"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Donnerstag, 31. Mai 2012

Advocatus Diaboli

Dass der amerikanische Literaturkritiker Edmund Wilson (1896-1972) unter Freunden und Freundinnen der Fantasy keinen guten Ruf besitzt, ist nicht verwunderlich, kennen sie ihn in den meisten Fällen doch nur als den Verfasser berüchtigter Verrisse von Tolkien (Oh Those Awful Orcs) und H.P. Lovecraft (Tales of the Marvellous and the Ridiculous).
Das in Fantasykreisen recht beliebte Wilson-Bashing, an dem sich nun leider auch 'Anubis' beteiligt, finde ich dennoch recht unerfreulich. Der Mann hatte eingestandermaßen kaum Verständnis für einen Gutteil der modernen Phantastik, was sich u.a. auch an seinen abfälligen Bemerkungen über Lord Dunsany, Arthur Machen oder M.R. James zeigt. Doch muss man aus ihm deshalb gleich die Karrikatur eines Feuilleton-Snobs machen? Ich kann nur von mir selbst sagen, dass mich die Lektüre von Büchern wie  Axel’s Castle, Classics and Commercials, To the Finland Station oder The Wound and the Bow stets mit neuen und interessanten Einsichten beschenkt hat.

Edmund Wilson gehörte zu jener Generation amerikanischer Intellektueller, die geprägt wurden durch den im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts einsetzenden gewaltigen kulturellen Umschwung in den USA. Die erstickende Atmosphäre des Provinzialismus, des sich als Patriziat aufspielenden vulgären Spießertums und der unverhüllten Herrschaft des Geldsacks, die die Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg geprägt hatte, schien der frischen und erregenden Luft eines neuen kulturellen und politischen Aufbruchs zu weichen. Dreißig Jahre später schrieb Wilson über den Geist jener Zeit:
"The shadow of Big Business that had oppressed American culture in our childhood seemed finally to be passing away. Woodrow Wilson, for all his shortcomings, had something of the qualities of the presidents of the earlier years of the Republic: he was a writer and thinker of a kind, and, though most of his reforms were aborted, he did succeed, on the plane of ideas at least, in dissociating the government of the United States from financial and industrial interests, and presided with some moral dignity over the entry of the United States out of its complacent provinciality on to the larger stage of the world. Later, a livid spark seemed to flash from the American labor movement in the direction of the Russian Revolution." (1)
Ironischerweise war einer der Hauptgründe für diese Entwicklung das Hervortreten der USA als imperialistischer Weltmacht um die Jahrhundertwende. Auf ganz handfeste, ökonomische, politische und militärische Weise war hier die "complacent provinciality" der USA aufgebrochen worden. Doch trotz dieses Hintergrundes war der fortschrittliche und belebende Charakter des darauf folgenden kulturellen Umschwungs nicht zu übersehen. Ein weltoffener und kritischer Geist begann sich auszubreiten. Neue Ideen wurden begierig aufgegriffen, diskutiert und weiterverarbeitet. Theodore Dreisers naturalistische Romane erkundeten die sozialen und psychologischen Abgründe, die sich hinter der Fassade des prosperierenden Kapitalismus verbargen. Ezra Pound und T. S. Eliot begannen, die amerikanische Lyrik zu revolutionieren – wenn auch von England aus. Einen anderen, weniger mit klassischem Bildungsgut befrachteten Weg beschritt William Carlos Williams, dessen erster bedeutender Gedichtband Al Que Quiere! 1917 erschien. "Irgendwo war eine Bresche geschlagen worden, wir strömten hindurch, jeder mit seinen eigenen Gedanken, mit seinen eigenen Plänen und Zielen beschäftigt" (2), schreibt der Dichter in seiner Autobiographie. Die Armory Show von 1913 machte ein breiteres Publikum in New York, Chicago und Boston erstmals mit der Malerei der europäischen Kubisten, Expressionisten, Fauvisten und Symbolisten bekannt. Besonderes Aufsehen erregte dabei Marcel Duchamps Akt, eine Treppe hinabsteigend. Im selben Jahr veröffentlichte der Historiker Charles Austin Beards seine berühmte Studie An Economic Interpretation of the Constitution, in der er die patriotische Heiligenlegende der Gründerväter in Frage stellte und die sozialen und wirtschaftlichen Interessen analysierte, die der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung zugrunde gelegen hatten. Gleichfalls 1913 begann Max Eastman seine Zeitschrift The Masses herauszugeben, in der er Kultur und Sozialismus miteinander verband, und die einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die New Yorker Intelligenzija ausübte, bis sie 1918 aufgrund ihrer klaren Haltung gegen den Krieg verboten wurde. Die Zeitschrift verbreitete nicht nur sozialistische Ideen, sie machte ihre Leser auch mit den Theorien Sigmund Freuds bekannt und förderte junge Schriftsteller wie Sherwood Anderson. Derweil attackierte die bekannte Anarchistin Emma Goldman auf den Seiten von Mother Earth in leidenschaftlichen Artikeln den Patriotismus, die puritanische Prüderie und andere ‘gute alte Traditionen’ Amerikas.

In dem 1933 erschienenen Essayband American Jitters ruft sich Wilson den Eid in Erinnerung, den er damals abgelegt hatte: "I swore to myself that when the War was over I should stand outside of society altogether, I should do without the comforts and amenities of the conventional world entirely, and I should devote myself to the great human interests which transcend standard of living and conventions: Literature, History, the Creation of Beauty, the Discovery of Truth." (3) Als Mitglied der Bohème von Greenwich wurde Wilson in den Roaring Twenties zu einem der eloquentesten Vorkämpfer des internationalen Modernismus und der aufblühenden amerikanischen Literatur: Gertrude Stein und James Joyce, Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald – um nur einige bekannte Namen zu nennen. Andras Gyorgy schreibt über den jungen Literaturkritiker jener Jahre: "In his early reviews, Edmund Wilson displayed a wonderful trust sorely lacking in contemporary criticism – trust in the intelligence and interest of his audience, and dislike of the literary pretensions and genteel ways of America’s patrician elite and the nouveau riches, ‘the boobocracy’ as Mencken aptly named them." Er verfügte ohne Zweifel über ein gewaltiges Selbstbewusstsein, doch ein elitärer Snob war er zu dieser Zeit ganz sicher nicht. "Wilson sat down with James Joyce for a chat in a cafe and rushed into print to explain Ulysses and Finnegan’s Wake to an audience growing in sophistication and self-confidence. He saw writers participating in a worldly activity as part of a community, and believed that modernist literature, even in its most extreme innovations of Joyce and Gertrude Stein, is not so much difficult to read, as that we have not learned to read it with care". Für ihn war die Kunst ein wichtiges Mittel des Kampfes für eine bessere, schönere, menschlichere Gesellschaft, indem sie uns immer neue Perspektiven auf die Welt und uns selbst eröffnet, uns innerlich bereichert und unseren Horizont erweitert.
Der Ausbruch der Großen Depression 1929 beendete das bei allem Rebellentum doch auch bequeme und etwas selbstzufriedene Dasein der Bohème. Wie viele andere amerikanische Intellektuelle radikalisierte sich auch Wilson, engagierte sich vermehrt in den politischen und sozialen Kämpfen der Zeit, z.B. dem ‘Harlan County War’ von 1931 und der Kampagne gegen den rassistischen ‘Scottsboro Boys’ - Prozess. Er näherte sich dem Marxismus an, ohne je zu einem tieferen Verständnis dieser Weltanschauung zu gelangen. In seiner Geschichte des Sozialismus To the Finland Station macht er sehr deutlich, dass er sowohl die dialektisch-materialistische Philosophie als auch die ökonomische Analyse von Marx ablehnte. Anfangs liebäugelte er mit der stalinistischen KPUSA, die sich zu Beginn der 30er Jahre ultraradikal gab, und nahm 1935 sogar eine Einladung nach Moskau an. Später sympathisierte er eine Zeit lang mit dem Trotzkismus, blieb jedoch im Kern stets ein ‘liberaler’ Radikaler und ein Pragmatist der Dewey-Schule.
Nach 1940 setzte bei ihm dann eine immer größere Desillusionierung ein. Wie so viele andere gelangte auch er nach ein paar Jahren des Kampfes zu der Überzeugung, dass der scheinbare Triumph Hitlers und Stalins bewiesen habe, dass seine einstigen Hoffnungen auf die Errichtung einer humaneren Gesellschaft verfehlt gewesen seien. Damit begann eine Entwicklung, die aus dem einstigen kosmopolitischen Rebellen schließlich tatsächlich einen exzentrischen, selbstverliebten und in kulturellen Fragen immer konservativeren Snob machte.

Das tragische Schauspiel, das Wilson mitunter in der letzten Phase seines Lebens bot, ändert jedoch nichts an dem beachtenswerten Beitrag, den er zur Kultur des 20. Jahrhunderts geleistet hat. ‘Anubis’ schreibt spöttisch: "Man könnte vielleicht sogar behaupten, dass Wilson, der zu seinen Lebzeiten einer der bedeutendsten Kritiker und Feuilletonisten der englischsprachigen Welt war, außerhalb literaturgeschichtlich interessierter Kreise überhaupt nur noch aufgrund seines Tolkien-Verrisses bekannt ist." Wenn dem tatsächlich so ist, dann fände ich das ausgesprochen bedauerlich. Wilsons demokratische Grundeinstellung, sein Nonkonformismus, seine weitgespannten Interessen – verbunden mit umfassender Bildung und stilistischer Könnerschaft – sollten auch heutigen Literaturkritikern und -kritikerinnen als Vorbild dienen. Aber da die Überzeugungen, denen er in seinen besten Jahren die Treue hielt, von vielen Intellektuellen heute mit Verachtung gestraft werden, kann ich mir gut vorstellen, dass ‘Anubis’ leider recht hat. Der Glaube an eine (wie auch immer geartete) revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft und an eine künftige bessere Welt? Die Überzeugung, dass die Kunst zu dieser Veränderung beitragen kann? Die Pflicht des Intellektuellen, an diesem Kampf teilzunehmen? Solche Glaubenssätze sind aktuell immer noch in erster Linie das Ziel von Spott oder Feindseligkeit. Ein Grund mehr, um alle kulturell Interessierten zu einer erneuten Beschäftigung mit dem Werk Wilsons aufzurufen!

Was seine verächtliche Einstellung zu Tolkien, Lovecraft und anderen Phantasten angeht, so würde ich zuerst einmal anmerken wollen, dass sich selbst in seinen borniertesten Verrissen immer noch einige korrekte Beobachtungen finden. Liegt er denn so falsch, wenn er in Oh Those Awful Orcs schreibt: "Frodo the good little English-man; Samwise, his dog-like servant, who talks lower-class and respectful, and never deserts his master"? (4) Und was Lovecraft betrifft, so halte ich diesen zwar für einen faszinierenden, jedoch nicht für einen wirklich ‘guten’ Schriftsteller, und sehe in Wilsons Bonmot "The only real horror in most of these fictions is the horror of bad taste and bad art" (5) ein willkommenes Gegengift zu der gänzlich übertriebenen Verehrung, die dem Gentleman von Providence heutzutage entgegengebracht wird. Davon einmal abgesehen vermittelt ‘Anubis’ meiner Meinung nach einen falschen Eindruck, wenn er über Wilson schreibt: "Er bekämpfte jegliche Literatur, die nicht seinen Auffassungen von Realismus entsprach". Viele Leserinnen und Leser werden das vermutlich so auffassen, als habe Wilson einem naturalistischen Realismus gehuldigt und jede Form von Phantastik strikt abgelehnt. Dies war jedoch keineswegs der Fall. Vielmehr war Wilson ein erklärter Bewunderer solcher Ikonen der Phantastik wie Edgar Allan Poe oder Franz Kafka. Auch beschäftigt sich eines seiner bekanntesten Werke, Axel’s Castle, ausschließlich mit dem wenig ‘realistischen’ Symbolismus, wobei er unter diesem Begriff so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie W.B. Yeats, Paul Valéry, T.S. Eliot, Marcel Proust, James Joyce, Gertrude Stein und Arthur Rimbaud zusammenfasste. Wilson war der Meinung, dass Literatur eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit sein sollte, aber das ist doch wohl kaum gleichbedeutend mit einer Ablehnung jeder Form von Phantastik. Andernfalls befände ich mich in arger Bedrängnis, teile ich doch Wilsons Ansichten in diesem Punkt voll und ganz.

Für vollkommen verfehlt halte ich es schließlich, Wilsons Realismusbegriff mit dem unserer Grimdark-Autoren in Verbindung zu bringen, was 'Anubis' leider Gottes tut. Letzteren geht es nicht wirklich um eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit (von der sie oft genug wenig verstehen), sie missbrauchen vielmehr den Begriff  'Realismus' als Verkleidung für ihre verrottete Sicht der Welt und der Menschheit. Damit repräsentieren sie das genaue Gegenteilt von dem, wofür Edmund Wilson in seiner besten Zeit einstand.


(1) Edmund Wilson: Thoughts on Being Bibliographed. In: Ders.: Classics and Commercials. S. 106.
(2) William Carlos Williams: Die Autobiographie. S. 189.
(3) Zit. nach: Andras Gygory: Edmund Wilsons literary essays and reviews from 1920 to 1950: Just in time.
(4) Edmund Wilsosn: Oh Those Awful Orcs. In: Ders.: The Bit Between My Teeth. S. 329.
(5) Edmund Wilson: Tales of the Marvellous and the Ridiculous. In: Ders.: Classics and Commercials. S. 288.

Mittwoch, 30. Mai 2012

Who-is-not-to-be-named

Don Pizarro und John DeNardo von SF Signal haben eine wunderbare Episode aus Rod Serlings 70er-Jahre-Horrorserie Night Gallery ans Tageslicht befördert: Professor Peabody's Last Lecture. Großer Spaß mit den Großen Alten:


Montag, 28. Mai 2012

Einfach großartig

Die unsterbliche Hildegard Knef gibt ihre Interpretation von Brecht/Weills Seeräuber Jenny:

Sonntag, 27. Mai 2012

Potential und Risiko

Phenderson Djèlí Clark hat erneut einen sehr interessanten Post in seinen 'Musings of a Disgruntled Haradrim' veröffentlicht. Er geht darin von der auffälligen Erscheinung aus, dass unter all den modischen xyz-Punk-Strömungen der letzten Jahre eine einzige Zeitperiode keine 'retro-futuristische' Bearbeitung gefunden hat: Die Ära der weltweiten politischen Radikalisierung in den 60er und frühen 70er Jahren. Steampunk beschäftigt sich mit dem viktorianischen und edwardianischen Zeitalter, das in den 1. Weltkrieg mündete. Dieselpunk nimmt sich der 20er-40er Jahre, Atomicpunk der 50er und frühen 60er Jahre an. Cyberpunk schließlich ist ein Kind der 80er Jahre und bleibt diesem Jahrzehnt bis heute in vielem verhaftet. Warum nicht eine neue Stilrichtung gründen, die Phenderson Djèlí Clark 'Revolutionpunk' tauft?

"So can the politics and social movements of alternate-retro-futures instead be the dominant theme for new ideas on punk, with the tech as more so secondary? If so, how could we imagine this sub-genre I’d like to call Revolutionpunk!
What if the turbulent, radical movements of the 1960s and early 1970s never lost their potency? In the US, what if the Civil Rights Act had never been passed? What if the Vietnam War hadn’t ended, despite the protests, but continued to expand and send draftees into a decades long stalemate? How radicalized might segments of the US population  become?
What if radical social justice groups from the Black Panthers to the Brown Berets to the anti-racist White Panthers (yes, White Panthers - That happened!) still existed and were popular as ever – with varied splinter groups? What if the Stonewall Riots had engulfed all of New York, as other groups turn it into a large-scale rebellion? The Wounded Knee incident sparks similar occupation-style movements in cities and towns. Gloria Steinem has become leader of the Redstockings after a failed women’s liberation movement, while SDS is an opposition political party holding office within the system."

Das klingt erst einmal wie eine echt coole Idee, und ich könnte mir auch sofort eine deutsche Variante davon vorstellen. Ein paar Stichworte zur Anregung? Rudi Dutschke, 'Ho-ho-ho Chi Minh', Bambule, Kommune 2, RAF, Revolutionäre Zellen, wilde Streiks, Rote Zora, die K-Gruppen und die Anti-AKW-Proteste der 70er. Was für ein Material!
Doch leider melden sich auch sofort Bedenken. Die naheliegendste Antwort auf die Frage, warum sich bisher keine 'Punk'-Richtung dieser Zeit zugewandt hat, ist auch Phenderson Djèlí Clark nicht fremd. Der 'Retro-Futurismus' in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen zeichnet sich in seiner Mehrheit durch eine nostalgische Romantisierung der Vergangenheit aus, und eine solche Geisteshaltung verträgt sich nur schlecht mit dem rebellischen Geist der 60er/70er Jahre. Natürlich ist auch die 68er-Nostalgie ein nicht ganz unbekanntes Phänomen und könnte den Ausgangspunkt für 'Revolutionpunk' bilden. Bloß wäre das nichts wirklich wünschenswertes.
Ich fürchte, in der heutigen politischen und kulturellen Atmosphäre würde sich 'Revolutionpunk' durch eine Mischung aus spöttischer Ironie und unreflektierter Rebellenromantik auszeichnen. Das Letzte, was wir im Moment gebrauchen können. 'Revolutionpunk' würde nur dann sein Potential entfalten können, wenn es zugleich getragen würde von einer Wiederbelebung des revolutionären Geistes jener Epoche und einer linken Kritik der damals vorherrschenden politischen Ideen. Auf Humor, Ironie und wilde Abenteuer müsste deshalb nicht verzichtet werden. Aber die Voraussetzung dafür wäre ein korrektes Verständnis für die Gründe, warum jene Rebellengeneration ihre Ziele letztlich nicht erreichte. Und die Antwort lautet nicht: Weil Menschen immer Egoisten bleiben werden.
Wäre dies gegeben, so könnte 'Revolutionpunk' dazu beitragen, auf kritische Weise an das Erbe der 68er anzuknüpfen. Doch leider glaube ich, dass die Mehrheit der heutigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller dieser Herausforderung (noch) nicht gewachsen wäre. Insofern wäre es vielleicht sogar ganz gut, wenn Phenderson Djèlí Clarks Idee vorerst einmal eine Idee bleibt.

Freitag, 25. Mai 2012

Zur Verteidigung von Joy Chant

Brian Murphy hat auf Black Gate gestern einen ziemlich vernichtenden Artikel über Joy Chants 1970 erschienenen Roman Red Moon and Black Mountain veröffentlicht. Er charakterisiert ihn darin als eine simple Kopie des Lord of the Rings, kombiniert mit der Rahmenhandlung von The Lion, the Witch, and the Wardrobe. Das ist alles in allem zwar nicht so falsch, dennoch halte ich den Artikel für etwas unfair.
Zuersteinmal verrät Murphy recht ungenaue Kenntnisse über die Entwicklungsgeschichte der Fantasyliteratur, wenn er schreibt: "In the 1960s Frodo lived and the reading public was hungry for more, and derivative works like The Sword of Shannara met that demand. This pattern continued into the 1980s with the publication of works like Dennis McKiernan’s Iron Tower trilogy." Tatsächlich erschien Terry Brooks' Shannara nicht in den 60er Jahren, sondern 1977, und erst sein Erfolg leitete die Ära der tolkienesken High Fantasy ein, die sich nicht etwa 'bis in die 1980er fortsetzte', sondern in diesem Jahrzehnt überhaupt erst ihre große Blüte erlebte. Zuvor beherrschten die Clonans den Markt. Das mag jetzt etwas besserwisserisch wirken, aber nur so wird einem bewusst, dass Joy Chant mit ihrem Erstlingswerk nicht Teil einer Modeströmung war, sondern diese um beinahe ein Jahrzehnt vorwegnahm. Als die Flut der Tolkienklone über Faërie hereinzubrechen begann, hatte die Autorin diese Frühphase ihres Schaffens längst hinter sich gelassen.*
In Inhalt wie Aufbau weist Red Moon and Black Mountain zweifellos eine ganze Reihe von Schwächen auf, aber da, wo sich Chant von dem tolkienesken Schema etwas löst, zeigen sich doch auch schon ihre Stärken, die in den beiden späteren Bänden der House of Kendreth - Reihe, deren Existenz Murphy mit keinem Wort erwähnt,  zur vollen Entfaltung gelangen. Dies gilt vor allem für die Szenen, die unter dem Reitervolk der Khentorei spielen.

Die Autorin hat einmal erklärt: "Was mich am meisten fasziniert, ist, mir neue Lebensformen vorzustellen und zu untersuchen, wie Menschen darin arbeiten und leben."** Es ist die Verwirklichung dieses Ansatzes, die in meinen Augen die besondere Qualität von The Grey Mane of Morning (1977; dt.: Der Mond der Brennenden Bäume) und When Voiha Wakes (1983) ausmacht. Im Unterschied zu nicht wenigen Fantasyautoren ist sich Joy Chant bewusst, dass es die Lebensumstände eines Volkes sind, die dessen Weltsicht, Wertvorstellungen und Moral, sowie die Empfindungen seiner Mitglieder formen. Auf besonders gelungene Weise zeigt sich dies in The Grey Mane of Morning, in dem die Autorin zu den Khentorei zurückkehrt und uns dieses Volk von Jägern und Hirtennomaden an einem entscheidenden Wendepunkt seiner Geschichte zeigt. Wir sehen, wie unterschiedlich Menschen auf eine gesellschaftliche Krise und die damit verbundene Erschütterung uralter 'Wahrheiten' reagieren. Wir erleben aber auch,  wie Personen, die einer extrem traditionsbewussten Gesellschaft entstammen, geheiligte Regeln brechen, ihren Horizont erweitern und eine Welt zu erkunden beginnen, die ihnen bisher unerreichbar schien. Der Roman erzählt von der Begegnung unterschiedlicher Kulturen, von der Rebellion gegen eine uralte Tyrannei und vom Verhältnis zwischen ‘Schicksal’ und persönlichem Willen. Sein schwächstes Element ist interessanterweise zugleich sein phantastischstes: Der Auftritt eines leibhaftigen Gottes. When Voiha Wakes erscheint auf den ersten Blick wie ein typischer Vertreter der 'feministischen' Fantasy der 80er Jahre, ist die Handlung doch in einer matriarchalischen Gesellschaft angesiedelt. Aber auch wenn Genderfragen eine nicht unwichtige Rolle in der Erzählung spielen, geht es im Kern doch einmal mehr um das Durchbrechen gesellschaftlicher Normen, und außerdem um die Geburt der Kunst als eines Ausdrucks der eigenen Individualität.

Brian Murphy schreibt, Red Moon and Black Mountain sei heute weitgehend vergessen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich fände es traurig, wenn Joy Chants Werk tatsächlich im Orkus der untergegangenen Bücher verschwinden würde. Allerdings wünschte ich mir, dass man ihren Namen in Zukunft weniger mit dem tolkinesken Kinderbuch, mit dem sie einst bekannt wurde, als vielmehr mit ihren sehr viel reiferen Werken in Verbindung bringen würde. Sie sind eine Wiederentdeckung allemal wert.


* Dass Murphy Merry mit Pippin verwechselt und den Took statt den Brandybock an Éowyns Seite gegen den Hexenkönig antreten lässt, ist dann allerdings wirklich peinlich. Jedenfalls, wenn man sich über Tolkiens Einfluss auf die Fantasyliteratur auslässt.
** Findet sich am Anfang meiner Goldmann-Ausgabe (Juli 1984) von Der Mond der Brennenden Bäume.

Donnerstag, 24. Mai 2012

Dies und das

Wir hatten Independence Day, wir hatten Battle Los Angeles und Cowboys vs. Aliens, aber wenn man Ray Harveys Kritik von Battleship glauben will, ist der absolute Tiefpunkt in Sachen außerirdischer Invasion noch immer nicht erreicht. Ich würde mir ja mal eine Verfilmung von H.G. Wells' War of the Worlds im ursprünglichen, viktorianischen Setting wünschen, die sich sowohl des antikolonialistischen Inhalts des Romans als auch der Parallelen zur Gegenwart bewusst wäre. Aber da kann ich vermutlich lange warten. Dafür bietet sich einem in Mr. Jim Moons Bibliothek der Träume jetzt die Gelegenheit, der legendären Radioadaption zu lauschen, mit der der geniale Orson Welles und sein Mercury Theater im Oktober 1938 die amerikanische Öffentlichkeit in Angst und Schrecken versetzten. Wer sich für das Script dieser Sendung interessiert, findet es hier.

Phenderson Djèlí Clark hat in seinen ‘Musings of a Disgruntled Haradrim’ einen sehr interessanten dreiteiligen Aufsatz über die Probleme veröffentlicht, denen sich ein afroamerikanischer Schriftsteller gegenübersieht, der ‘afrikanische’ Fantasy schreiben will. Seine Überlegungen reichen von W.E.B Du Bois und dem Afrikabild der Harlem Renaissance über Charles Saunders’ Sword & Soul bis zu der stets drohenden Gefahr des Exotismus und wie man ihr (vielleicht) entgehen kann. Auch wenn ich nicht in allen Punkten mit dem Autor übereinstimme – Äußerst lesenswert!
Der Aufsatz hat mich außerdem mit der Website indiGENEous: African Fantasy des nigerianischen Autors Gene O bekannt gemacht.

Übersetzerin Susanne Gerold hat ein Crowdfunding-Projekt gestartet, um die Übersetzung des vierten Bandes von David Zindells Valashu-Epos zu ermöglichen. Auch wenn ‘spirituelle Fantasy’ nun ganz sicher nicht mein Ding ist, halte ich diese Aktion für ebenso bewunderungswürdig wie unterstützenswert. Kann man sich etwas frustrierenderes vorstellen, als den Abschluss einer geliebten Geschichte nicht lesen zu können, obwohl man weiß, dass er existiert?

Mittwoch, 23. Mai 2012

This Town Needs an Enema !



Im Gefolge von Joss Whedons Avengers* tauchen überall in der phantastischen Netzgemeinde wieder einmal Posts über das Superhelden - Genre auf. Über den Film selbst kann ich aus meinem kinolosen Exil heraus nichts sagen, aber obwohl ich mit Whedons Post-Buffy-Oeuvre nur sehr unvollständig vertraut bin, traue ich es ihm zu, einen amüsanten und spannenden Streifen produziert zu haben. Jedenfalls sind die Avengers bei so unterschiedlichen Leuten wie Dan & Kyra von FerretBrain, Jim Moon von Hypnogoria und Mike & Jay von RedLetterMedia gut angekommen, und glücklicherweise scheint Whedon darauf verzichtet zu haben, den Nolan zu machen. Sein Film nimmt sich selbst offenbar nicht gar zu ernst.
Was mich bei Durchsicht einiger der erwähnten Posts allerdings wieder einmal erstaunt hat, ist die absolut unkritische Sicht auf das Genre, die dort gepflegt wird. Niemand scheint auf die Idee zu kommen, dass dem Typus des Superhelden per se etwas Problematisches anhaften könnte.

Ich will gleich vorwegschicken, dass ich kein Comicleser bin. Meine Ansichten stützen sich fast ausschließlich auf die filmischen Varianten, ‘Sekundärliteratur’ und den gesunden Menschen-verstand. Der Superheld** ist bekanntlich ein Kind der Goldenen Ära der amerikanischen Pulps, seine direkten Vorläufer waren Figuren wie The Shadow oder Doc Savage. Es scheint mir kaum besonders weit hergeholt zu sein, in ihm den ins Groteske überzogenen Ausdruck des extremen Individualismus zu sehen, der schon immer ein Kernbestandteil der quasioffiziellen Ideologie der US-Gesellschaft war.
Welche Problematik damit gegeben ist, zeigt sich bereits bei DC’s Erstgeborenem – Superman. Wie nicht wenige SciFi-Begeisterte ihrer Zeit, hegten auch die Schöpfer des ‘Man of Steel’, Jerry Siegel und Joe Shuster, Sympathien für die politische Linke. Superman sollte die Werte des New Deal verkörpern: Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Gleichzeitig ist er so etwas wie die wandelnde Realisierung des Amerikanischen Traums: Der Immigrant, der sich vollkommen integriert und sich dank seines Fleißes eine respektable Stellung in der Gesellschaft erworben hat (seinen Job beim Daily Planet verdankt Clark Kent ja nicht seinen Superkräften). Der Widerspruch ist eklatant. Denn wenn die 1930er Jahre etwas gezeigt hatten, dann dass das Ethos des Individualismus – der 'American Way of Life' – nicht der Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit ist. Alle progressiven Reformen der Roosevelt-Ära waren vielmehr das Ergebnis von Massenkämpfen, insbesondere von militanten Streikbewegungen. Man könnte beinah so weit gehen, in Superman den Ausdruck einer ganz spezifischen Schwäche zu sehen, an der ein Großteil der amerikanischen Linken jener Jahre litt. Viele Radikale glaubten nämlich, dass ihre Ideale sich mit einem ungebrochenen US-Patriotismus vereinbaren ließen, ja dass sie bloß der konsequente Ausdruck der ‘amerikanischen Werte’ seien. Hatte nicht selbst der Chef der US-Stalinisten Earl Browder 1936 verkündet: ‘Communism is the Americanism of the Twentieth Century’?

Ein Kommunist ist der Mann aus Stahl natürlich nie gewesen, und auch seine ursprüngliche Verbindung zu ‘linken’ Werten sollte sich im Laufe seines weiteren Lebens schon recht bald verflüchtigen. Dennoch verdeutlichen die Umstände seiner Geburt meiner Meinung nach ziemlich gut eines der Probleme, die unauflöslich mit dem Typus des Superhelden verbunden sind. Die ihm zugrundeliegende ultraindividualistische Ideologie, der Glaube an die überragende Bedeutung ‘außergewöhnlicher Persönlichkeiten’, macht es letztlich unmöglich, ihn zum Träger wirklich fortrschrittlicher Ideen zu machen. Mehr noch, jedem Versuch, im Rahmen einer Superhelden-Story Elemente der gesellschaftlichen, ja selbst der individuell-menschlichen Wirklichkeit zu behandeln, sind damit äußerst enge Grenzen gesetzt.
Freilich kann man versuchen, den Superhelden zu einer konzentrierten Verkörperung des Heroismus der ‘einfachen Bevölkerung’ zu machen, ihm also eine Art Stellvertreterfunktion zuzuweisen. In gewisser Weise hat genau dies Sam Raimi mit seinen ersten beiden Spiderman-Filmen versucht.*** Aber auch wenn dies den Streifen einen gewissen Charme verleiht, insbesondere wenn man sie mit den meisten anderen Superheldenflicks des letzten Jahrzehnts vergleicht, wiederholt sich dabei doch nur das Problem, das schon Siegel und Shuster mit ihrem Superman hatten. Peter Parker ist zwar eine sehr viel menschlichere und 'realistischere' Figur als Clark Kent, aber letztlich bleibt doch auch er der heroische Einzelkämpfer.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Superhelden beinahe von Anfang an in den Dienst rechter Propaganda gestellt wurden. Das bekannteste Beispiel aus der Frühzeit des Genres ist sicher Captain America. 1940/41 ganz bewusst als Vehikel für die Kriegspropaganda geschaffen, wobei wie so oft ‘Patriotismus’ und Profitinteressen Hand in Hand gingen. In den Worten von Zeichner Jack Kirby "Everybody was patriotic, and it was ridiculous not to do Captain America because there was an idea that would have been bought by everybody, so Joe [Simon] and I did that. Our job was to sell comic books, and we did." Dass der frühe Captain America reichlich Nazis vermöbelt, macht ihn nicht zu einer sympathischeren Gestalt. Die US-Regierung stellte ihre Intervention in den 2. Weltkrieg zwar als einen Kreuzzug für die Freiheit dar, und viele Amerikaner – Soldaten wie Zivilisten – waren von einem ehrlichen Hass auf den Faschismus beseelt, doch spätestens ein Blick auf den Pazifikkrieg macht den imperialistischen Charakter des Unternehmens offenkundig. Entsprechend treiben Chauvinismus und Rassismus immer dann besonders hässliche Blüten, wenn Captain America gegen die ‘Japse’ ins Feld zieht. 1954 erlebte die Figur eine kurzlebige Wiederauferstehung als 'Captain America, Commie Smasher'.
Joe Johnstons Film aus dem letzten Jahr versucht zwar die Figur etwas dem 'liberalen' Zeitgeschmack anzupassen, bleibt im Kern jedoch ganz die alte patriotische Propagandafabel, der eine ordentliche Dosis nostalgischer Sehnsucht nach einer 'ehrlicheren', 'einfacheren' Vergangenheit beigemischt wurde. Letzteres ist vielleicht das eigentlich Entscheidende an der filmischen Wiederbelebung Captain Americas. Auch in den Avengers spielt er offenbar die Rolle des Idealisten und des 'decent chap'. Mit seiner Figur wird das Bild eines vergangenen, 'besseren' Amerika heraufbeschworen, einer Nation vereint unter dem Sternenbanner, als alle zusammenstanden und ihre Pflicht erfüllten. Mit anderen Worten, er ist zur Verkörperung des Mythos von der 'Greatest Generation' geworden, den Tom Brokaw 1998 in seinem gleichnamigen Buch entwickelt hat. Wie jeder Mythos hat auch dieser wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Die 30er Jahre erlebten die vielleicht heftigsten Klassenkämpfe in der Geschichte der USA, die großen Streiks, die seit 1935 1934 das Land erschütterten, nahmen oft bürgerkriegsähnliche Formen an, objektiv betrachtet standen die Vereinigten Staaten am Rande einer Revolution. All dies ignoriert Brokaw geflissentlich in seiner Geschichtsklitterung. Ganz wie Europa stehen auch die USA heute erneut am Vorabend gewaltiger sozialer Kämpfe, zu denen die letztjährigen Massendemonstrationen in Wisconsin und die Occupy-Bewegung lediglich erste zaghafte Vorscharmützel darstellten. In diesem Kontext sind die Ideen von 'nationaler Einheit' und 'Pflichterfüllung', die Captain America verkörpert, besonders giftig und kritikwürdig.

Aber Cap ist bei weitem nicht der unsympathischste Kerl in der Avengers-Bande. Dieser Titel gebührt zweifelsohne Tony Stark alias Iron Man. Er war von Anfang konzepiert als die ultimative Ikone des Kapitalismus und Militarismus. Und wenn Kirby & Simon sich bei der Erschaffung von Captain America auf eine relativ breite patriotische Stimmung in der Bevölkerung stützen konnten, war Iron Man von Stan Lee als eine bewusste Provokation gegen die junge Comicleserschaft von 1963 gedacht: "I think I gave myself a dare. It was the height of the Cold War.  The readers, the young readers, if there was one thing they hated, it was war, it was the military....So I got a hero who represented that to the hundredth degree. He was a weapons manufacturer, he was providing weapons for the Army, he was rich, he was an industrialist....I thought it would be fun to take the kind of character that nobody would like, none of our readers would like, and shove him down their throats and make them like him ..." Als Vorbild diente ihm dabei der rechtsextreme exzentrische Milliardär Howard Hughes. Ja, eben der Hughes, dem Martin Scorsese in einem der peinlichsten Filme seiner Karriere ein Denkmal gesetzt hat. Die frühen Iron Man - Stories waren nicht viel mehr als eine besonders schamlose Glorifizierung der US-Verbrechen in Vietnam. Aber Stark war nicht nur als der unbesiegbare Champion gegen den Kommunismus gedacht, als einzelgängerischer und genialer Erfinder knüpfte sein Charakter auch an den alten amerikanischen Erzähltypus der Edisonade an.
Die Filme von Jon Favreau haben die Figur in ihren Grundzügen nicht verändert. Vietnam wurde gegen Afghanistan, der ‘rote Tyrann’ Wong-Chu gegen den ‘Terroristen’ Reza ausgetauscht. Der neokolonialistische Inhalt ist derselbe geblieben. Starks narzissistisches Streben nach absoluter Unabhängigkeit, die strikte Weigerung, seine genialen Kriegsspielzeuge der Regierung zu übergeben, hat nichts rebellisches an sich, ist vielmehr – ganz im Geiste der Edisonade – Ausdruck eines extremen unternehmerischen Individualismus: Was ich erfunden habe ist mein privates Eigentum! Sein Auftritt vor dem Senatsausschauss steht ganz in der Tradition der Gerichtsszene in Ayn Rands Fountainhead (bzw. dem gleichnamigen Film von King Vidor).
Um so erschreckender ist die positive bis begeisterte Aufnahme, die vor allem der erste Film bei der Mehrheit der Kritiker und Kritikerinnen gefunden hat. So erklärte Michael Mirasol, der sich selbst als ‘Film fan – Feminist – Critic’ bezeichnet, kürzlich: "Many saw Jon Favreau's Iron Man (2008) as a showcase of Robert Downey Jr.'s immense gifts, but it was also (unintentionally or not) a surprising and satisfying ode to America's wish to finally use its unmatched corporate, technological and military might to do actual good." Ein egomanischer Ultrakapitalist in Roboterrüstung, der afghanische ‘Terroristen’ abmetzelt, als Symbol für den richtigen Einsatz amerikanischer Macht? Was geht in solchen Köpfen bloß vor? Das Wörtchen ‘finally’ lässt mich vermuten, es mit einem jener rückgratlosen ‘Liberalen’ zu tun zu haben, die die Bush-Administration verabscheuten, nur um nach Barack Obamas Wahlsieg mit fliegenden Fahnen ins Lager der Kriegstreiber überzulaufen, und die seitdem jede neue militärische Aggression des Westens als ‘humanitäre Rettungsaktion’ feiern.
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht von Interesse zu wissen, dass Marvel Comics seit 2005 im Rahmen der Intitative America Supports You direkt mit dem Pentagon zusammenarbeitet und eine ausschließlich für Mitglieder des US-Militärs gedachte Reihe der New Avengers herausgibt. Ein Blick auf die Cover der Heftchen lehrt einen das Gruseln.
Das klingt jetzt vielleicht so, als wäre ich der Ansicht, das ganze Superhelden-Genre sei mehr oder weniger Müll, wenn nicht schlimmeres, und kein Superheldenfilm sei es wert, auch nur einen Cent oder eine Minute seines Lebens auf ihn zu verschwenden. Dem ist nicht so. Charaktere wie Captain America oder Iron Man sind in der Tat ‘nicht zu retten’, aber unter den Superhelden bilden sie doch eine Minderheit. Das eigentliche Problem sehe ich darin, dass die meisten Superheldenfilme des letzten Jahrzehntes von Leuten gemacht wurden, die ihren Stoff viel zu ernst nehmen. Wie es Mike Stoklasa von RedLetterMedia bezüglich X-Men: First Class so treffend ausgedrückt hat: "I just wish it was more silly." Wenn man anhand von Gestalten wie Wolverine, dem Hulk, Batman oder Magneto versucht, etwas substanzielles über den Menschen oder die Gesellschaft auszusagen, kann das Ergebnis nur entweder banal oder lächerlich sein. Die Macher der klassischen Superman-Filme mit Christopher Reeve hatten das verstanden. Diese lassen nicht für einen Moment Zweifel daran aufkommen, dass man Clark Kents Abenteuer nicht bierernst nehmen darf. Deshalb sind sie zwar vielleicht keine cineastischen Meisterwerke, aber weder dumm noch prätentiös.

Es muss natürlich nicht gleich ganz so absurd sein, wie die legendäre Batman-Serie aus den Sixties, auch wenn die wirklich ein ganz großer Spaß ist.


Ein grandioses Gegengift zu der heutigen Mode, Batman zu so etwas wie einer modernen Mythengestalt hochzustilisieren! Irgendwann werde ich vielleicht mal etwas über diese Serie schreiben, denn auch wenn sie furchtbar 'cheesy' ist, heißt das noch lange nicht, dass sie schlecht wäre, ganz im Gegenteil.
Meine Lieblingsadapation des Caped Crusader ist allerdings nach wie vor Tim Burtons Gothic-Groteske von 1989. Der Film ist nicht nur Fun, aber er weiß, wo die Grenze liegt, die nicht überschritten werden darf. Er will kein tiefgründiger Kommentar zur Lage der Gesellschaft oder ein ernstzunehmendes psychologisches Porträt sein. Dafür hat er großartige Sets und Kostüme, einen verdammt coolen Soundtrack (Danny Elfman und Prince), ein gutes Drehbuch und Jack Nicholson als den Joker – Was will man mehr?


Das schlimmste Beispiel für die völlig überzogene Bedeutung, die Superheldengeschichten in den letzten Jahren zugesprochen wird, sind hingegen Christopher Nolans Dark Knight - Filme. Daran kann auch das Talent des viel zu früh verstorbenen Heath Ledger nichts ändern. Nolan, berühmt geworden mit dem auf 113 Minuten ausgewalzten Gimmick Memento, ist klassischer Vertreter einer Ära, in der Cleverness mehr zählt als Intelligenz oder künstlerische Sensibilität. Seine Batman - Adaptionen versuchen den Anschein zu erwecken, komplex und substanzvoll zu sein, stellen bei Lichte betrachtet aber nicht mehr dar als die Übertragung der modischen denkfaulen Misanthropie auf das Superhelden-Genre. Der sozialistische Filmkritiker David Walsh spricht bei Nolan sehr richtig vom "’market pessimism’ of the comfortable petty-bourgeois cinema professional, who never misses a meal or a career opportunity. He or she proceeds from the café or the restaurant to the film festival screening, the interview session, the production meeting or the film set itself and then back to the hotel or the pleasantly appointed apartment in a fashionable section of town unburdened by the troubles of the world. The ‘darkness’ comes later, as more or less an afterthought, grafted onto whatever project or script is at hand. It’s a posture, not a commitment."

Das einzige ernsthafte Thema, das in einigen Superheldenfilmen des letzten Jahrzehnts in beschränktem Maße erfolgreich behandelt wurde, ist das des Außenseitertums. Dafür stehen die ersten beiden X-Men - Filme, vor allem aber Guillermo del Toros Hellboy. Freilich zeigen besonders erstere auch sehr deutlich die Begrenztheiten des Genres. Als Metapher für eine gesellschaftlich ausgegrenzte Gruppe sind die Mutanten nur bedingt geeignet. Ihr 'Anderssein' manifestiert sich in der Form besonderer Kräfte, die sie nicht nur deutlich von den 'Normalen' unterscheidet, sondern sie ihnen in vielerlei Hinsicht tatsächlich überlegen macht. Problematischer noch ist, dass die Geschichte ausschließlich aus Sicht der Mutanten erzählt wird, denen die übrige Menschheit als eine mehr oder weniger kompakte, von Misstrauen und Feindseligkeit beherrschte Masse gegenübersteht. Professor Xavier predigt zwar Toleranz, doch ich kann mich nicht erinnern, dass wir im Verlauf der Handlung jemals ein echtes Miteinander von 'Normalen' und Mutanten demonstriert bekommen würden. In dieser Hinsicht sieht es bei Hellboy etwas anders aus. Wie die X-Men müssen auch die 'Freaks' Hellboy, Abe Sapien und Liz Sherman um ihre eigene Identität ringen und sehen sich der Intoleranz der 'Normalen' ausgesetzt, aber in ihrer Interaktion mit Professor Broom und John Myers erleben wir auch sehr anschaulich, dass es eine Basis für ein Miteinander gibt. Wahrscheinlich allerdings gebe ich dem Film vor allem deshalb den Vorzug, weil das Groteske der Geschichte (Naziokkultismus; Rasputin; cthulhuoide Chaosgötter; ein Teufel, der Schokoriegel und Katzen liebt) und del Toros bizarr-barocke Ästhetik meinem persönlichen Geschmack entgegenkommen.

Zum Schluss stellt sich für mich die Frage, warum gerade in den letzten zehn Jahren so viele Superheldenfilme produziert wurden. Wir alle wissen natürlich, dass Hollywood schon seit geraumer Zeit an akuter Ideenlosigkeit leidet. Die zahllosen Sequels, Prequels, Remakes und Reboots geben davon beredtes Zeugnis ab. Ein Grund könnte also ganz einfach der sein, dass die Comicuniversen von DC und Marvel ein leicht zuängliches Themenreservoir für einfallslose Filmemacher darstellen, die sonst nicht wüssten, was sie dem Publikum als nächsten Sommerblockbuster präsentieren sollten. Doch ich denke, das Problem reicht tiefer. Viele heutige Fimemacher haben offenbar große Schwierigkeiten, sich mit einer komplexen, unübersichtlichen und sich rasch verändernden Wirklichkeit auf eine angemessen kritische und komplexe Art künstlerisch auseinanderzusetzen. Sie tendieren deshalb zu Simplifizierung und Oberflächlichkeit. Das Superheldengenre kommt dem entgegen, was vor allem erklären würde, warum es auf einmal zum Medium einer vorgeblich ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Menschen, der Gesellschaft, der Geschichte gemacht wird, was es per definitionem niemals sein kann. Es gibt allerdings noch eine dritte, sehr viel bedenklichere Erklärung. 'The King of Elfland's 2nd Cousin' schreibt in seinem Blog: "Thirty years ago, Moore’s Watchmen showed us that heroes and villains need not be archetypal or aspirational. That they can be flawed, and human, and with all of the ugliness and beauty that entails. [...] But today is a very different world, beset by very different problems – environmental, political, social, economical, and diplomatic. And over the course of the last decade, it seems to me that the super hero pendulum has been swinging back in the direction of greater escapism: to offer a soothing balm to the challenges of our real world. In real life, there are no heroes able to step up and deal with these very real problems on our behalf. And when – as these days – we see our leaders failing to do so, when we see our neighbors failing to do so, and when we see ourselves failing to do so, it is only natural that we should fantasize about a group of different people, with different backgrounds, different beliefs, and different skills doing the impossible." Es wundert mich, dass er offenbar nichts beunruhigendes an dieser Erklärung findet. Die Faszination des Superhelden hatte wohl schon immer zwei Seiten. Entweder wir identifizieren uns mit ihm und leben auf diese Weise unsere eigenen Allmachtsfantasien aus, oder er erscheint uns als ein Retter und Erlöser. Dass angesichts der ökonomischen und politischen Turbulenzen unserer Zeit viele Menschen von einem Gefühl der Hilflosigkeit ergriffen werden, kann ich mir sehr gut vorstellen. Aber das Letzte, was wir in dieser Situation brauchen, sind Messiasträume. Es wird niemand kommen und für uns die Probleme lösen. Wir selbst sind die einzigen, die dazu in der Lage sind. Und falls doch ein 'Führer' auftaucht, der uns zu retten verspricht, sollte uns die Geschichte des letzten Jahrhunderts gelehrt haben, was wir von ihm zu erwarten haben.


* Weiß eigentlich irgendwer, warum der Streifen in Großbritannien unter dem Titel Avengers Assemble in die Kinos gekommen ist? Um Verwechselungen mit den Avengers zu vermeiden? Wer wäre nach der Katastrophe von 1998 denn verrückt genug, um sich noch einmal an Mr. Steed und Emma Peel vergreifen zu wollen?
**  Angesichts des endemischen Sexismus des Genres halte ich es für gerechtfertigt, im Folgenden stets die männliche Form zu verwenden. Wer sich für die inzwischen ausgebrochenen Diskussionen über Black Widow und die Frage, wie feministisch oder auch nicht Whedons Film ist, interessiert, kann hier oder hier nachschauen. Persönlich finde ich diese Debatte wenig erhellend.
***  Wenn ich es recht verstanden habe, besteht die Hauptaufgabe der gerade anstehenden Neuauflage der Peter Parker - Story darin, genau dieses verschwommen humanistische und demokratische Element auszuradieren.

Freitag, 18. Mai 2012

Auch wenn kein Blut tropft

Mit The House That Dripped Blood aus dem Jahre 1970 bewegen wir uns ungefähr auf dem gleichen Niveau wie bei From Beyond the Grave. Und wie dort sticht auch hier eine der Episoden in qualitativer Hinsicht deutlich hervor. Daneben aber funktioniert hier ausnahmsweise einmal auch die humorige Geschichte, was in den Amicus-Episodenfilmen sonst eher nicht der Fall ist. Als Regisseur hatten sich Max & Milton mit Peter Duffell diesmal einen TV-Mann geangelt, als Stars waren Peter Cushing, Christopher Lee und Ingrid Pitt verpflichtet worden, und für das Drehbuch zeichnete der alte Lovecraft-Kumpel und Psycho-Autor Robert Bloch verantwortlich.
Duffell wollte dem Film ursprünglich den recht prätentiösen Titel The Death and the Maiden verpassen, u.a. deshalb weil wir in einer der Geschichten Schuberts Streichquartett zu hören bekommen, aber Subotsky setzte lieber auf das Reißerische als auf das Kulturvolle, was angesicht des Formats durchaus angemessen erscheint. Entsprechend schaut denn auch der Trailer aus:


Ja, das ist Trash, aber es ist guter Trash. Und es ist selbstironischer Trash.
Alle vier Episoden drehen sich um ein Haus und seine Bewohner. Kürzlich ist der bekannte Schauspieler Paul Henderson, der sich dort einquartierte, auf mysteriöse Weise verschwunden, und Scotland Yard hat Inspektor Holloway geschickt, um den Fall aufzuklären. Dieser bekommt vom örtlichen Polizisten und dem Makler, der für die Vermietung des Hauses verantwortlich ist, zuerst einmal Geschichten über frühere Bewohner und deren Schicksale erzählt.

Die ersten beiden Episoden leben vor allem von ihren Hauptdarstellern Denholm Elliot und Peter Cushing, sowie von den geschickten und stimmungsvollen Inszenierungen Duffels.
Man sollte nie vergessen, über welch geringes Budget der Regisseur bei solchen Produktionen verfügte. Entsprechend beschränkt war er in der Auswahl seiner Settings. Und Duffell holt wirklich das größtmögliche aus diesem begrenzten Potential heraus. Insbesondere gelingt es ihm immer wieder, das Haus (in Wirklichkeit ein ‘gothic’mäßig aufgemotztes Cottage auf dem Studiogelände) und seine Räumlichkeiten – vor allem die Treppe und das Studierzimmer – geschickt in Szene zu setzen.
Leider sind die Stories selbst nicht besonders überzeugend. In Method for Murder versucht Bloch zu clever zu sein, und Waxworks mangelt es bei Lichte betrachtet an der auch in einer phantastischen Geschichte notwendigen Logik.

Richtig gut wird es dann, wenn Christopher Lee, Nyree Dawn Porter und die elfjährige Chloe Franks in Sweets to the Sweet die Bühne betreten. Ein steifer, reservierter Witwer, der seine kleine Tochter äußerst kühl, man könnte beinahe meinen gefühllos behandelt und von der Welt und dem Leben abzuschotten versucht. Eine ebenso intelligente wie warmherzige Hauslehrerin, auf die das Verhalten des Vaters immer merkwürdiger und empörender wirkt. Und schließlich das kleine Mädchen selbst, das mehr ist, als es zu sein scheint. Ich werde die Auflösung nicht verrraten, aber das großartige an dieser Episode ist ihre Ambivalenz. Wer ist hier der oder die Böse? Haben wir es mit eingeborener Grausamkeit oder mit einer über alle Stränge schlagenden Form von Vergeltung oder Widerstand zu tun?

Die Entscheidung, die humorvolle Episode nicht wie gewöhnlich in der Mitte, sondern am Ende zu plazieren, wirkt auf den ersten Blick eigentümlich. Duffell fehlt damit die Gelegenheit, vor dem Finale erneut eine unheimliche Stimmung aufzubauen. Klugerweise versucht er das auch gar nicht erst, sondern lässt den Film stattdessen mit einer ausgesprochen grotesken Sequenz ausklingen. The House That Dripped Blood beginnt als typischer Amicus-Horror und endet als Parodie auf denselbigen. Diese eigenartig hybride Form wirkt zwar etwas irritierend, aber irgendwie auch charmant.
Bedauerlicherweise war es Vincent Price unmöglich, den ihm angebotenen Part des Paul Henderson zu übernehmen, da ihm sein Vertrag mit American International Pictures untersagte, in Horrorfilmen anderer Studios aufzutreten. Ohne die Leistung Jon Pertwees – des dritten Doctor Who – schmälern zu wollen, hätte Price der Episode The Cloak sicher noch einen zusätzlichen Kick verliehen.
Henderson ist ein eitler Horrordarsteller, der in einem Low Budget - Vampirstreifen à la Hammer mitwirken soll. Seine Filmpartnerin Carla Lind wird von Ingrid Pitt gespielt, die nach ihren Auftritten in der Carmilla-Adaption The Vampire Lovers und in Countess Dracula die Vampirlady der Zeit war. Die Szenen auf dem Set machen sich über die Eigenheiten des Brit-Horrors lustig: Papp-Kulissen, ein junger, unerfahrener Regisseur, ein extrem enger Drehplan, ein reißerischer Titel (The Curse of the Bloodsuckers). Derweil singt Henderson Oden auf die Universal - Klassiker der 20er/30er, "the old ones, the great ones ... Frankenstein, Phantom of the Opera, Dracula – the one with Bela Lugosi of course, not this new fellow [= Lee, den wir ja noch kurz zuvor gesehen haben]". Entsetzt über den Umhang, den er tragen soll ("Who does this belong to, the Flying Nun?"), macht er sich auf die Suche nach einem stilvolleren Vampirkostüm und gelangt dabei in einen merkwürdigen Antiquätenladen. Die Figur des sinistren Besitzers Theo von Hartmann, verkörpert von Geoffrey ‘Catweazle’ Bayldon, ist eine Hommage an den großen Ernest Thesiger in seiner Rolle als Dr. Pretorius in James Whales Bride of Frankenstein. Der Umhang, den Henderson dort erwirbt, erweist sich schon bald als sehr authentisch, und die Handlung begibt sich mit Volldampf in die Gefilde des Absurden. Petwee und Pitt hatten offensichtlich einen Höllenspaß. Zuguterletzt wird auch Inspektor Holloway in diese grotesken Ereignisse verstrickt. Ein Jammer allerdings, dass Duffell das Finale im Keller auf Anweisung des Verleihs kürzen und umarrangieren musste. Dieses war ursprünglich als ironische Verbeugung vor dem Stummfilm-Horror mit seiner Vorliebe für das Spiel mit den Schatten (Nosferatu) gedacht, was zwar auch in der verstümmelten Fassung noch zu erkennen ist, aber eben nicht mehr so zur Wirkung kommt, wie von Duffell beabsichtigt.

Was bleibt zu sagen? The House That Dripped Blood ist ein eigenartiges Mischwesen unter den Amicus - Episodenfilmen. Sehenswert, aber kein echter Knaller. Und in Sachen Groteske wird er von unserem nächsten Kandidaten – The Vault of Horror – noch deutlich übertroffen werden.

Dienstag, 15. Mai 2012

Bevor mich der Blitz beim Scheißen trifft

Ich liebe J.R.R. Tolkien und ich verachte C.S. Lewis. Auf den ersten Blick wirkt diese entgegengesetzte Reaktion auf zwei einander nahestehende Schriftsteller absolut willkürlich. Einer wie der andere war Vertreter eines ultrakonservativen, antimodernen Weltbildes, und um ehrlich zu sein, in vielen Fällen erwies sich ‘Tollers’ als der schlimmere Reaktionär. Lewis hat wenigstens nicht General Franco und seinen Faschisten zugejubelt.

Meine Gefühle für Tolkien sind sicher nicht frei von Sentimentalität. Ich habe sein Werk im Alter von elf, zwölf Jahren kennengelernt, und das war keine glückliche Periode in meiner Kindheit. Inmitten von Einsamkeit und Depression war Mittelerde so etwas wie ein rettendes Eiland. Ich werde den Herr der Ringe deshalb nie ganz unbeteiligt betrachten können, so kritisch mein Blick auf ihn inzwischen auch geworden ist.   Es gibt denke ich aber auch objektivere Gründe für die scharfe Trennung, die ich zwischen den beiden Freunden vornehme. Tolkien war nicht nur einfach der bessere Schriftsteller (im Sinne von Sprachkünstler), seine Sicht der Welt, wie sie sich in seinen Werken widerspiegelt, scheint mir auch differenzierter und humaner zu sein. Vor allem fehlt ihm die bösartige Gehässigkeit, die den wohl unangenehmsten Charakterzug des Literaten Lewis ausmacht. Ursula K. Le Guin bemerkte einmal sehr treffend, die meisten von Lewis’ Büchern seien "full of hatred and contempt for people who [don't] agree [with him]. The division into good and evil [i]s different from Tolkien, where evil beings are only a metaphor for the evil in our lives; he never casts people into the outer darkness as Lewis enjoyed doing."

Das vielleicht eindringlichste Beispiel hierfür ist der 1945 veröffentlichte Roman That Hideous Strength (Die böse Macht), der dritte Teil der Perelandra-Trilogie. Daneben illustriert er auf vorzügliche Weise, wie reaktionär die ideologische Ausrichtung der Inklings tatsächlich war. Wer sich in dieser Hinsicht noch irgendwelche Illusionen macht, sollte sich unbedingt einmal durch den Wälzer hindurchquälen. Ein Vergnügen ist das allerdings nicht. Tolkien mochte den Roman übrigens nicht besonders, was aber ausschließlich stilistische Gründe hatte. Als Lewis ihn im Kreis der Inklings vorzulesen begann, notierte er in sein Tagebuch: "Kitschig, wie ich befürchtete." (1) Der Einfluss von Charles Williams’ ‘metaphysischen Thrillern’ (Descent to Hell, All Hallows’ Eve) ist bei That Hideous Strength besonders deutlich zu spüren, und da Tolkien "Williams Ideen völlig antipathetisch gegenüber" stand, glaubte er, dass der "Kontakt mit C. S. Williams und seinem ‘Artus’-Zeug" (2) das Buch völlig verdorben habe "so gut es für sich genommen auch ist". (3) Der einschränkende Zusatz macht deutlich, dass die ihm zugrundeliegenden Wertvorstellungen von Tolkien voll und ganz geteilt wurden.


Im Zentrum des Romans steht das Ehepaar Jane und Mark Studdock. Mark ist ein junger, ehrgeiziger und ziemlich oberflächlicher Soziologiedozent an der Universität Edgestow, der unbedingt in die einflussreichen und ‘progressiven’ Kreise des akademischen Establishments aufsteigen will. Er erhält die Chance, Mitglied der neu gegründeten Organisation N.I.C.E. (National Institute for Coordinated Experiments) zu werden, deren offizielles Ziel es ist, die Gesellschaft nach wissenschaftlichen Grundsätzen umzugestalten, und die dabei ist, eine Art Staat im Staate zu werden. In Wirklichkeit ist das Institut ein Instrument Satans. In ihm verkörpern sich die verhassten Kräfte der Moderne und der eitle und ignorante Horace Jules – das offizielle Oberhaupt der Organisation – ist ein karrikierter H. G. Wells. Der Titel des Romans ist übrigens ein Zitat aus dem Gedicht Ane Dialog Betuixt Experience And Ane Courteour des schottischen Renaissance-poeten David Lyndsay. Dort bezieht sich die Formulierung auf den Turm von Babel: "The schaddow of that hydduous strenth/ Sax myle and more it is of lenth" (V. 1751f.). Und der mythische Wolkenkratzer ist ja schon immer eine der beliebtesten Metaphern für die angebliche Hybris der Moderne gewesen.

Während Mark also auf den Pfaden des Bösen wandelt, schließt sich die hellseherisch begabte Jane nach anfänglichem Zögern einer kleinen Schar Aufrechter an, die sich unter Führung Arthur Ransoms – des ‘Meisters’ – in einer Art Kommune in St. Anne zusammengefunden hat, um der teuflischen Bedrohung Widerstand zu leisten.
Die Ereignisse spitzen sich zu, als der unter dem Wald von Bracton ruhende Merlin zu neuem Leben erwacht und sich dem ‘Meister’, der zugleich der ‘Pendragon von England’ ist, anschließt (soviel zum ‘Artus-Zeug’). Und als wäre das nicht schon abstrus genug, steigt zuguterletzt auch noch eine Schar von Engeln aus den himmlischen Sphären herab, um den Zorn Gottes über die Anhänger von N.I.C.E. zu bringen.

Michael Moorcock schreibt in Epic Pooh über Lewis, Tolkien und ihre Brüder im Geiste: "One should perhaps feel some sympathy for the nervousness occasionally revealed beneath their thick layers of stuffy self-satisfaction, typical of the second-rate schoolmaster, but sympathy is hard to sustain in the teeth of their hidden aggression which is so often accompanied by a deep-rooted hypocrisy". (4) Und tatsächlich ist That Hideous Strength trotz einiger treffender Beobachtungen über die Machtgier elitärer Technokraten ein alles in allem unerträglich heuchlerisches, unehrliches und bösartiges Stück Literatur.

So etwas wie Schutzpatron und ideologischer Übervater der Inklings war Gilbert Keith Chesterton. Heute vielen vielleicht nur noch als Schöpfer Pater Browns bekannt, war dieser geistreiche Prediger eines lebensfrohen Katholizismus der wohl einflussreichste Kritiker der Moderne im England des beginnenden 20. Jahrhunderts – eine faszinierende und widersprüchliche Gestalt, der man mit mit der simplen Bezeichnung 'Reaktionär' nicht gerecht wird. Ziel seiner mit viel Witz und Verve vorgetragenen Attacken waren neben Autoren wie Wells und George Bernard Shaw der Rationalismus, die materialistische Philosophie, der Fortschrittsgedanke, Nietzsche, der Skeptizismus, der Kapitalismus, Darwins Evolutionstheorie, der Feminismus, der Sozialismus, die ‘freie Liebe’ und ein gutes Dutzend weiterer ‘Ketzereien’.
In seinem Buch Orthodoxy hatte Chesterton den Rationalisten mit einem Verrückten verglichen, denn wenn die menschliche Vernunft die ihr von den religiösen Autoritäten gesetzten Grenzen nicht mehr anerkenne, so werde sie an sich selbst irre werden und in Wahnsinn und Selbstvernichtung enden.  Es ist dieser christliche Antiintellektualismus, der den Gegner als krankhaft und pervers verleumdet, während er zugleich die eigene spießige Mittelmäßigkeit zum Maßstab für geistige Gesundheit erklärt, der Lewis’ Roman zu einer wirklich abstoßenden Lektüre macht. Philosophischer Materialismus und Empfängnisverhütung, Psychoanalyse und gesellschaftliche Planung, Soziologie und Frauenemanzipation, Homosexualität und humanitäre Reform des Strafvollzugs, surrealistische Malerei und Tierversuche – all das ist nicht nur 'böse', sondern widernatürlich, oder wie Lewis sich ausdrückt ‘verbogen’ (‘bent’). Der Kampf zwischen St. Anne und N.I.C.E. ist ein Kampf zwischen ‘Normalität’ und ‘Perversion’. Und was ist ‘normal’? Moral, Geschmack und Lebensstil der englischen Mittelklasse. St. Anne ist einfach eine konservative Teegesellschaft, die sich einbildet, Camelot zu sein.

Der bedeutende Genetiker und überzeugte Atheist J.B.S. Haldane – nebenbei bemerkt ein Bruder der großen Fantasyautorin Naomi Mitchison – sah sich veranlasst, eine vernichtende Kritik der Perelandra-Trilogie unter dem hübschen Titel Auld Hornie, F.R.S. zu verfassen. (5) In ihr machte er Lewis nicht nur den berechtigten Vorwurf, dieser verstehe nichts von der Wissenschaft, die er verdamme (6), sondern hob vor allem den antihumanistischen Charakter des Werkes hervor: "[M]y main quarrel with Mr. Lewis is not for his attack on my profession, but for his attack on my species. I believe that, without any supernatural promptings, men can be extremely good or extremely bad. He must explain human evil by the Devil, and human virtue by God. For him, human freedom is a mere choice between alternatives presented to our souls by supernatural beings. For me it is something creative, in the sense that each generation makes newer and greater possibilities of good and evil. [...] Mr. Lewis's characters are confronted with moral choices like slugs in an experimental cage who get a cabbage if they turn right and an electric shock if they turn left."
Die unausweichliche Konsequenz eines solchen Moralverständnisses ist der Autoritarismus. Chesterton hatte in den kirchlichen Autoritäten die unverzichtbaren Kontrollorgane gesehen, die die Menschheit vor den zerstörerischen Folgen einer ungezügelten Vernunft beschützen sollten, und war dabei u.a. zu völlig neuen Einsichten in die humanitäre Mission der Heiligen Inquisition gelangt: "Man, by a blind instinct, knew that if once things were wildly questioned, reason could be questioned first. The authority of priests to absolve, the authority of popes to define the authority, even of inquisitors to terrify: these were all only dark defences erected round one central authority, more undemonstrable, more supernatural than all – the authority of a man to think." (7) Aus gutem Grund setzte sein Freund und Mitstreiter Hilaire Belloc an den Anfang seines Buches Europe and the Faith die lateinische Sentenz Sine auctoritate nulla vita – ‘Ohne Autorität gibt es kein Leben’. Und selbstverständlich gehört es auch für C. S. Lewis zur ‘Normalität’, die gottgegebene Rangordnung unter den Menschen anzuerkennen. Gehorsam ist offenbar eines seiner Lieblingsworte. Dem ‘Meister’ ist seine Autorität vom Himmel übertragen worden, darum muss seinen Befehlen im Ernstfall blindlings folgegeleistet werden. Die Frage ist Lewis so wichtig, dass er sie sogar exemplarisch durchdiskutieren lässt. Zum Kreis von St. Anne gehört nämlich auch der skeptische MacPhee, der die vernünftige Frage nach der Grundlage von Ransoms uneingeschränkter Autorität stellt: "Ich erinnere mich nicht genau, wie Sie dazu kamen, daß man Sie Meister nennt: aber dieser Titel und ein paar andere Anzeichen lassen darauf schließen, daß Sie sich mehr als Führer einer Organisation denn als der Gastgeber einer Hausgesellschaft fühlen." Worauf Ransom lächelnd erwiedert: "Ich bin der Meister [...] Meinen Sie, ich würde mir die Autorität herausnehmen, die ich beanspruche, wenn die Beziehungen zwischen uns von Ihrer oder meiner Wahl abhingen? Sie haben mich nicht gewählt, ich habe Sie nicht gewählt. Selbst die großen Oyeresu [eine Engelsklasse], denen ich diene, erwählten mich nicht. [...] Es ist zweifellos eine Organisation, aber wir sind nicht die Organisatoren." Mit diesem Argument lässt sich jede x-beliebige theokratische Despotie legitimieren. Die Figur des MacPhee soll das Ganze wohl etwas ausgewogener erscheinen lassen. Aber da um ihn herum quasi am laufenden Band Wunder geschehen, wirkt sein Skeptizismus ungefähr so lächerlich wie der von Scully in Akte X. Aus gutem Grund hält ihn der wiedererwachte Merlin für Ransoms Hofnarren. Das entwertet natürlich auch seinen argumentativen Standpunkt, und so sind seine Diskussionen mit dem ‘Meister’ in Wahrheit nichts weiter als sinnloses Wortgeplänkel.
Die Figur der Jane Studdock dient Lewis außerdem dazu, seine Ansichten über das richtige Verhältnis von Mann und Frau darzulegen. Die von modernen Vorstellungen über Emanzipation und Gleichberechtigung irregeleitete junge Frau lernt in St. Anne nämlich, dass es zu den Pflichten eines christlichen Eheweibs gehört, ihrem Mann zu gehorchen. Gemeint ist damit freilich keine sklavische Unterwerfung, sondern das ‘harmonische Sich-Einfügen’ in die ‘natürliche Ordnung’. Nur so sei ein glückliches Eheleben möglich. Ich kann nur wiederholen: Die Lektüre dieses Machwerks ist wirklich kein Spaß ...

In einem wichtigen Punkt allerdings unterscheidet sich That Hideous Strength sehr deutlich von Chesterton. Für diesen hatte die 'soziale Frage', der Gegensatz von reich und arm, eine zentrale Rolle gespielt. Nichts davon findet sich bei C.S. Lewis. N.I.C.E. steht in den Diensten Satans, nicht der ‘Plutokraten’. Ziel der bösen Materialisten ist nicht die Unterwerfung der Menschen unter die Herrschaft einer reichen Elite, sondern die Vernichtung alles ‘Natürlichen’ und ‘Normalen’. Haldane erwähnt in Auld Hornie, dass Lewis in einer seiner Radiosendungen erklärt habe, zwar verdammten sämtliche christlichen und antiken Denker den ‘Wucher’, aber da unsere ganze gegenwärtige Gesellschaftsordnung auf ihm basiere, sei vielleicht doch ‘etwas Gutes’ dran. Wohl nicht zufällig sind die einzigen wirklichen ‘Arbeiter’, die in That Hideous Strength auftauchen, halbkriminelle Elemente, die im Auftrag von N.I.C.E. in Edgestow einfallen, die Bevölkerung terrorisieren, Frauen vergewaltigen und die natürliche Schönheit der Landschaft durch irgendwelche sinnlosen Großbauprojekte zerstören.

Das Finale des Romans schließlich ist ein Glanzstück an heuchlerischer Doppelmoral. Die ganze Zeit über ist uns Sanftmut und Menschenfreundlichkeit gepredigt worden, doch dann lässt C. S. Lewis seinen sadistischen Rachegelüsten freien Lauf. Wie den frühchristlichen Denkern, die sich an der Vorstellung ergötzten, von ihren himmlischen Sitzen aus die römischen Senatoren im Höllenfeuer brutzeln sehn zu können, bereitet es ihm offenbar ein besonderes Vergnügen, sich das göttliche Strafgericht über die ‘Perversen’ auszumalen. Zuerst wird der ‘Fluch Babels’ über die Atheisten ausgesprochen und sie verlieren die Fähigkeit, miteinander zu kommunizieren: "Qui Verbum Dei contempserunt, eis auferetur etiam Verbum hominis." – ‘Wer Gottes Wort verachtet, dem soll auch das menschliche Wort genommen werden.’ Anschließend werden die Tiere, die von den N.I.C.E. - Wissenschaftlern für Experimente vorgesehen waren, auf die verwirrte Versammlung losgelassen. Absurderweise befindet sich unter ihnen sogar ein Elefant (!), dessen Wüten Lewis so beschreibt: "Bald watete er wie ein Mädchen, das Trauben stampft, schwerfällig in einem Brei aus Blut, Knochen, Fleisch, Wein, Früchten und durchnäßten Tischtüchern." Als guter Bibelleser kennt er eben den Geschmack seines Gottes, der von sich selbst ja auch gesagt hat: "Ich allein trat die Kelter;/ von den Völkern war niemand dabei./ Da zertrat ich sie voll Zorn/ zerstampfte sie in meinem Grimm./ Ihr Blut spritzte auf mein Gewand/ und befleckte meine Kleider./ Denn ein Tag der Rache lag mir im Sinn." (Jes 63, 3-4) Chestertons Gedanken vom ‘Selbstmord der Vernunft’ wörtlich nehmend, beschreibt Lewis wie die Führer von N.I.C.E. – der Skeptiker Wither und die Materialisten Frost und Filostrato – den Verstand verlieren und sich auf ziemlich grausige Art gegenseitig umbringen. Der unverständliches Kauderwelsch vor sich hin plappernde Horace Jules - H. G. Wells ist bereits zuvor von der Chefin des N.I.C.E. - Sicherheitsdienstes, der lesbischen Sadistin Miss Hardcastle, mit einem Kopfschuss ins Jenseits befördert worden, bevor diese von den wildgewordenen Tieren und Menschen zu etwas "Schwammigem, Weißem, Blutigem" zertrampelt wird. Doch damit noch nicht genug. Gottes Zorn kommt auch über die Universitätsstadt Edgestow und radiert sie – wie weiland Sodom und Gomorrah – von der Landkarte aus. Seinen abstoßenden Höhepunkt erreicht das Szenario, wenn Lewis beschreibt, wie sich die Frauen in St. Anne – alles herzensgute und gesittete Kleinbürgerinnen – zur Feier des Sieges in prachtvolle Gewänder hüllen und dabei über Kleiderfragen tratschen – "Möchte wissen, was ein Meter von dem Zeug kosten würde." "Darin werden Sie bestimmt sehr hübsch aussehen." –, während einige Kilometer weiter eine ganze Kleinstadt dem Erdboden gleichgemacht wird.

N.I.C.E. wird als eine totalitäre Organisation beschrieben, die mit den Mitteln von Mord, Terror und Folter arbeitet. Doch das eigentliche Verbrechen besteht in Lewis’ Augen nicht in den Methoden, sondern in den Ideen der Atheisten und Materialisten. Das wird deutlich, wenn seine Helden über den Tod der Professoren von Edgestow diskutieren, die persönlich keinem Menschen je etwas zuleide getan haben: "Aber trotzdem ... gab es eine einzige in Belbury [dem Sitz des N.I.C.E.] praktizierte Doktrin, die vorher nicht von irgendeinem Professor in Edgestow gepredigt worden war? Natürlich, sie dachten nie, daß jemand nach ihren Theorien handeln würde. Niemand war bestürzter als sie, als plötzlich Realität wurde, worüber sie fünf Jahre lang geredet hatten. Es war ihr eigenes Kind, das zu ihnen zurückkam: erwachsen und nicht wiederzuerkennen, aber dennoch ihr eigenes Kind." "Sie haben nur sich selbst gespielt. Kätzchen, die sich als Tiger ausgaben. Aber es gab einen wirklichen Tiger in der Nähe, und ihr Spiel endete damit, daß sie ihn einließen. Sie haben kein Recht, sich zu beklagen, daß sie auch ein paar Stücke Blei in die Gedärme kriegen, wenn der Jäger hinter dem Tiger her ist. Es wird sie lehren, sich nicht in schlechte Gesellschaft zu begeben." (8)

Da ich selbst wohl zu diesen Kätzchen gehöre, möchte mich an dieser Stelle vorsorglich schon einmal von meinen Leserinnen und Lesern verabschieden, bevor mich der Blitz beim Scheißen trifft.

(1) Zit. nach: Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie. S. 195.
(2) Brief an Dick Plotz [12. September 1965]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 276. S. 471.
(3) Brief an Michael Tolkien (Entwurf) [November/Dezember 1963. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 252. S. 446.
(4) Michael Moorcock: Wizardry and Wild Romance. S. 126.
(5) ‘Auld Hornie’ ist ein schottischer ‘Kosename’ für den Teufel; ‘F.R.S’ = ‘Fellow of the Royal Society’ [der britischen Akademie der Wissenschaften].
(6) "Lewis's contempt for science is constantly letting him down. I wish he would learn more, if only because if he did so he would come to respect it."
(7) G. K. Chesterton: Orthodoxy. S. 45.
(8) Clive Staples Lewis: Die böse Macht. S. 197; 352; 351; 350; 362f.; 373.

Sonntag, 13. Mai 2012

"Offers You Cannot Resist"

Amicus' erster Episodenfilm Dr. Terror's House of Horrors von 1964 hat mich wie berichtet nicht gerade vom Hocker gerissen. Unternehmen wir jetzt einen Sprung ins Jahr 1973, als Subotsky & Rosenberg mit From Beyond the Grave ihren letzten im sog. 'Portmanteau' - Format produzierten Horrorstreifen auf den Markt brachten.*

Im selben Jahr kam auch The Exorcist in die Kinos. Sein ungeheurer Erfolg – der Film spielte weltweit die für damalige Verhältnisse gewaltige Summe von über 441 Mio. $ ein – läutete die Totenglocke für den 'klassischen' Horror im Stile von Amicus und Hammer, der sehr schnell als 'zu brav' und 'altbacken' galt. Rückblickend war die Wende schon fünf Jahre zuvor mit George Romeros The Night of the Living Dead gekommen, aber anders als bei Friedkins Schocker war die Wirkung von Romeros Zombieklassiker nicht unmittelbar zu spüren. Sein Weg zu Ruhm und Anerkennung verlief abseits des 'offiziellen' Filmgeschäfts – Autokinos statt Oscar-Gala – und war entsprechend langwieriger.**

So ist From Beyond the Grave aus heutiger Sicht fast so etwas wie der Schwanengesang einer sterbenden Epoche. Und auch wenn er nicht der beste Amicus - Episodenfilm ist, so zeigt er doch, welchen Qualitäten diese Low Budget - Produktionen ihren Platz in der Geschichte des Horrors verdanken.
Da wäre zunächst einmal ein ganzer Trupp wirklich guter Schauspieler und Schauspielerinnen, die zeigen, was sie können: Peter Cushing, David Warner, Ian Bannen, Diana Dors, Donald Pleasance, Angela Pleasance, Ian Carmichael, Margaret Leighton, Ian Ogilvy und Lesley-Anne Down.
Während man bei Amicus wie bei Hammer wert darauf legte, stets einige bekannte Stars dabei zu haben, die den Kassenerfolg sichern sollten, engagierte man für den Job des Regisseurs nicht selten junge und eher unerfahrene Leute, wobei Subotsky & Rosenberg im allgemeinen ein sicheres Händchen bewiesen. In diesem Fall entschieden sie sich für Kevin Connor, der zuvor ausschließlich als Cutter gearbeitet hatte, sich seiner neuen Aufgabe jedoch durchaus gewachsen zeigte.
Der Film enthält eine Reihe atmosphärisch sehr dichter Szenen und Settings, untermalt von der großartig spukigen Musik Douglas Gamelys. Schon seine Variation des Dies Irae, die als Titelmusik dient, verursacht Gänsehaut. Gamely hatte nicht nur für einige frühere Amicus - Produktionen wie Asylum und The Vault of Horror die Musik geschrieben, sondern bizarrerweise auch für Monty Pythons And Now for Something Totally Different.
Und schließlich zeichnet sich auch das Drehbuch in sehr viel höherem Maße als bei Dr. Terror durch Intelligenz und Originalität aus.
Alle vier Episoden basieren auf Kurzgeschichten von R. Chetwynd-Hayes. Um genau zu sein, sie stammen aus seinen Sammelbänden The Unbidden, Cold Terror und The Elemental. Mir persönlich war selbst der Name dieses Autors bis vor kurzem völlig unbekannt, und ich verdanke mein Wissen um ihn einmal mehr dem guten Mr. Jim Moon. In den 70ern und frühen 80ern jedenfalls muss Chetwynd-Hayes als der ‘Prince of Chill’ eine veritable Berühmtheit unter britischen Freunden des Unheimlichen gewesen sein. Bis es ihm ähnlich erging wie Amicus und Hammer: Er fiel dem sich verändernden Publikumsgeschmack zum Opfer. Jim Moon zufolge bestand eine seiner Qualitäten offenbar darin, den traditionellen ‘gotischen’ Horror in die Welt des 20. Jahrhunderts zu überführen. Die Hinterhöfe und Kellerwohnungen der modernen Großstadt treten an die Stelle der altgedienten viktorianischen Landhäuser und mittelalterlichen Burgen. Da ich selbst noch keine von Chetwynd-Hayes’ Stories gelesen habe, kann ich nicht sagen, inwieweit ich dem zustimmen würde. Was From Beyond the Grave angeht, so besteht die Stärke des Films jedenfalls u.a. tatsächlich darin, dass die Geschichten zwar ganz in der klassischen Tradition stehen, aber dennoch einen frischen Zugang zu den überkommenen Themen eröffnen, wozu der Umstand, dass sie sämtlichst in einem modern-kleinbürgerlichen Milieu angesiedelt sind, nicht unerheblich beiträgt.

Aber vielleicht ist es allmählich an der Zeit, etwas näher auf den eigentlichen Inhalt des Filmes einzugehen.
Die Rahmengeschichte dreht sich um einen Antiquätenladen in irgendeinerm abgelegenen Gässchen von London. Besitzer dieses Ladens, dessen Angebote als ‘unwiderstehlich’ angepriesen werden, ist ein pfeiferauchender Peter Cushing. Seine Kunden erhalten (wen wundert’s) mehr als sie sich vorgestellt haben. Die meisten von ihnen versuchen den wunderlichen Händler übers Ohr zu hauen oder verhalten sich anderweitig betrügerisch. Das Schicksal, welches sie ereilt, ließe sich also als ‘gerechte Strafe’ interpretieren. Ich allerdings sehe in dem fragwürdigen Verhalten der Käufer eher einen ersten Hinweis auf deren kleinbürgerliches Wesen. Sie sind entweder irre stolz auf ihre Schlauheit, die es ihnen erlaubt, ein einmaliges Schnäppchen zu machen, oder sie versuchen sich einzubilden, etwas zu sein, was sie in Wirklichkeit überhaupt nicht sind.
Wir wollen uns die Episoden nicht in ihrer chronolgischen, sondern in ihrer qualitativen Abfolge betrachten.
Eine der Geschichten in einem ‘Portmanteau’ - Film hat traditionellerweise humorig zu sein, und in unserem Falle ist dies die eindeutig schwächste: The Elemental. Kurz gesagt geht es dabei um einen etwas selbstgefälligen Geschäftsmann (Ian Carmichael), der sich zusammen mit einer silbernen Schnupftabaksdose auch einen bösartigen Geist einhandelt, den er mit Hilfe einer alten Wahrsagerin wieder los zu werden versucht. Margaret Leighton liefert eine ausgesprochen amüsante Vorstellung als – vorsichtig ausgedrückt – exzentrische Madame Orloff, doch davon abgesehen ist die Story viel zu oberflächlich und vorhersehbar, als dass sie größeres Interesse wecken könnte.
Um Klassen besser sind The Gatecrasher und The Door.
In ersterer erleben wir, wie ein junger Mann (David Warner) von einem Geist, der in einem alten Spiegel haust, gezwungen wird, ein Serienmörder zu werden. Denn nur solche Blutopfer können das Phantom aus seinem Gefängnis befreien. Die Mordszenen ebenso wie die Verzweifelung des unwilligen Mörders sind von beeindruckender Intensität. Und da die meisten Opfer junge Frauen sind, besitzt das Ganze zudem einen beunruhigenden sexuellen Unterton, der einen kurz überlegen lässt, ob sich unter der netten, kultivierten, höflichen Oberfläche dieses Mittelklasse-Singles nicht vielleicht tatsächlich ganz etwas anderes verbirgt.
Letztere punktet vor allem in atmosphärischer Hinsicht. Eine wichtige Rolle spielt dabei eine alte, mit prächtigen Schnitzereien verzierte Tür – ein wirklich großartiges Requisit, das ich mir sofort in mein Studierzimmer einbauen lassen würde, wenn ich ein’s hätte. Das junge Ehepaar (Ian Ogilvy & Lesley-Anne Down), das sie erwirbt, erwartet allerdings eine böse Überraschung. Denn die Tür öffnet sich hin und wieder zu einem gespenstischen blauen Salon, der sich irgendwo außerhalb von Raum und Zeit befindet und einen teuflischen Aristokraten aus der englischen Restaurations-zeit beherbergt. Der Salon (weniger sein Bewohner) und das geschickte Spiel mit der Farbe Blau machen den Charme dieser Episode aus.
Den Höhepunkt des Filmes bildet jedoch ganz ohne Frage An Act of Kindness. In den anderen Episoden greift das Böse aus der Vergangenheit in die Gegenwart, hier ist es fest verwurzelt im Heute. Auch entspringt es nicht irgendwelchen verhexten Artefakten, sondern zwischenmensch-lichen Beziehungen. Christopher Lowe (Ian Bannen) ist ein frustrierter, verklemmter, willens-schwacher Büroangestellter, der von seiner Ehefrau (Diana Dors) verachtet und drangsaliert, von seinem Sohn nicht ernstgenommen wird. Eines Tages begegnet er in der Nähe des Antiquitätenladens einem ehemaligen Soldaten, der sich seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Streichhölzern und Schnürsenkeln verdient. Gespielt wird dieser von dem unvergleichlichen Donald Pleascance. Lowe selbst war einmal in der Armee, aber die glorreiche Karriere, von der einstmals träumte, hat er dort nie gemacht. Das Militär scheint für ihn deshalb jenes bessere Leben zu verkörpern, das das Schicksal ihm verwehrt hat. Deshalb wohl fühlt er sich zu dem Ex-Soldaten Jim Underwood hingezogen, zumal ihn dieser als einziger respektvoll behandelt, da er in ihm einen Gentleman und ehemaligen Offizier sieht. Um Eindruck zu schinden, organisiert sich Lowe vom guten Peter Cushing auf betrügerische Weise einen Orden, den er recht ungeschickt als eine Auszeichnung präsentiert, die ihm im Weltkrieg verliehen worden sei (er behauptet, mit Montys Jungs in Nordafrika gewesen zu sein). Der ehemalige Soldat lädt ihn daraufhin zum Tee bei sich ein, und dabei lernt Lowe dessen Tochter kennen. Angela Pleasance gelingt es, mit Emily Underwood eine ebenso faszinierende wie unheimliche Person zu erschaffen. Was folgt ist phantastisch, morbid und am Ende absolut überraschend – doch dabei beruht es stets auf den Beziehungen in dieser kleinen Gruppe von Menschen.

Allein schon wegen An Act of Kindness ist From Beyond the Grave ein absolut sehenswerter Film und ein guter Einstieg in die Welt des klassischen Brit-Horrors.

* Korrekterweise müsste man hinzufügen, dass Amicus 1980 mit The Monster Club noch einmal einen Episodenfilm produzierte, der sich allerdings ganz bewusst an ein jüngeres Publikum richtete und trotz Vincent Price und John Carradine nicht zur erhofften Wiederbelebung des einstigen Erfolgsprodukts führte.
** In meinen Augen eine reichlich unfaire (wenn auch nicht unverständliche) Geschichte. The Exorcist mag ein Wendepunkt im Mainstream-Horror gewesen sein, von heute aus betrachtet halte ich ihn jedoch für einen eher unbedeutenden Film. Im Gegensatz zu The Night of the Living Dead, der wohl auf Dauer einen Platz im Pantheon des Horrors behalten wird. Allerdings muss ich einschränkend hinzufügen, dass es mir bei Filmen, die das Thema ‘Dämonenaustreibung’ behandeln, schwer fällt, objektiv zu bleiben. Es gibt einfach noch zu viele ‘echte’ Exorzisten, die das Leiden psychisch labiler oder kranker Menschen mit ihrem Hokuspokus vergrößern.