten)oder aber zur ‘nichtkonstitutionellen’ Monarchie." Die beiden genannten Alternativen decken sich ziemlich genau mit den im Roman beschriebenen ‘Staatsmodellen’ – der quasi-‘anarchischen’ Ordnung der Hobbits und der absoluten Königsherrschaft der Dúnedain. Und da dem ‘Professor’ die Grundbegriffe der Logik durchaus geläufig waren, lässt sich daraus nur ein Schluss ziehen: Für ihn bildeten die beiden Modelle keinen Gegensatz, sondern trafen sich in einem entscheidenden Punkt – der Ablehnung des modernen Staates, der "anonymen ‘They-ocracie’". Einen irgendwie gearteten Antiautoritarismus darf man aus diesem Satz auf gar keinen Fall ableiten. Tolkiens Begriff von ‘Anarchie’ hatte schließlich nichts mit dem eines Bakunin, Malatesta oder Erich Mühsam zu tun. Das waren ja die "Männer mit Bomben und Vollbärten". Die ideale Ordnung, die ihm vorschwebte, verlangte sogar nach einer klaren Hierarchie. Denn in Abwesenheit aller bürokratischen Institutionen kann allein die personengebundene Autorität die Gesellschaft zusammenhalten. So zumindest sah es Tolkien. Der Unterschied zwischen Auenland und Gondor ist dabei nur gradueller, nicht grundsätzlicher Natur. Fürsten im Stile eines Imrahil von Dol Amroth braucht die überschaubare Heimat der Hobbits freilich nicht, aber doch Sippenoberhäupter wie den Herrn von Bockland oder den Thain der Tuks von Groß-Smials.
Frank Weinreich zitiert folgenden Satz aus einem Essay von Patrick Harrington: "Tolkien emphasises again and again that he believes that politicial authority should be strictly limited." (10) Dieser Aussage lässt sich nur zustimmen, wenn man sie ausreichend konkretisiert. Auf keinen Fall darf man darunter gesetzliche Einschränkungen der Macht der angestammten Autoritäten verstehen. Die Tradition und die persönliche Tugend der Herrschenden schienen Tolkien der einzige wirkliche Schutz gegen den Despotismus zu sein. Und so dienten ihm nicht republikanische Gepflogenheiten, sondern die Sitten des Mittelalters als nachahmenswertes Vorbild: "Im Mittelalter hatte man allzu sehr recht, wenn man das nolo episcopari [ich will nicht zum Bischof gemacht werden] eines Mannes für den besten Grund ansah, warum andere ihn zum Bischof machen sollten. Gib mir einen König, dessen größtes Interesse im Leben den Briefmarken, Eisenbahnen oder Pferderennen gilt, und der die Macht hat, seinen Wesir (oder wie immer Du den nennen willst) zu feuern, wenn ihm der Schnitt seiner Hose mißfällt! Und so weiter im ganzen Volk!"
Beispiele für den Typus des absoluten Herrschers, der eigentlich gar nicht herrschen will, sondern lieber seinen Hobbies nachgeht, finden sich übrigens auch in den Annalen der Könige von Númenor. So befassen sich die frühesten und damit vorbildlichsten Herrscher des Inselreiches scheinbar nur wenig mit Regierungsgeschäften: Vardamir Nólimons "größte Liebe galt dem überlieferten Wissen, das er von Elben und Menschen erwarb"; Tar-Elendil "verfasste mit eigener Hand zahlreiche Bücher und Sammelwerke"; und Tar-Meneldur "erhielt seinen Titel [...] wegen seiner Liebe zur Sternkunde". (11)
Tolkien hätte Weinreich zugestimmt, dass in einer solchen Ordnung, die "politische Qualität [...] direkt von der moralischen Qualität [der] Königinnen und Könige" abhängt, bloß wäre ihm ein demokratischer Staat, in dem der Willkür der Oberen durch Gesetze und gewählte Machtorgane Grenzen gesteckt sind, nicht als Alternative erschienen. Ganz im Gegenteil. Bradley Birzer hat vollkommen recht, wenn er schreibt: "Tolkien once described himself as a philosophical anarchist. But he believed that true anarchy would ultimately result in a natural monarchy."

IX

Ist der Herr der Ringe also doch das durch und durch autoritäre Machwerk, das linke Kritiker wie Michael Moorcock oder China Miéville in ihm sehen wollen?

Ganz so einfach ist es denn nicht. Weinreich hat ja vollkommen recht, wenn er immer wieder betont, Tolkien misstraue jeder Konzentration von Macht. Sein Fehler liegt meiner Meinung nach bloß darin, aus diesem Umstand liberal-demokratische Schlussfolgerungen zu ziehen.

Eine derart simple und unreflektierte Verherrlichung feudaler Herrschaftsstrukturen, wie sie Moorcock und Miéville Tolkien unterstellen, wäre mit dessen tiefempfundenem Abscheu vor Gewalt und Tyrannei in der Tat unvereinbar gewesen. In diesem Zusammenhang sei besonders die Lektüre seiner amüsanten kleinen Erzählung Farmer Giles of Ham empfohlen.
Wenn Tolkien in seinen Werken an das Erbe der mittelalterlichen Literatur anknüpft, so geschieht dies für gewöhnlich – anders als z.B. bei T.H. White, Evangeline Walton oder Naomi Mitchison – ohne jeden ironischen Bruch. Der Farmer Giles bildet die einzige Ausnahme. Und so ist die Geschichte vom Bauer Aegidius, seinem Hund Garm, dem Drachen Chrysophylax und der Gründung des Kleinen Königreiches vielleicht nicht sein bedeutendstes, aber ganz sicher sein sympathischstes Werk. Hier parodiert Tolkien nämlich nicht nur den Stil mittelalterlicher Chroniken, sondern erzählt auch, wie ein einfacher Bauer über einen geldgierigen König und seine hochmütigen Ritter triumphiert und sein eigenes Bauernreich gründet.

Was den Herr der Ringe angeht, so mag die Rückkehr des Wahren Königs zwar eine wichtige Rolle für die Geschichte Mittelerdes spielen, doch die größte und allesentscheidene Heldentat wird von den in jeder Hinsicht 'kleinen' und machtlosen Hobbits Frodo und Sam vollbracht. Wie es Elrond auf dem Rat in Bruchtal gesagt hatte: "So ist es oft mit Taten, die die Räder der Welt in Bewegung setzen: kleine Hände vollbringen sie, weil sie müssen, während die Augen der Großen anderswo sind." (12)
Bei all seiner Liebe zur Heldenepik, die im Herr der Ringe ihren (keineswegs unkritischen) Ausdruck in den Handlungssträngen um Aragorn, Théoden und Éowyn gefunden hat, gehörte Tolkiens eigentliche Sympathie doch nicht den Großen und Mächtigen, sondern den ‘kleinen Leuten’. Von zentraler Bedeutung in diesem Zusammenhang ist die Figur des Sam, der mit einigem Recht von manchen als der echte Held des Romans angesehen wird.  Über ihn hat Tolkien einmal gesagt: "Mein ‘Sam Gamdschie’ ist in der Tat ein Bild des englischen Soldaten, der Gemeinen und Burschen, wie ich sie im Krieg von 1914 kennengelernt und als mir selbst so hoch überlegen erkannt habe." Seine Weltkriegserfahrung hatte ihm nicht nur eine gesunde Abneigung gegen die "stumpfsinnige Kunst des Tötens", sondern auch gegen das britische Offizierskorps eingeflößt. In einem Brief an seine zukünftige Frau Edith schrieb er damals: "Gentlemen gibt es keine unter den Vorgesetzten und sogar menschliche Wesen sind ganz selten." (13) Die altgedienten Offiziere des Empire, die stundenlang über ihre ‘Heldentaten’ in Indien schwadronierten, stießen ihn bloß ab. Für die einfachen Soldaten hingegen entwickelte er schon bald Hochachtung und Sympathie, auch wenn es ihm als Offizier aufgrund der militärischen Hierarchie unmöglich war, mit den Gemeinen Freundschaft zu schließen. 1941 schrieb er in einem Brief an seinen Sohn Michael, der Fähnrich am Royal Military College von Sandhurst geworden war, von seinem "tiefen Verständnis für den ‘Tommy’, besonders den einfachen Soldaten aus den landwirtschaftlichen Gegenden". (14) Und Zeit seines Lebens brachte er in Briefen und Unterhaltungen immer wieder seine Bewunderung für die Leistungen einfacher Menschen in gesellschaftlichen Krisensituationen wie dem Krieg zum Ausdruck: "Es hat mich immer beeindruckt, daß wir noch da und am Leben sind, dank des unbezähmbaren Muts ganz kleiner Leute, gegen alle Aussichten." In Sam Gamdschie – und in gewisser Weise in allen Hobbits – findet sich dieser Heroismus der einfachen Leute verkörpert, der oft genug den Lauf der Geschichte viel stärker beeinflusst als die Taten der großen ‘Führer’. In einem Interview erklärte Tolkien denn auch: "Die Hobbits sind einfach ländliche Engländer – klein im Wuchs, weil das die im allgemeinen kleine Reichweite ihrer Vorstellungen spiegelt, nicht jedoch klein an Mut oder an latenten Kräften." (15)
Was diese Aussagen allerdings auch deutlich machen ist, dass der ‘kleine Mann’ für Tolkien stets der Kleinbürger war. Auch hierin ähnelte er Chesterton, von dem George Orwell schreibt: "To [him] ‘the poor’ means small shopkeepers and servants. Sam Weller [aus Dickens’ Pickwick Papers], he says, ‘is the great symbol in English literature of the populace peculiar to England’; and Sam Weller is a valet!"(16) Was für Chesterton der Kammerdiener, war für Tolkien der unabhängige Freisasse, der ‘Yeoman’. In ihm sah er die wahre Verkörperung des englischen Volkes und ihm setzte er mit Giles und den Hobbits ein Denkmal. Insbesondere bodenständigere Halblinge wie Bauer Maggot oder Bauer Hüttinger sind kleinwüchsige Ausgaben des guten alten John Bull. Dabei gab es diese soziale Klasse schon seit gut hundert Jahren in England überhaupt nicht mehr. Die britische Landwirtschaft war längst auf kapitalistischer Grundlage reorganisiert worden, und an die Stelle der freien Bauern waren spätestens seit 1830 endgültig Pächter und Landarbeiter getreten. Wieder einmal musste Tolkien sich also eine Vergangenheit zusammenkonstruieren, um sein Ideal finden zu können. Die wirklichen ‘kleinen Leute’, d.h. die Angehörigen der städtischen Arbeiterklasse, tauchen bei ihm höchstens in der verzerrten Form der monströsen Sklaven des Dunklen Herrschers auf. Sie, die "Knechte der Maschinen", von denen er am Ende des 2. Weltkriegs offenbar glaubte, sie seien auf dem Weg, "zur privilegierten Klasse"(17) zu werden, betrachtete er mit einer Mischung aus Angst und Abscheu.

Tolkiens 'Demokratismus', wenn wir ihn einmal so nennen wollen, ist also keine so eindeutige Angelegenheit. Und mit liberalen Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit hat er ganz sicher nichts zu tun. Es reicht deshalb auch nicht, die Sympathie des 'Professors' für die 'kleinen Leute' anzuführen, um den Vorwurf zu entkräften, der Herr der Ringe "feiere aristokratische und feudalistische Ideale und stütze autoritäre Handlungsweisen" – auch wenn Tolkienisten wie Weinreich dies gerne glauben würden.
Sam Gamdschie verkörpert zwar in der Tat den Heroismus des einfachen Mannes, doch was genau verleiht ihm die Kraft zu seinen Heldentaten? – Die unbedingte Treue zu seinem Herrn! Aus gutem Grund vergleicht Tolkien ihn mit einem Offiziersburschen. Zwar lässt sich die Beziehung zwischen ihm und Frodo nicht auf ein gewöhnliches Dienstverhältnis reduzieren, doch Grundlage bleibt bis zum Ende die feudale Bindung zwischen Herr und Diener. – Frodo bleibt für Sam stets ‘Mister Frodo’, und als dieser schließlich zu den Grauen Anfurten aufbricht, würde der anhängliche Sam ihn am liebsten sofort begleiten und muss erst von seinem Herrn daran erinnert werden, dass er jetzt ja eine Ehefrau und eine Tochter hat!
Im Grunde erinnert die Beziehung zwischen den beiden an die Lehnseide, die Merry und Pippin ablegen: Ausgangspunkt ist in beiden Fällen ein feudales – und das heisst persönliches und emotionales – Band, doch wird dieses menschlich vertieft und damit zwar nicht aufgehoben, doch um eine zusätzliche Dimension erweitert.
‘Feudalistisch’ – wenn auch nicht ‘aristokratisch’ – ist Tolkiens Ideal also sehr wohl.


Ebenso falsch liegt Weinreich, wenn er glaubt, es sei die Botschaft des Herr der Ringe, "daß alles ineinander greift und niemand sich das Recht anmaßen kann, für andere zu entscheiden, was gut und richtig ist". Das mag seinen eigenen harmonistischen Sehnsüchten entsprechen, klingt für Tolkien aber viel zu egalitär.
Zuerst einmal gibt es in Tolkiens Welt sehr wohl Autoritäten, die 'für andere entscheiden, was gut und richtig ist'. Nirgends wird in Zweifel gestellt, dass Leute wie Gandalf oder Aragorn sehr viel besser wissen, was gut für Mittelerde ist, als die einfachen Bewohner des Auenlandes, Gondors oder gar der Länder ‘unter dem Schatten’ im fernen Osten und Süden. Und ihre Autorität – die eines Zauberers und die eines Königs – leitet sich direkt von den Valar her und ist damit unantastbar. Tolkien hält es lediglich für falsch, wenn sie diese mit Gewalt durchsetzen.

Die Harmonie, die Weinreich als Ideal des tolkienschen Denkens auszumachen glaubt, entpuppt sich denn auch bei genauerem Hinsehen als eine stabile Ordnung, in der ein jeder seinen ‘Stand’ und seine ‘Funktion’ besitzt. Dass die einzelnen Teile dabei ‘ineinandergreifen’, also voneinander abhängig sind, ändert nichts an dem hierarchischen Aufbau des Ganzen. Diese ‘Eintracht in der Verschiedenheit’ ist vielmehr schon für das Drei-Stände-Modell des Mittelalters kennzeichnend gewesen. In der klassischen Formulierung des Bischofs Adalbero von Laon aus dem 11. Jahrhundert: "Dreifach also ist das Haus Gottes, das man eines wähnt: hier auf Erden beten die einen, andere kämpfen, und noch andere arbeiten; diese drei gehören zusammen und ertragen nicht, entzweit zu sein; derart, daß auf der Funktion des einen die Werke der beiden anderen beruhen, indem alle jeweils allen ihre Hilfe zuteil werden lassen." (18) Natürlich wünschte sich Tolkien seine ständische Ordnung von allen Übeln gereinigt – von Hochmut und Machtgier bei den Herrschenden, von Missgunst und Rebellion bei den Dienenden –, doch dasselbe ließe sich auch vom mittelalterlichen Ordo-Gedanken sagen. Im bescheidenen Maßstab des Auenlandes gibt Bilbo Baggins, ‘Esquire’ (19), ein gutes Beispiel für dieses Ideal ab: Freundlich, höflich und freigebig gegenüber ‘einfachen’ Leuten wie dem alten Ohm Gamdschie – was ihm unter den "armen und weniger bedeutenden Familien viele anhängliche Bewunderer" (20) verschafft –, bleibt er bei aller Kauzigkeit doch ganz ohne Frage ein ‘Gentlehobbit’. (21)

Übrigens war Tolkien auch in seinem persönlichen Umgang bemüht, diesem Ideal einer humanisierten Ständeordnung gerecht zu werden. Einerseits verfügte er über ein sehr ausgeprägtes ‘Klassenbewusstsein’, andererseits war er weitgehend frei von dem snobistischen Standesdünkel, für den die englische Mittelklasse im allgemeinen so berüchtigt war. "Er fing gern Gespräche an, mit einem Flüchtling aus Mitteleuropa im Zug, mit einem Kellner in einem seiner Lieblingsrestaurants oder mit dem Pförtner eines Hotels. In solcher Gesellschaft war er immer ganz glücklich. [...] In seinen späteren Jahren freundete er sich mit den Taxi-Fahrern an, deren Wagen er zu nehmen pflegte, mit dem Polizisten, der auf den Straßen um seinen Bungalow in Bournemouth Streife ging, und mit dem College-Diener und seiner Frau, die sich in der letzten Zeit seines Lebens um ihn kümmerten." (22)
Es war nichts Herablassendes in diesen Beziehungen, doch waren sie ebensowenig Ausdruck eines egalitären Demokratismus. Die einzige ‘Gleichheit’, die Tolkien anerkannte, war jene "vor dem großen Autor, qui deposuit potentes de sede et exaltavit humiles [der die Mächtigen vom Thron stößt und die Niedrigen erhöht.]" (23)

Fortsetzung folgt ...

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(1) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 276.
(2) Brief an einen Leser (Entwurf) [ca. 1963]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 244. S. 423.
(3) Aaron J. Gurjewitsch: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. S. 199f.
(4) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 97.
(5) Ebd. Bd. III. S. 278.
(6) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Anhänge. S. 57.
(7) Brief an einen Leser (Entwurf) [ca. 1963]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 244. S. 423.
(8) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. II. S. 321.
(9) Ebd. Bd. III. S. 19.
(10) Patrick Harrington: Tolkien and Distributism. In: Third Way Publications (Hg.): Tolkien and Politics. S 13ff. Einmal mehr frage ich mich, ob Weinreich überhaupt weiß, wen er da zitiert. Zwei der drei Autoren des Büchleins – David Kerr & Patrick Harrington – gehören zur Führungsriege der britischen National Liberal Party, die 1989/90 aus dem Zusammenbruch der faschistischen National Front hervorgegangen ist. Harrington ist zudem Generalsekretär der Gewerkschaft Solidarity, die enge Beziehungen zur British National Party unterhält. Während ihrer Zeit in der National Front gehörten beide dem sog. ‘Political Soldier’ - Flügel an, der sich auf die Ideen des Fascho-Esoterikers Julius Evola berief.
(11) J.R.R. Tolkien: Die Linie von Elros: Könige von Númenor. In: Ders.: Nachrichten aus Mittelerde. S. 293f.
(12) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 328.
(13) Zit. nach: Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie. S. 99; 96.
(14) Brief an Michael Tolkien [9. Juni 1941]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 45. S. 75.
(15) Zit. nach: Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie. S. 202.
(16) George Orwell: Charles Dickens.
(17) Brief an Christopher Tolkien [30. Januar 1945]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 96. S. 150.
(18) Zit. nach: Georges Duby: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus. S. 16.
(19) So wird Bilbo in Tolkiens Zeichnung ‘The Hall at Bag-End’ tituliert, die in der Erstausgabe des Hobbit von 1937 veröffentlicht wurde. Vgl.: Christopher Tolkien (Hg.): Pictures by J.R.R. Tolkien. Nr. 20.
(20) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 35.
(21) Wir erfahren zwar nie, wovon Bilbo und Frodo eigentlich leben, doch offenbar gehören sie zur Gentry. Dass es bei den Auseinandersetzungen mit den Sackheim-Beutlins nie um Grundbesitz geht, würde dem zwar widersprechen, aber anders lässt sich das komfortable, müßiggängerische Leben von Tolkiens Helden nicht erklären.
(22) Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie. S. 149f.
(23) Brief an W. H. Auden [7. Juni 1955]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 163. S. 284.